Colonia Dignidad: Aufklärung der Folterverbrechen rückt näher
Über ein halbes Jahrhundert nach der Einrichtung des Folter- und Todeslagers Colonia Dignidad durch eine deutsche Sekte in Chile reisen Bundesbeamte nach Südamerika, um Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit zu erhalten. Ein Oberstaatsanwalt aus NRW ist dabei. Eines der damaligen Führungsmitglieder lebt heute in Krefeld und bezieht staatliche Unterstützung.
Im Süden Chiles am Fuße der Anden hat eine ultra-orthodoxe christliche Sekte über vier Jahrzehnte ein berüchtigtes Folter- und Todeslager betrieben. Die Opfer waren deutsche Jugendliche und chilenische Gegner des Pinochet-Regimes. Jetzt, 57 Jahre nach der Errichtung der Colonia Dignidad, gibt es eine Chance, vor NRW-Gerichten zu einer juristischen Aufarbeitung der schweren Verbrechen zu kommen.
Aufarbeitung nach einem halben Jahrhundert
Colonia Dignidad ist ein spanischer Begriff. Ins Deutsche übersetzt heißt er: Kolonie der Würde. Opfern jagt die Nennung tiefe Ängste ein. Mit dem Ort am Fuße der Anden, 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago, ist eines der brutalsten und in vielen Details ungeklärten Massen-Verbrechen in der Geschichte der alten Bundesrepublik verbunden. Hierhin wurden hunderte Menschen entführt. Sie wurden gequält und getötet. Vier Jahrzehnte lang. Das alles ist in Deutschland ungeahndet geblieben.
In diesem Frühjahr – über ein halbes Jahrhundert später – gibt es erstmals Hoffnung auf eine umfassendere juristische Verfolgung. Ende April reisen deutsche Beamte, Diplomaten und Ermittler nach mehreren gescheiterten Anläufen nach Südamerika. Das hat das Bundesjustizministerium gegenüber CORRECTIV bestätigt. Die Reisegruppe soll Informationen sammeln, die eine Bestrafung von Tätern auf deutschem Boden möglich machen könnten.
Folter und Tod
Die Vorwürfe sind schwer. Sie reichen weit in die Vergangenheit. Hunderte Kinder und Jugendliche, zum Teil ohne Zustimmung der Eltern aus Deutschland verschleppt, sind zwischen 1961 und Anfang der 2000er-Jahre in diesem abgelegenen totalitär-religiösen Sekten-Lager eingesperrt gewesen. Evangelikale Sektenführer um den Bonner Paul Schäfer wollten ihnen Gottesfürchtigkeit und Anstand beibringen. Tatsächlich wurden die Schützlinge psychisch abhängig gemacht. Sie wurden laut Zeugenaussagen geschlagen, nachts mit elektrischen Viehtreibern an den Geschlechtsteilen gefoltert, fast täglich vergewaltigt und zur Sklavenarbeit gezwungen.
Mehr noch: Geheimdienst-Schergen des faschistischen chilenischen Pinochet-Regimes (1973 bis 1990) folterten und töteten in den Kellern der Colonia politische Gegner mit Wissen und durch Zuarbeit des Sektenchefs Schäfer. Innerhalb der Drahtumzäunung des Lagers fanden chilenische Polizisten nach 2005 nicht nur ein großes Waffendepot mit Maschinengewehren und Raketenwerfern. Sie hoben ein leeres Massengrab aus, in dem einhundert Mordopfer gelegen haben müssen, bevor ihre Leichen verbrannt wurden. Die Polizei entdeckte auch Hinweise, wonach mit biologischen und chemischen Waffen experimentiert wurde.
Die Spur führt nach Krefeld
Schäfer, der 1921 in Bonn geboren wurde, starb nach fünfjähriger Haft hochbetagt in einem chilenischen Gefängnis. Das war 2010. Aber weitere Deutsche kommen als Täter und Helfer in Frage. Ihre Taten, verübt im Namen der Bibel, sind bis heute straflos geblieben. Es fehlte in der alten Bonner Republik jeder Ehrgeiz, den Vorwürfen nachzugehen, Ermittlungen rechtzeitig vor Ablauf von Verjährungen einzuleiten oder sie zum Abschluss zu bringen. Deutsche Stellen, darunter Diplomaten der deutschen Botschaft in Santiago de Chile, sabotierten Bemühungen, die Verbrechen aufzuklären.
Das ändert sich gerade grundlegend. Dass jetzt, 57 Jahre nach der Gründung der Folter-Sekte, die Strafverfolgung erstmals ernsthafte Fortschritte machen könnte, liegt auch am Umdenken im Deutschen Bundestag. Er hat die Kehrtwende 2017 mit der Drucksache 18/12943 eingeleitet. Im Juni entschied das Berliner Parlament mit den Stimmen aller Fraktionen nicht nur, Mitverantwortung für die Verdrängung zu übernehmen. Die „Verbrechen der Colonia Dignidad“ sollen auch „aufgearbeitet“ werden. Die Bundesregierung versichert zudem, einen wichtigen Nebenaspekt untersuchen zu wollen: Ob einer der mutmaßlichen Täter, der mittlerweile in Krefeld lebt, zu Unrecht Sozialleistungen bezieht, da er in Chile größere Vermögen versteckt haben könnte.
Axel Stahl ist Oberstaatsanwalt in Krefeld. Akten des Falles sind über seinen Schreibtisch gegangen. Läuft alles nach Plan, wird Stahl Ende April eine fünf- bis sechstägige Dienstreise nach Südamerika antreten. Zur Reisegruppe gehören weiter Beamte des Bundesjustizministeriums und Diplomaten des Auswärtigen Amtes.
Sie wollen mehr über die Vorgänge von damals erfahren und den Verbleib von Tätern und Opfern heute, Aussagen vor Ort sammeln und Informationen einholen über das wirtschaftliche Vermögen, das die Colonia-Täter in all den Jahren angehäuft haben müssen. Eine deutsch-chilenische Regierungsarbeitsgruppe hat Vorarbeiten erledigt. Er sei „für jede Gelegenheit dankbar“, an Informationen zu kommen, sagte Stahl CORRECTIV zu den Reiseplänen. Seit fünf Jahren warte er auf Antworten der chilenischen Behörden im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens. Bisher vergebens.
Tötung verjährt nicht
Das besondere Interesse des Oberstaatsanwalts gilt einem ehemaligen hohen Funktionär der Sekte. Der Fahnder will mehr über die mögliche Tatbeteiligung von Hartmut Hopp wissen, 73, Arzt, wohnhaft als freier Mann in Krefeld und hier Bezieher von Sozialleistungen. Stahls Akten umfassen drei Komplexe:
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Hopp soll Beihilfe zum sexuellen Missbrauch begangen haben. 2011 hat ihn ein chilenisches Gericht deshalb zu fünf Jahren und einem Tag Haft verurteilt. Kurz nach dem Urteil konnte er sich nach Deutschland absetzen.
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Hopp steht im Verdacht, als Arzt Sektenmitgliedern Psychopharmaka ohne medizinische Notwendigkeit verabreicht zu haben.
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Hopp könnte am Verschwinden und der Tötung von drei jungen chilenischen Gewerkschaftlern im Jahr 1976 beteiligt gewesen sein.
Zwei der Komplexe könnten dem Colonia Dignidad-Funktionär besonders gefährlich werden.
Zur Frage, ob der Mediziner die in Chile verhängte Strafe wegen sexuellen Missbrauchs in Deutschland absitzen muss, steht aktuell das Urteil des Oberlandesgerichts in Düsseldorf aus. Das Landgericht Krefeld hat in der Vorinstanz 2017 bejaht, dass Hopp die Strafe hier abbüßen muss. Bis jetzt ist nur klar: Als deutscher Staatsbürger kann er nicht an Chile ausgeliefert werden.
Brisanter für den ehemaligen Colonia-Mann ist der Vorwurf der Tötung. Tötung ist – anders als andere Straftaten – keiner Verjährung unterworfen. Hopp könnte also in Deutschland in einem weiteren Prozess auch wegen Mordes verurteilt werden, sollten sich Hinweise auf ein Tötungsdelikt bestätigen, dem die drei chilenischen Gewerkschaftler zum Opfer gefallen sind.
Der Chefarzt der Foltersekte
Hopp war der Chefarzt des Krankenhauses der Colonia. Er war die gesamte Zeit der Kolonie dabei. Nach von ihm bestrittenen Zeugenaussagen war er auch der Vertreter des Sektenführers Paul Schäfer. Nach seiner Flucht vor dem Haftantritt in Chile 2011 siedelte er sich in Krefeld an, wo die Sekte „Freie Volksmission“ mit ähnlicher theologischer Ausrichtung wie die Colonia wirkt. Jahre lang schwieg Hopp zu allem. Erst als der Druck durch die Verhandlungen des Landgerichts in Krefeld wegen der verhängten Strafe aufgrund des sexuellen Missbrauchs größer wurde, äußerte er sich in einem Interview mit der Westdeutschen Zeitung im Januar 2017 genauer zu seiner Verantwortung.
Wer in dem Interview-Text ein Tateingeständnis sucht, sucht vergeblich. „Rückblickend muss ich sagen, dass ich mich mitschuldig gemacht habe, nicht jedoch in tatsächlicher und somit juristischer Hinsicht“, sagte Hopp, „sondern weil ich nicht die Vertrauensperson für die Opfer von Schäfer war, die ich hätte sein wollen und sollen, wie die Einzelnen mir auch jetzt offenbart haben. Niemand hat gewagt, sich mir anzuvertrauen. Das kann ich nicht abschütteln“. Zu konkreten Vorwürfen äußerte sich der Arzt so: „Weder habe ich ihn (Schäfer) irgendwie in dieser Hinsicht unterstützt noch habe ich von dessen perversen Praktiken Kenntnis gehabt“.
Der 2010 verstorbene Schäfer kann nicht mehr danach befragt werden, ob Hopp die Wahrheit sagt. Aber ist es überhaupt möglich, dass die zeitweise bis zu 300 Insassen der Colonia Dignidad und vor allem Mitglieder der Führungsclique nichts von den täglichen Verbrechen mitbekommen haben, die Paul Schäfer initiierte, über vier Jahrzehnte dirigierte und auch ausführen ließ? Deutet nicht vielmehr alles auf eine gut geschmierte Verbrechens-Maschinerie hin mit vielen, die davon wussten und die mitgemacht haben?
Mittelalterlicher Horror
Die Rückblende in die junge Bundesrepublik des Jahres 1960 hilft, einiges über das gesellschaftliche Klima jener Tage zu erfahren, in denen die Colonia entstand. Das Wirtschaftswunder unter Kanzler Konrad Adenauer nimmt damals zwar schnell Fahrt auf. Im Alltag aber ist das Land tief konservativ gefärbt. In den Wohnzimmern wird die Nazi-Zeit mit Schweigen übergangen. KZ-Verbrecher laufen frei herum. Frauen müssen nach dem Gesetz ihre Ehemänner fragen, wenn sie arbeiten wollen. Homosexuellen droht der Staatsanwalt. In Schulen ist die Prügelstrafe erlaubt und mit dem Zeigestock als Waffe an der Tagesordnung.
In dieser Atmosphäre unterhält der in Troisdorf aufgewachsene Schäfer ein Erziehungsheim im kleinen Flecken Heide östlich von Bonn, wo er pädophile und sadistische Neigungen auslebt. Zeugenaussagen von damals über gängige Strafaktionen klingen in heutigen Ohren wie mittelalterlicher Horror: Schäfer lässt die Insassen seines Erziehungsheims, alles Kinder, eine Gasse bilden, durch die ein gewaltsam entkleideter Jugendlicher laufen muss und mit Ruten gepeitscht wird. Sein Delikt: Er hatte Süßes genascht. Das Vorbild der Strafe stammt aus der Zeit der preußischen Armee. Es ist 200 Jahre alt.
Doch als Schäfer um 1961 wegen sexuellen Missbrauchs ins Visier der Justiz gerät, befällt ihn Panik. Er stellt den Antrag auf die Verlegung des Heimes nach Südamerika. Die Genehmigung, die Kinder und Jugendlichen mitzunehmen, wird durch zuständige Behörden erteilt. Erst 1966 kann ein Opfer unter dramatischen Umständen aus der Umzäunung in Chile fliehen und berichtet von den Verbrechen in der Hauptstadt Santiago. Konsequenzen? Hat das nicht.
Der Freundeskreis Colonia Dignidad
Es gibt in den darauf folgenden Jahren sogar politische Unterstützung aus der Heimat. Die streng konservativ ausgerichteten „Kolonisten“ des Päderasten Schäfer haben Rückendeckung aus CSU-Kreisen und auch aus Medien genossen. Einem Freundeskreis, der in Solidarität mit der Colonia Dignidad gegründet worden war, stand der frühere ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal nahe. Im chilenischen Lager hing ein handsigniertes Bild vom damaligen CSU-Chef Franz-Josef Strauß, der die Colonia besucht hatte. Nur die CDU-Minister Norbert Blüm und Heiner Geißler („Es muss Anklage erhoben werden“) gingen auf Distanz. Blüm sagte dem chilenischen Staatschef Augusto Pinochet bei einem Besuch in Santiago ins Gesicht: “Herr Präsident, ich habe keinen Zweifel, dass in ihrem Land gefoltert wird“. Die CSU tobte. Blüms Vorwurf sei „skandalös“.
Prügel. Folter. Vergewaltigung. Auch Mord. Was in dem Erziehungsheim in Heide bei Bonn mit autoritären Ansätzen begann, wurde nach 1962 in Südchile brutaler krimineller Alltag. Der Bundestag spricht in seiner Erklärung vom Juni letzten Jahres vom „Martyrium“ der eingeschlossenen Opfer, von „Freiheitsberaubung, Verschwindenlassen, Zwangsarbeit und Sklaverei, Kindesmissbrauch, Körperverletzung, Folter und Verabreichung von Psychopharmaka ohne medizinische Indikation“. Die Sekte habe „die abgeschiedene Lage“ für die Taten genutzt und sei eine Kooperation mit der chilenischen Militärdiktatur eingegangen. „Dutzende“ Regimegegner seien hier ermordet worden. Deutsche Diplomaten hätten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren „weggeschaut“. Nie hat das deutsche Parlament vorwurfsvoller und offener über Straftaten gesprochen, in die die eigene Staatsverwaltung und die eigene Diplomatie zumindest durch Unterlassen verwickelt waren.
Heute ein Touristen-Café
Das Gelände, die Immobilie existieren heute noch immer. Was bis nach der Jahrtausendwende Colonia Dignidad hieß, heißt heute die „Villa Baviera“, zu deutsch: die „bayerisches Dorf“. Zum Ärger von Opferorganisationen wird dort Touristen aus aller Welt vor dem großartigen Gebirgspanorama der Anden Kaffee und Kuchen gereicht. Bedient werden sie von Kräften, die teils schon zu Schäfers Zeiten hier gearbeitet haben. Aber es ist eine Idylle, die viel verbirgt. Der Krefelder Oberstaatsanwalt Axel Stahl, der jetzt nach Chile fliegt, hat deshalb eher verhaltene Erwartungen. Was bekannt sei, sagt er, das sei „nur die Spitze des Eisbergs“.
Korrektur, 05.04.2018: Der frühere ZDF-Moderator, der dem Freundeskreis der Colonia Dignidad nahestand, hieß Gerhard Löwenthal.