Weniger Verpackung, mehr Wert
Seit drei Jahren eröffnen im Ruhrgebiet immer mehr Unverpackt-Läden. Sie stehen nicht nur für Müllreduzierung und bewussteren Konsum, sie zeigen ein gesellschaftliches Umdenken. Unsere Praktikantin hat sich aufgemacht, die Bewegung in der Region genauer zu beleuchten und schnell bemerkt, dass verpackungsfreies Einkaufen weit mehr bringt als nur einen leeren Müllsack.
Von Chiara Jordan
Nicht nur Ramschläden und 1-Euro-Shops prägen die Innenstädte des Ruhrgebiets, auch immer mehr Unverpackt-Läden machen auf. Die Läden versuchen Einwegabfälle zu reduzieren und haben dadurch eine bessere Klimabilanz als herkömmliche Supermärkte. Vor allem aber stehen sie für ein Umdenken in unserem Konsumverhalten und für den wachsenden Wunsch nach Alternativen zu großen Supermarktketten. Von den Geschäften, die wir uns im Ruhrgebiet genauer angesehen haben, wurden zwei Drittel per Crowdfunding aus der lokalen Bevölkerung unterstützt – im Schnitt mit mehr als 20.000 Euro.
In NRW gibt es mittlerweile rund dreißig verpackungsfreie Supermärkte, allein zehn davon im Ruhrgebiet. In den letzten drei Jahren eröffneten hier unter anderem allerlei verpackungsfrei in Bottrop, Sandy’s Unverpackt-Laden in Recklinghausen und Duisburg Unverpackt.
Durchschnittlich verursacht jeder Mensch auf der Erde knapp 100 Kilogramm CO2-Äquivalente im Jahr durch Verpackungen – dabei sind die Ressourcen, die bei der Produktion der Verpackungen verbraucht werden, nicht mitgerechnet. Das Konzept der verpackungsfreien Supermärkte hält mit einem einfachen Prinzip dagegen: Anstatt Lebensmittel verpackt zu kaufen, bringen die Kunden ihre eigenen Behältnisse mit, die vor dem Kauf abgewogen werden. Die Lebensmittel werden in Spendern, sogenannten „Bulk Bins“ angeboten und direkt in das mitgebrachte Glas oder die Box abgefüllt. An der Kasse wird erneut gewogen, das Gewicht des Behältnisses wieder abgezogen und nur für das Produkt an sich bezahlt.
Seit 2014 in Kiel der erste Unverpackt-Laden Deutschlands eröffnet hat, setzt sich die Idee des nachhaltigen Konsums immer weiter durch.
Ernährungsräte im Ruhrgebiet
Im Juli 2018 schlossen sich Mitglieder verschiedener Initiativen (Transition Town, Slow Food, Foodsharing) und Fachleute aus der Ökobranche der Initiative für Nachhaltigkeit im Ruhrgebiet an und gründeten den Ernährungsrat Essen. „Wir produzieren und konsumieren Lebensmittel im Übermaß, werfen zu viel weg und nehmen die weltweite Ausbeutung von Mensch und Natur für unseren verschwenderischen Konsumstil wie selbstverständlich in Kauf“, führt der Ernährungsrat die Problematik auf seiner Website aus. Immer mehr Essener*innen würden dies ändern wollen, so der Rat. Und hinsichtlich des Titels „Grüne Hauptstadt Europas – Essen 2017“ habe die Stadt Essen die Verpflichtung, „als Vorbild für Nachhaltigkeit und Umweltschutz für das Ruhrgebiet voranzugehen“.
Ende 2019 gründete sich in Bochum der zweite Ernährungsrat im Ruhrgebiet. Auch dieser engagiert sich für ein sozial gerechteres, ökologisches und regionales Ernährungssystem. Nachhaltiger und umweltfreundlicher Konsum bekommt immer mehr Aufmerksamkeit und Zuspruch.
Kampfansage an das Müllproblem
Deutschland hat ein Müllproblem. Durchschnittlich 462 Kilogramm Abfall landen hier pro Kopf jährlich im Mülleimer, in Nordrhein-Westfalen sind es sogar noch einmal sieben Kilo mehr. Die Müllmenge hänge unter anderem von der Anzahl der Singlehaushalte ab, die mehr Abfall produzieren würden als Familien, sagt Henning Wilts, Leiter der Abteilung Kreislaufwirtschaft beim Wuppertaler Institut. Ebenso spiele die Anzahl der Innenstädte in einem Bundesland eine Rolle. Denn hier würden „mehr Einwegverpackungen wie etwa To-Go-Kaffeebecher verbraucht“.
Obwohl Deutschland oft als „Recyclingweltmeister“ bezeichnet wird, sind es nicht einmal ein Fünftel der Kunststoffe, die tatsächlich in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden können. Der Müll, der nicht zur Wiederverwendung taugt, wird hier verbrannt oder ins Ausland verkauft. Dort sorgen häufig starke Winde dafür, dass der Plastikmüll früher oder später im Meer landet – und den Meeresbewohnern zum Verhängnis wird.
„Wie viele Tiere im Meer am Plastik innerlich ersticken, ist schon ziemlich krank“, sagt Sandy Durchholz, Geschäftsführerin von Sandy’s Unverpackt-Laden in Recklinghausen. Die Erfahrungen aus ihrer beruflichen Vergangenheit im Onlinehandel haben ihr gezeigt, „dass man da jetzt endlich was machen“ müsse, fügt die 22-Jährige hinzu. Zusammen mit den Aktionen der Fridays-for-Future Bewegung seien diese Erfahrungen das ausschlaggebende Element gewesen, den Unverpackt-Laden in Recklinghausen zu eröffnen.
Hilfe auf dem Weg in ein verpackungsärmeres Leben
Sebastian Metzgen aus Bottrop habe zunächst privat angefangen, den eigenen Plastikmüll im Alltag zu reduzieren. Die Grenzen des unverpackten Einkaufens habe er schnell gemerkt. „Gerade bei so Sachen wie Müsli“ gäbe es keine unverpackten Alternativen. Mit dem Unverpackt-Laden in Bottrop sollte auch seinen Mitmenschen der Weg in ein verpackungsärmeres Leben erleichtert werden.
Die verpackungsfreien Supermärkte würden einem auch zeigen, dass man „nach Bedarf einkaufen“ könne und „nicht irgendeine vorgegebene Menge nehmen“ müsse, sagt Metzgen. So würden auch keine Lebensmittel mehr weggeworfen und verschwendet. Metzgen glaubt, dass die Leute sich im Unverpackt-Laden anders mit den Produkten auseinandersetzen würden. Vor allem aber öffne sich das Bewusstsein für das Prinzip „Qualität statt Quantität“, sagt Lucas Langwald von Duisburg Unverpackt. Nach jahrelanger Umstellung im Privaten war auch er an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen. Mit Duisburg Unverpackt eröffnete er Mitte 2019 den ersten Unverpackt-Laden in seiner Heimatstadt.
Für Supermärkte gelten grundsätzlich strikte Hygienevorschriften. Die Verbraucherzentrale NRW sagt, das Verkaufspersonal müsse „penibel darauf achten, dass Messer, Zangen oder Löffel nicht mit den mitgebrachten Verpackungen der Kunden in Berührung kommen. Werden diese Grundsätze berücksichtigt, dürfen unverpackte Waren auch in einem normalen Supermarkt über die Theke gereicht werden. Kunden verstauen diese dann selbst in eine Box oder einen Beutel.“
Die Rückkehr der Tante-Emma-Lädchen
Das Konzept der Unverpackt-Läden steht im Kontrast zum gewohnten Wocheneinkauf im Supermarkt. „Wir sind nicht nur einfach schlicht ein Laden, wo die Leute hingehen, ihren Einkauf machen und dann wieder weg sind, wir unterhalten uns tatsächlich auch immer sehr viel mit unseren Kunden“, erzählt Metzgen. Auch für Lucas Langwald ist der Austausch mit den Menschen ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes: „Hier kennt man die Leute inzwischen irgendwie. So ein bisschen Tante-Emma-mäßig“, meint er.
„Die Kunden möchten auch Erfahrungswerte von Leuten bekommen, die sich schon länger mit dem Thema beschäftigen. Auch, um nicht dieselben Fehler zu machen“, erklärt Metzgen. „Natürlich möchte man denjenigen, die hier einkaufen, mitgeben, was es ist und was es bewirkt“, meint auch Durchholz. Es sei wichtig, die Menschen für ihren Konsum zu sensibilisieren. Das sei nicht immer einfach. Denn: Wer im Unverpackt-Laden einkauft und wer daran vorbeigeht, ist nun einmal nicht zu beeinflussen. Ein bestimmter „Typ Mensch“, der die Kundschaft dominiert, lässt sich nicht finden. Häufig seien es vor allem „Frauen, Ende 30, Anfang 40“, sagt Langwald „obwohl das auch schwer zu sagen ist“. „Es sind bestimmt 80 Prozent Frauen“, sagt auch Metzgen. „Die meisten sind so Mitte zwanzig bis Anfang 40. Alles, was darunter ist, wird sehr dünn und je weiter es nach oben geht, desto dünner wird es auch wiederum.“
In Recklinghausen ist das anders. Hier gäbe es Kundschaft „von jung bis alt“, sagt Sandy Durchholz. „Die Jungen, die ihre gemischte Tüte hier einkaufen, dann die Teenager, die ihre Gesichtsseife kaufen. Dann kommen viele, die ihre erste eigene Wohnung haben, sich ausstatten möchten und endlich bemerkt haben, dass es Zeit ist, etwas zu ändern. Und dann noch die Großeltern, die sagen: ,Ich brauch nur 100 Gramm Nudeln, nicht diese 500g Nudeln.‘ Da ist alles dabei.“ Wer also schon erreicht wird und wer noch etwas außen vor bleibt, scheint auch stadtabhängig zu sein. Das Sortiment der Unverpackt-Läden ist in seinen Grundzügen das gleiche – Hülsenfrüchte, Nudeln, Reis, Süßigkeiten, Hygieneprodukte. In Bottrop gibt es zusätzlich noch umweltfreundlich verpacktes Tierfutter. Aber sonst unterscheiden sich die Sortimente kaum voneinander.
Neben dem Einkauf und dem Austausch mit Anderen geht es auch um die Wertschätzung der Lebensmittel, die hier angeboten werden. Sich darüber bewusst zu sein, woher die Dinge kommen, die konsumiert werden und welche Produkte gut für einen selbst sind.
Regionale Produkte stärken
„Wir versuchen möglichst viele Produkte regional zu beziehen“, sagt Sebastian Metzgen. „Es ist aber so, dass die Leute am liebsten das ganze Jahr alle Produkte haben möchten. Und es ist schon so, dass, wenn die Leute jetzt gerade Gurken haben wollen und die hier nicht anfallen, natürlich auch die Gurken bei uns aus Italien oder Spanien kommen.“ Man müsse eben „auch an sich und den Laden denken“, sagt Sandy Durchholz. Wenn ein Produkt nicht gut laufe, müsse es aus dem Sortiment genommen werden.
Umgekehrt würden Produkte, die sich gut verkaufen ließen, aber nicht in der gewünschten Qualität aus Deutschland zu beziehen seien, trotzdem im Sortiment bleiben. „Chiasamen gibt’s zum Beispiel nicht in Bioqualität hier in Deutschland, die kriegt man leider nur in anderen Ländern“, erklärt Durchholz. Trotzdem wolle sie ihren Kunden so gut wie es ginge alles bieten. Der Aspekt der Regionalität wird also hier zugunsten der Kundenwünsche hinten angestellt.
Auch wenn einzelne Produkte noch nicht aus der Region stammen, haben Unverpackt-Läden eine bessere Klimabilanz als herkömmliche Supermärkte. Christina Scharpenberg, Doktorandin an der Georg-August-Universität Göttingen, verglich im Rahmen ihrer Masterarbeit die Ökobilanz eines Unverpackt-Ladens in Berlin mit der eines herkömmlichen Supermarktes. Demnach sind die besagten Chiasamen aus dem Unverpackt-Laden 40 Prozent umweltfreundlicher als ein vergleichbares Produkt in einer Einwegverpackung.
Unverpackt hat seinen Preis
Das Sortiment in Unverpackt-Läden wird von den Geschäftsführer*innen zusammengestellt. Bei der Bestellung der Produkte kann also auch auf Herkunftsland und Reiseweg der Lebensmittel geachtet werden. Produkte aus dem Nachbarland werden bevorzugt, auch wenn diese häufig teurer sind als die von weiter weg.
„Wir haben gemerkt, dass wir uns nicht davor schützen können, dass Lebensmittel per LKW bezüglich Spedition hier ankommen“, sagt Lucas Langwald. Lebensmittel, die von weiter weg kommen, werden häufig mit dem Schiff angeliefert, um den noch höheren Ausstoß von Schadstoffen durch die Luftfahrt zu verhindern. Trotzdem werden hierbei Emissionen freigesetzt. „Soweit hat sich das Konzept einfach noch nicht etabliert, dass es da schon nachhaltigere oder überhaupt nachhaltige Alternativen gibt“, sagt Langwald.
Mit regionalen Zulieferern zusammenzuarbeiten sei deshalb ein großes Thema. Durch den Konsum regionaler Produkte kann zudem eine große Menge an Energie eingespart werden. In den Wintermonaten werden in Deutschland zum Beispiel Äpfel per Schiff aus Neuseeland importiert. Ein Apfel aus Deutschland verbraucht trotz fünfmonatiger Kühlung nur zwei Drittel soviel Energie wie ein Apfel, der 28 Tage mit dem Schiff unterwegs ist.
Fast 52.000 Tonnen Lebensmittel werden im Jahr nach Deutschland eingeflogen. Zusammen mit der Schifffahrt ist der Flugverkehr die klimaschädlichste Transportmöglichkeit. Das Flugzeug ist und bleibt auf Platz eins der Klimakiller. Ein Kilogramm Lebensmittel, das per Luftfracht transportiert wird, verursacht 170 Mal so viele Emissionen wie eines, das mit dem Schiff angeliefert wird.
Die Herkunft und der damit verbundene Reiseweg der Lebensmittel spielt also eine entscheidende Rolle für die Klimabilanz der Unverpackt-Läden. Hier wird in der Regel mehr auf die Herkunft der Lebensmittel geachtet als auf den Preis. Der liegt in Unverpackt-Läden etwa auf dem Niveau eines Biomarktes. Doch pauschal lässt sich das nicht für jedes Produkt sagen: Ein Kilo Rote Linsen zum Beispiel ist laut Metzgen im Supermarkt mit 5,98 Euro im Vergleich zu 5,60 in seinem Laden teurer. Für ein Kilo Weizenmehl zahlt man im Unverpackt-Laden zwei Euro, im Supermarkt 99 Cent. Die Preise unterscheiden sich also bei den einzelnen Produkten – das eine kostet etwas mehr, das andere etwas weniger.
Zurück zum Wochenmarkt-Prinzip
Plastikmüll einsparen, Lebensmittel konsumieren, die vor allem regional angeliefert werden können und damit das Klima positiv beeinflussen – in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Metzgen ist überzeugt, dass Unverpackt-Läden eine große Rolle für das Konsumbewusstsein innerhalb der Gesellschaft spielen. „Unverpackt-Läden führen uns eigentlich wieder dahin, wo wir herkamen“, sagt er.