Ein Kampf mit wirkungslosen Waffen: Wie viel Zeit hat Peter S. den Krebspatienten genommen?
Welche Folgen hat es, wenn man nur verdünnte Krebsmedikamente bekommt? Tausende Patienten wurden von Peter S. betrogen. Ihre Geschichten sind tragisch. So auch die Geschichte von Willi Hinte.
Seiner Frau hat er erstmal nichts gesagt. Denn es ist der Tag ihrer goldenen Hochzeit, als Willi Hinte merkt, dass etwas in seinem Körper nicht stimmt. Erst in der Woche darauf geht der damals 75-Jährige zum Arzt. Die Diagnose: Darmkrebs. Die Lebenserwartung: fünf Jahre.
Als er vom Arzt diese Diagnose bekommt, erzählt Hinte seiner Familie davon, seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Er will kämpfen. Die Familie beschließt, nicht an den Tod zu denken.
Der Wirkstoff arbeitet wie ein Detektiv
Willi Hintes Chemo-Therapie beginnt am 19. April 2016. Das erste Medikament, das er bekommt, heißt Irinotecan. Die Ärzte wiegen und vermessen Hinte: Er ist 159 Zentimeter groß und wiegt 50 Kilo. An diesen Zahlen berechnet sich, wie viel Wirkstoff er braucht: 60 Milligramm Irinotecan. Jede Woche hängt Hinte jetzt an einem Infusionsbeutel. Drei Medikamente fließen während der Sitzung in seine Adern. Der Wirkstoff Irinotecan arbeitet wie ein Detektiv. Er soll durch Willi Hintes Körper fließen und den Krebs aufspüren. Irinotecan erkennt Krebszellen daran, dass sie sich sehr schnell teilen und vermehren. Das Krebsmedikament blockiert diese Teilung. Doch das Irinotecan, das Willi Hinte bekommt, schlägt nicht an. Er spürt kaum Nebenwirkungen. Nach den ersten zehn Sitzungen sagt sein Arzt: Es hilft leider nicht.
War in den Infusionen, die Willi Hinte im Sommer 2016 bekommen hat, wirklich Irinotecan? Das muss man sich heute fragen. Denn die Medikamente für Hinte kamen aus Bottrop. Der Apotheker Peter S. der „Alten Apotheke“ hat dort über Jahre hinweg Krebsmedikamente gepanscht. In den Infusionen, Spritzen und Tabletten, die die Patienten bekamen, war wahrscheinlich kein Wirkstoff – oder weniger Wirkstoff als verschrieben. Auch Willi Hinte bekam seine Medikamente aus der „Alten Apotheke“.
Intelligente Zellen
Krebszellen sind intelligent. Sie lernen, sich gegen die Wirkmechanismen der Krebsmedikamente zu wehren. Deshalb gibt es Ausweichmöglichkeiten, wenn ein Medikament nicht mehr hilft, weil die Krebszellen resistent geworden sind. Sogar, wenn man ein Medikament unterdosiert, kann das passieren. „Auch eine geringere Dosis kann zu Resistenzen führen“, sagt Wolf Köster, Leiter der Onkologie am Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie anschlägt, sei natürlich geringer. Der Patient bekommt also zu wenig, um gesund zu werden. Doch die Krebszelle bekommt genug, um zu lernen, wie sie gegen das Medikament gewinnt. Ob Willi Hinte wirklich die verschriebene Dosis Irinotecan bekommen hat, das kann man jetzt nicht mehr nachprüfen. Damals beschlossen die Ärzte, dass es einfach nicht hilft.
„Für die Onkologen war es nicht möglich, zu bemerken, dass die Infusionen gepanscht sind“, sagt der Onkologe Köster. Denn Krebs ist unberechenbar. Es gibt allerdings Ärzte, die das anders sehen. Wir haben mit einem Onkologen gesprochen, der hier seinen Namen nicht lesen möchte, weil er nicht mit dem Fall in Verbindung gebracht werden will. Er sagt: „In einer großen Praxis müssten die Ärzte Verdacht schöpfen, wenn sie durchweg schlechte Behandlungsergebnisse bekommen.“ Es müsste auffallen, wenn Patienten zum Beispiel keinen Haarausfall hätten.
Jeden Einzelfall prüfen
Möglicherweise haben im Fall der „Alten Apotheke“ manche Patienten von ihren Ärzten gehört, dass sie austherapiert sind. Dass ihnen kein Wirkstoff mehr helfen kann, weil ihr Krebs gegen alles resistent ist. Aber vielleicht haben die Patienten gar keinen Wirkstoff bekommen. Dann wären sie nicht resistent, sondern nur betrogen worden. „Eigentlich müsste man jetzt in jedem Einzelfall neu überprüfen, ob diese Diagnose wirklich stimmt“, sagt der Apotheker Torsten Hoppe-Tichy aus Heidelberg. Seiner Ansicht nach hätte jeder Patient, der Lieferungen aus der Alten Apotheke bekam, neu untersucht werden müssen. Und auch der Onkologe, der anonym bleiben möchte, sagt: „Eigentlich ist niemand austherapiert. Man kann bei jeder Therapie noch einmal von vorne anfangen.“
Im Juli 2016 muss Willi Hinte die Therapie wechseln. Die nächste Waffe, die der Arzt verschreibt, heißt Oxaliplatin. Es gibt über hundert zugelassene Krebsmedikamente in Deutschland. Und alle wirken anders. Oxaliplatin dringt in die Zelle ein und verhakt sich in der DNA, als würde eine Spinne darin ihr Netz spannen. Dadurch entstehen Knoten, die dafür sorgen, dass die Krebszellen sich nicht mehr teilen können.
Eine neue Hoffnung
Willi Hinte bekommt zwölf Infusionen Oxaliplatin, wieder in derselben Praxis. Schon ein paar Milligramm des Medikaments kosten über hundert Euro. Die Forschung an Krebsmedikamenten ist umständlich und teuer, deshalb kosten die Medikamente bereits in kleinen Dosen hunderte, manchmal tausende Euro. „Bevor ein Medikament auf den Markt kommt, haben die Forscher viele andere ausprobiert, die schon in Studien oder im Labor scheitern“, sagt der Onkologe Köster. Bei manchen Medikamenten koste die Entwicklung bis zu einer Milliarde Euro.
Hintes Familie hat zu diesem Zeitpunkt immer noch Hoffnung. Sie sind froh, dass die Ärzte ihnen einen zweiten Weg gezeigt haben. Ein neues Medikament bedeutet eine neue Chance auf Heilung. Hinte spürt die Nebenwirkungen, seine Fingerspitzen werden taub, davon haben die Ärzte ihm vorher erzählt. Am 18.10.2016 bekommt Willi Hinte zum letzten Mal eine Infusion mit Oxaliplatin. Der Krebs ist geblieben, es hat nicht geholfen.
Und eine Frage bleibt im Raum: Hat Willi Hinte überhaupt genug Wirkstoff bekommen?
Der Onkologe Köster sagt, dass man nicht wissen kann, was passiert, wenn Patienten eine geringere Dosis ihres Medikaments erhalten. Dafür sei Krebs zu unberechenbar. Manche Patienten haben wenige Nebenwirkungen, und der Krebs geht zurück. Manche haben starke Nebenwirkungen, aber der Krebs bleibt.
Jeder Krebs ist anders
Im November 2016, sieben Monate nach seiner ersten Therapiesitzung, muss Hinte in ein Krankenhaus nach Essen, für eine noch aggressivere Chemo-Therapie. Doch der Krebs hatte bis dahin anderthalb Jahre Zeit, stärker zu werden.
Jeder Krebs ist anders. Das ist das große Problem. Es gibt keinen Normalverlauf, jeder Wert ist nur ein Schätzwert, ein Durchschnitt, von dem die meisten Patienten abweichen. Deshalb kann man nicht sagen, wie viel Zeit Willi Hinte noch gehabt hätte, wenn seine Medikamente von Anfang an gewirkt hätten. Das „vielleicht“ ist das schlimmste, für Patienten und Angehörige. Vielleicht wären da noch ein, zwei Monate mehr gewesen. Oder ein paar Jahre.
Im Krankenhaus, kurz vor Weihnachten, nimmt ein Arzt Willi Hintes Frau Erika zur Seite. Der Krebs hat gestreut, sagt er. Seinem Patienten will der Arzt es nicht sagen, denn der ist zu schwach für diese Nachricht. Metastasen in der Leber, viele kleine Metastasen, das kann man nicht operieren.
Acht Monate bis zum Tod
Zur gleichen Zeit liest Erika Hinte in der Zeitung, dass die Apotheke, aus der ihr Mann seine Medikamente bekommen hat, gepanscht hat. Auch Willi Hinte bekommt das mit. Erika Hinte ruft beim Gesundheitsamt an, holt sich die Behandlungsunterlagen ihres Mannes vom Arzt – aber alle beruhigen sie. Zu diesem Zeitpunkt ist nur von fünf Medikamenten die Rede. Die Wirkstoffe Irinotecan und Oxaliplatin, also Willis Medikamente, seien nicht gepanscht worden. Erika Hinte erzählt Willi davon. Sie sind beruhigt.
Ein aggressiver Krebs führt innerhalb von acht Monaten zum Tod. Zwischen der Beruhigung der Hintes und der Wahrheit liegen sieben Monate. Im Juli 2017 veröffentlicht die Stadt Bottrop eine neue Liste von Medikamenten: Es waren doch nicht nur fünf, sondern gut fünfzig, die wohl gepanscht wurden. Erika Hinte liest davon in der Zeitung. Mit Willi kann sie nicht mehr darüber sprechen. Er starb am 28. Januar 2017. Zwei Jahre nach ihrer Goldenen Hochzeit, drei Jahre früher als ihm anfangs prognostiziert wurde.
Keine Gewissheit
Seit der Nachricht über den Apotheker Peter S. fragt sich Erika Hinte, ob es anders hätte sein können. Hätte sie vielleicht mehr Zeit mit ihrem Mann haben können? Hat der Apotheker Peter S. Schuld daran, dass es bei Willi Hintes Krankheit nur bergab ging? Das ist der größte Schaden, den der Skandal um die „Alte Apotheke“ angerichtet hat. „Alle haben jetzt diese Sorge im Kopf: Ist das wohl auch bei mir passiert?“, sagt der Onkologe Köster.
Gewissheit wird Erika Hinte nicht mehr erhalten. Sie will nicht klagen oder einen Anwalt nehmen. Sie hat kein Geld dafür, und ihr Willi kommt davon auch nicht zurück. Der Onkologe, der Willi Hinte behandelt hat, möchte sich aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht zur Geschichte seines Patienten äußern.