100 Karten – Wichtige Erläuterungen zur Karte über Gerichtsverfahren wegen Völkermord
In unserem Buch „100 Karten über Rechtsextremismus“ haben wir eine Übersicht über Gerichtsverfahren wegen Völkermordes erstellt. Nachdem das Buch gedruckt war, stellten wir fest, dass die Karte nicht klar genug in ihrer Aussage ist. Sie kann deswegen missverständlich gelesen werden. Dafür möchten wir uns entschuldigen. In der 2. Auflage des Buches werden wir die Karte nicht mehr verwenden.
Eine Karte in dem Buch „100 Karten über Rechtsextremismus“ zeigt, wo es bisher in der Geschichte zu Anklagen wegen Völkermordes vor Gerichten kam. Daraus geht hervor, dass es durch internationale Gerichte vier Verurteilungen wegen Völkermordes gab, vier weitere Verfahren laufen derzeit.
Wir haben für die Grafik in dem Buch, das wir gemeinsam mit Katapult herausgeben, die Angaben der Gerichte zugrunde gelegt und zeigen das auf dieser Karte. Weltweit gab es bisher bekanntermaßen weit mehr Völkermorde, etwa an den Ukrainern im Holodomor oder an den Armeniern. Vor Gericht wurde der Tatbestand des Völkermordes aber erst nach 1945 entwickelt – in der Aufarbeitung des Holocaust in den Nürnberger Prozessen. Daher stehen in der Karte nur die Verfahren wegen Völkermord, die nach 1945 eingeleitet wurden.
Uns ist klar geworden – leider erst nachdem das Buch gedruckt war –, dass die Buchseite mit der Karte missverständlich ist.
Die Karte kann den Eindruck erwecken, als ob darin Verfahren gleichgestellt werden, die nicht vergleichbar sind und keinen inneren Zusammenhang haben. Wir haben Verurteilungen und laufende Verfahren in derselben Karte verzeichnet, weil wir zeigen wollten, wie sich der Umgang von Gerichten zu Völkermord-Vorwürfen in Zahlen entwickelt hat. Dabei ist die folgende Unterscheidung wichtig zu verstehen: Verurteilungen können nicht mit Vorwürfen verglichen werden, die erstmal nur einseitig erhoben werden. Natürlich ist der Holocaust als totalitäre Vernichtungsmaschine mit keinem darauffolgenden Verbrechen vergleichbar. Auch die Völkermorde von Srebrenica und Ruanda, die als solche verurteilt wurden, stehen in keinem Vergleich zu den Verfahren, die derzeit laufen.
Mittlerweile sind einige Verfahren zum Völkermord hoch umstritten, weil der gerichtliche Vorwurf des Völkermordes auch politisch schon in der Phase der Klageerhebung als Propaganda-Vorwurf benutzt wird. So ist es etwa im Fall Israels. Südafrika hatte beim Internationalen Gerichtshof ein Verfahren gegen Israel eingeleitet. Seitdem muss das Gericht untersuchen, ob Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Dafür gibt es trotz des schrecklichen Kriegs keine klaren Anzeichen, daher sehen viele Beobachter diese Anklage Südafrikas als rein politisch motiviert. Vielen gilt zudem der Auslöser des kriegerischen Konflikts, der Terrorakt der Hamas gegen Israel und seine Zivilbevölkerung am 7.Oktober 2023 als Akt des Völkermordes. Dieser Vorwurf wurde von israelischen Familien vor dem Internationalen Strafgerichtshof vorgebracht.
Gerade weil die Karte leicht Fragen aufkommen lassen kann, die wir überhaupt nicht aufwerfen wollen, sehen wir diese Karte und ihre Beschreibung, auch im Zusammenhang mit der Überschrift in dem beigestellten Text als Fehler an. „Genozide weltweit – Wegen Völkermordes angeklagte Staaten und Einzelpersonen durch nationale und internationale Gerichte, Todeszahlen geschätzt“ ist eine Überschrift, die zwar den Inhalt der Karte beschreibt, aber nicht ausreichend klar benennt und einordnet. Wir sind uns zudem bewusst, dass Worte wie „Genozid“ höchst belastet, in Teilen in ihrer umfassenden Bedeutung ausgehöhlt und undifferenziert instrumentalisiert werden.
Uns zeigt sich, dass die vereinfachende Visualisierung hier an ihre Grenzen stößt. Es braucht mehr Kontext. Wir haben uns daher entschieden, alle weiteren Ausgaben des Buches „100 Karten über Rechtsextremismus“ ohne diese Seite zu drucken. Eine aktualisierte Auflage ist bereits in Arbeit. Für mögliche Missverständnisse möchten wir uns entschuldigen.
Sie halten daher ein Buch in ihren Händen, in dem die Karte noch drin ist, weil wir diese Karte im Print anders als in einer Online-Ausgabe nicht löschen können.
Um nachvollziehbar zu machen, wie wir zu der Eingruppierung gekommen sind, möchten wir an dieser Stelle auf die Herleitung eingehen:
Die Karte zeigt nicht alle Völkermorde, sondern nur jene Fälle, die offiziell als solche angeklagt wurden. Diese eng gefasste Definition sollte ein Kompromiss sein, um die Karte weder mit Fällen zu überfrachten, noch das Thema zu unterkomplex zu behandeln. Zweifellos hat es weltweit noch viele weitere Fälle von Völkermord gegeben. Diese fallen nicht unter die enge Definition, die sich rein auf die Anklagen bezieht. Im Folgenden gehen wir anhand einiger Fragen darauf ein, welche Überlegungen zu der Auswahl führten.
- Warum ist das Verfahren Russland gegen Ukraine nicht eingezeichnet?
Russland begründete seinen Einmarsch in die Ukraine 2022 damit, dass die Ukraine an der russischsstämmigen Bevölkerung in der Ost-Ukraine einen Völkermord begehen würde. Zwei Tage nach Kriegsbeginn klagte Kiew gegen diese Behauptung. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat die Sache geprüft und die Klage Kiews gegen Russland weitgehend zugelassen. Anders als manchmal behauptet wird, geht es in dem bevorstehenden Prozess jedoch nicht darum, ob Russland selbst mit seinem Krieg gegen die Völkermordkonvention verstoßen hat.
Die Ukraine beschuldigt Russland also nicht des Völkermordes, sondern des Missbrauchs der Völkermordkonvention. Die Ukraine fechtet somit lediglich Russlands Behauptung vor dem IGH an. Mit anderen Worten: Russlands Kriegsbegründung steht vor Gericht, jedoch kein begangener Völkermord.
- Warum ist der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich nicht verzeichnet?
Obwohl einige Länder und auch Deutschland den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 als einen solchen anerkennen, hat Armenien selbst bisher keine offizielle Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) oder dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) erhoben. Es gab zwar Prozesse gegen Personen, die die Existenz des Völkermords leugnen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Klagen gegen den Völkermord selbst.
Was es allerdings gab, ist ein außerordentliches Kriegsgericht nach dem Ersten Weltkrieg, das bis 1920 tätig war. Den Begriff „Völkermord“ gab es damals allerdings noch nicht. Dieser wurde von dem jüdischen Rechtsanwalt Raphael Lemkin erst später geprägt und bei den Nürnberger Prozessen am ersten Prozesstag in der Anklage genutzt. Deshalb haben wir etwa Deutschland mit auf die Karte genommen.
Darüber hinaus gibt es das Urteil eines Quasigerichtes, und zwar das des 1979 gegründeten Ständigen Tribunals der Völker. Dieses bestätigte 1984 einen Völkermord an den Armeniern. Das Urteil hatte auch einen besonderen symbolischen Wert für die spätere Bewertung des Falles. Bei diesem Tribunal handelt es sich jedoch eher um eine moralische Institution, die auf zivilgesellschaftlicher Initiative aktiv wird. Sie ist nicht mit offiziellen Gerichtsinstanzen wie die der Nürnberger Prozesse zu vergleichen, die wir in unserer Legende als „außerordentliches Gericht“ einstufen.
- Warum ist das Holodomor – die gezielte Hungersnot gegen die Ukrainer in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren – nicht verzeichnet?
Im Jahr 2010 verurteilte das Berufungsgericht in Kiew sieben sowjetische Beamte, darunter Josef Stalin, wegen Völkermordes in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren. Ein Urteil, das ihre Schuld beweist, das aber in erster Linie symbolischen Charakter hatte. Das Gericht beschloss, keine weiteren Strafverfahren einzuleiten, weil alle Angeklagten verstorben waren. So zog es keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich. Es stützte sich auf ukrainisches Recht, das den Holodomor offiziell als Völkermord anerkennt, was bedeutet, dass diese Einstufung auf die Ukraine beschränkt bleibt. Es handelt sich um einen Grenzfall, der unter Umständen auch hätte eingezeichnet werden können. Aus genannten Gründen haben wir uns dagegen entschieden.
- Warum ist Israel eingezeichnet?
Südafrika hat am 29. Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof eine Völkermordklage gegen Israel eingereicht. Mittlerweile haben mindestens 13 weitere Länder die Absicht erklärt, sich der Anklage vor dem IGH anzuschließen. Seitdem muss das Gericht untersuchen, ob Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Dafür gibt es trotz des schrecklichen Kriegs keine klaren Anzeichen, daher sehen viele Beobachter diese Anklage Südafrikas als rein politisch motiviert.