Nitrat-Rätsel um Petershagen
Eine einzelne Messstelle für Grundwasser in Petershagen misst eine zehnfache Überschreitung des gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerts für Nitrat. Was ist da passiert? Sind eine Biogasanlage oder die Düngepraxis der Landwirte schuld?
Dieser Artikel ist Teil unserer Serie Nitrat in NRW
Auf der Landkarte piekst Petershagen wie ein Dorn in das nördlich gelegene Niedersachsen. Geografisch gehört der Ort im Kreis Minden-Lübbecke schon zur norddeutschen Tiefebene. Der Boden ist eher sandig, die Erträge aus Gemüse- oder Getreideanbau deshalb gering. Landwirte haben sich auf Viehwirtschaft spezialisiert: Dauergrünland, Futter- und Silomais. Etwa 70 Prozent des Stadtgebiets werden landwirtschaftlich genutzt.
Hier in Petershagen gibt es ein Problem: Über fünfzehn Jahre lang verzeichnete eine Messstelle in einem Grundwasservorkommen Nitratwerte weit über dem gesetzlichen Grenzwert von 50 Milligramm pro Liter. Im Jahr 2015 waren es 300 mg/l, im Jahr 2008 sogar 487 mg/l. Nirgendwo sonst im Land wurde der Grenzwert derart extrem überschritten, wie die Auswertung von CORRECTIV.Ruhr zeigt.
Warum ausgerechnet Petershagen? Warum diese Messstelle? Vor Ort: lange Gesichter. Weder das Umweltamt, noch die Untere Wasserbehörde oder die Stadtwerke Petershagen kennen das Problem.
Auf einer Karte des Landesamts für Naturschutz lässt sich die Messstelle lokalisieren. Sie liegt im Ortsteil Ovenstädt an der niedersächsischen Grenze. Ein Blick und Jutta Niemann von der Biologischen Station Minden-Lübbecke hat den Standort einer nahen Biogasanlage ausgemacht – in 500 Metern Luftlinie zur Messstelle.
Ist das ein Hinweis auf die Ursache der hohen Nitratwerte im dortigen Grundwasser? Biogasanlagen stehen schon lange im Verdacht, das Nitratproblem im Grundwasser verstärkt zu haben. Im Kreis Minden-Lübbecke stehen rund 40 von ihnen.
Unerträglicher Gestank
Die Bezirksregierung Detmold hat 2002 die Genehmigung für die Biogasanlage erteilt. Laut energieatlas.de gehört sie zum Verteilernetzbetreiber Westfalen Weser Netz GmbH und bringt eine Leistung von 740 Kilowatt. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) hielt die Bezirksregierung 2007 nicht für notwendig. „Ein nach UVPG normales Verfahren“, schreibt die Pressestelle des Kreises Minden-Lübbecke auf Anfrage.
Dabei, so erzählt es Niemann von der Biologischen Station, hätten sich über Jahre hinweg Anwohner wegen des unerträglichen Gestanks beschwert. Selbst eine Unterschriftenaktion lief deswegen. Nach Auskunft des Kreisumweltamts habe daraufhin „der Betreiber im Jahr 2014/2015 eine mehrstufige Abluftreinigungsanlage installiert“. Der Gestank sei dann zurückgegangen. Unfälle oder Austritte von Silagesickersaft rund um die Biogasanlage hat es laut Umweltamt nicht gegeben.
Bei anderen Biogasanlagen in NRW hat der Naturschutzbund solche Unfälle allerdings festgestellt. Außerdem entweichen den Gärresten aus den Anlagen Methan und Ammoniakverbindungen. Rund um die Biogasanlagen entstehen sogenannte Abgasfahnen, die sich dann durch Regen oder Kondensation auf den Boden niederschlagen – und auf diesem Wege schließlich nach chemischen Umwandlungsprozessen Nitrat in den Boden einbringen.
Andere Ursachen?
Könnte die Biogasanlage also doch die Ursache für die hohen Nitratwerte an der Petershagener Messstelle sein? Das könnte nur eine hydrologische Untersuchung feststellen. Das Landesamt für Naturschutz geht davon aus, dass die extrem hohen Messwerte auf drei Faktoren hinweisen:
– Die Messstelle liegt inmitten von Anbauflächen. Die hohen Nitratwerte könnten „typische Auswirkungen des Düngemitteleinsatzes auf den Äckern“ sein.
– Auch das nahe Siedlungsgebiet könnte zu den hohen Werten beitragen.
– Die Messstelle misst Grundwasser nahe der Erdoberfläche. Weil der Boden sandig und gut durchlässig ist, versickert das Nitrat relativ schnell ins Grundwasser. Hinzu kommt, dass an dieser Stelle wenig Grundwasser neu gebildet wird und so der Nitratgehalt hoch bleibt.
Die Schlussfolgerung des Landesamts: „Es handelt sich daher um ein besonders sensibles Grundwasservorkommen, wo besondere Sorgfalt bei den Grundwasserschutzmaßnahmen geboten ist.“
Solche besonderen Grundwasserschutzmaßnahmen müssten für weitere 48 Messstellen im Kreis Minden-Lübbecke gelten. Von den rund 200 Grundwassermessstellen liegen 21 deutlich über dem Grenzwert. Zehn knapp darunter. Weitere 17 zeigen erhöhte Werte.
Das Herzstück des deutschen Aktionsprogramms gegen zu hohe Nitratwerte im Grundwasser ist die neue Düngeverordnung. Und die hat mit Biogasanlagen mehr zu tun, als man denkt.
Allein im Kreis Minden-Lübbecke sind im Jahr 2013 mehr als 1.415 Tonnen Stickstoff in Biogasanlagen angefallen. Das sind etwas mehr als ein Fünftel der gesamten Stickstoffmenge, die durch Gülle anfällt. Diese Menge landet zusätzlich zur Gülle als Dünger auf den Feldern. Die Flächen werden also „on the top“ gedüngt.
Vielfalt in der Weseraue bedroht
Was mit dem Dünger und den Gärresten insgesamt zu viel an Nitrat auf den Feldern ausgebracht wird, da die Pflanzen es nicht aufnehmen können, versickert im Boden und gelangt ins Grundwasser. Oder landet über Erosion und Dränagen direkt in Oberflächengewässern wie der Weser, die sich in zwei weit ausholenden Schleifen durch die Petershagener Landschaft schlängelt.
Die Weser hat ohnehin einen relativ hohen Nitrat- und Nährstoffgehalt – das ist ein Problem für das Ökosystem.
An einer der beiden Weser-Schleifen liegt das Naturschutzgebiet Weseraue: ein 3000 Hektar großes Vogelschutzgebiet. Auf einer Karte des Landesamtes für Naturschutz wird das Gebiet als gefährdet beschrieben. Die Weser überschwemmt die Aue immer wieder. Das führt zu einer Überdüngung des Ökosystems.
Vor allem Feuchtmagerwiesen und die darin wachsenden Gräser und Kräuter leiden unter dem Nährstoffüberschuss, den die Weser über sie ergießt. Langfristig gehen sie ein und werden von anderen Arten wie Brennnesseln oder Brombeeren verdrängt. Mit den Pflanzen verschwinden auch Tiere und Insekten, die auf das Nahrungsangebot und den Lebensraum spezialisiert sind – wie die Uferschwalbe und die Löffelente. Die biologische Vielfalt ist bedroht.
Aber nicht nur das Flusseinzugsgebiet ist betroffen. Letztlich gelangt das Nitrat mit all den anderen Nährstoffen in der Weser in die Nordsee und sorgt dort für ein vermehrtes Algenwachstum. Langfristig führt das zu einem Abbau des Sauerstoffgehalts im Meer. Sauerstofffreie Zonen im Meer können zu einem Punkt führen, an dem das Ökosystem kippt.
Düngepraxis bleibt ein Problem
Deswegen arbeiten die Biologische Station, das Umweltamt des Kreises und Naturschutzorganisationen daran, die Aue zu vermagern, das heißt: ihr die Nährstoffe wieder zu entziehen. Teilweise, sagt Niemann von der Biologischen Station, hätten sie damit schon Erfolg gehabt. Mancherorts hätten sich verdrängte Arten wieder angesiedelt. Die Düngepraxis der Landwirte bleibt aber ein Problem.
Das wissen auch die Landwirte selbst.
„Mit der neuen Düngeverordnung soll verpflichtend eine Düngeplanung eingeführt werden“, sagt Rainer Meyer. Der 55-jährige Landwirt ist Vorsitzender des Ortsverbandes im Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverband, an einer Biogasanlage beteiligt und Vorsitzender der Wasserkooperation im Kreis, wie es sie auch in Borken und Viersen gibt.
Der Verbund von Landwirten und Wasserversorgern hat seit 24 Jahren zum Ziel, die Nitratwerte in den Wasserschutzgebieten zu reduzieren. In den 1980er Jahren waren die Nitratwerte so hoch wie nie. „Bei uns liegen die Grundwasserneubildungen zwischen 30 und 50 Jahren“, sagt Meyer. „Vor 30 Jahren wurde vieles anders gesehen, auch in der Landwirtschaft.“ Hohe Nitratwerte, die heute gemessen werden, stammen nicht selten aus dieser Zeit.
„Die Kooperation hat eine Leuchtturmfunktion für den Rest der Landwirtschaft – es orientieren sich alle daran. Das, was in den Wasserkooperationen gemacht wird, setzt den Standard für die kommenden Jahre“, sagt Meyer.
Aber reichen die Maßnahmen aus, um langfristig die Nitratwerte zu senken? Die Landwirte stehen unter Druck. „Ich kann heute nur noch Gemüse verkaufen, wenn es mit hohen Restnitratwerten angebaut wurde. Sonst will der Verbraucher das nicht mehr haben, weil es dann nicht so toll aussieht“, sagt Meyer. Die Preise für landwirtschaftliche Produkte sind niedrig – und die Ansprüche der Verbraucher hoch.