Apothekenskandal: Journalismus im Schaufenster
Lokaljournalismus ist immer noch ein Traumberuf. Zumindest in Bottrop. Zwei Monate haben wir hier im Schaufenster gearbeitet. Haben im Schaufenster recherchiert, Interviews geführt, konferiert. Die Tür stand offen. Nur so konnten wir investigativ arbeiten. Wir wollten einen der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit aufklären. Der Apotheker der Alten Apotheke in Bottrop hatte mehr als 60.000 Medikamente gepanscht. Tausende Menschen waren betroffen.
Lokaljournalismus sollte nah dran sein. Mittendrin. Bei den Lesern. Und wahrscheinlich ist man nirgendwo näher dran als in der Fußgängerzone. In der Fußgängerzone hat man als Journalist keine Chance, sich zwischen Bürgermeister-Sektempfängen und Sparkassen-Eröffnungs-Pressekonferenzen einzuigeln. Diese Termine machen einen sowieso träge und hässlich, sie sind wie Fastfood: schnell fertig, günstig produziert, aber todlangweilig.
In Bottrop konnten wir nicht zu stupiden Terminen gehen. Wir hatten gar keine Zeit dafür. Denn jeden Tag standen Menschen in unserem kleinen Laden. Sie haben uns ihre Geschichten erzählt. Uns gezeigt, was interessant ist. Es ging um den großen Krebsskandal der Alten Apotheke.
Menschen dürfen verdrängen, Behörden nicht
Wir sind im August und September in dieses Ladenlokal in der Bottroper Innenstadt gezogen, weil Peter S. in der „Alten Apotheke“ tausende Patienten um ihre Krebsmedikamente betrogen haben soll. Damit hat er ihnen vielleicht Lebenszeit genommen, vielleicht sogar die Chance auf Heilung. Unser Büro war 50 Meter von der „Alten Apotheke“ entfernt.
Tausende Menschen wurden von Peter S. verletzt, mindestens 1300 davon in Bottrop. Manche versuchen, die Sache zu verdrängen. Manche leugnen sie immer noch. Und manche fühlen sich verloren.
Menschen haben das Recht, zu verdrängen. Das Recht, nicht zu kämpfen. Viele wollen nichts von den Taten von Peter S. wissen. Nicht sehen, dass ihnen vielleicht Unrecht getan wurde. Weil es weh tut, sich damit auseinanderzusetzen. Diese Menschen kamen nicht zu uns. Oder sie kamen, redeten sich die Dinge von der Seele, um dann nie wieder darüber zu sprechen. Auch das ist okay.
Offizielle Stellen und Unternehmen haben nicht das Recht, zu verdrängen. Nicht der Landtag, nicht die Stadt Bottrop, nicht die „Alte Apotheke“. Denn wenn sie verdrängen, lindern sie das Leid nicht – sie verstärken es. Sie verstärken bei den betroffenen Menschen das Gefühl, betrogen zu werden. Nicht nur von einem einzelnen Apotheker, sondern von allen drumherum, die etwas tun könnten, aber jetzt schweigen.
Laut sein, weil andere schweigen
Deshalb haben wir an unser Schaufenster geschrieben: „Informationen und Beratung zum Fall der Alten Apotheke.“ Unser Büro teilte sich einen Innenhof mit der Apotheke, in der Peter S. panschte. Wir waren sichtbar – für ganz Bottrop. Im Schaufenster haben wir Veranstaltungen organisiert, bei denen Onkologen, Seelsorger, Anwälte geredet haben. Die Veranstaltungen haben wir live online übertragen. Denn was dieser Fall braucht, ist Transparenz. Wir schrieben, wir filmten – wir unterhielten uns. Mit jedem, der reinkam. Wir waren laut, weil andere schwiegen.
Das Büro, in dem wir zwei Monate gearbeitet haben, nennen wir „Mobile Lokalredaktion“. Eigentlich ist das bescheuert. Mobile Lokalredaktion, das ist wie Handy mit Telefonschnur, wie Wohnwagen ohne Räder: widersprüchlich. Lokaljournalismus ist ja so schön, weil er eben nicht mobil ist. Weil er festsitzt. Und nicht versucht, mehr zu sein, als er ist: lokal.
Lokaljournalismus neu denken
Wir wollten, dass Bottrop spricht, das Schweigen bricht. Wir wollten das der Skandal transparent wird, wir wollten aber auch Lösungsvorschläge für die Apotheken-Kontrollen einbringen. Mit anderen Worten, wir wollten dem Fall vor Ort die Aufmerksamkeit geben, die er verdient. Nebenbei haben wir gemerkt, dass wir vielleicht gerade dabei sind, lokalen Journalismus neu zu denken.
Wir können nicht die Probleme des Lokaljournalismus lösen. Die Auflagen, die festgefahrenen Strukturen, das Desinteresse. Aber wahrscheinlich kommt man mit Problemlösung auch gar nicht so weit. Es ist der falsche Ansatz, von den Problemen aus zu denken. Probleme führen nur in Sackgassen. Deshalb muss man vielleicht einfach ganz von vorne anfangen. Sich alles ein wenig neu ausdenken. Die Geschichten von den Menschen her denken.
Zurück zum Einzelnen
Nach der Festnahme von Peter S. ist Bottrop in eine Schockstarre verfallen. Der Alte Apotheker war beliebt, gab jedem Geld, der an seine Bürotür klopfte. Der Held ist gefallen.
Man kann in diese Stadt jetzt nicht journalistisch hineinpoltern. Für zwei Wochen ein Hotelzimmer mieten, ein paar Interviews führen, wieder abreisen und sich anmaßen, die Geschichte verstanden zu haben.
Wir können diese Geschichte nur erzählen, weil wir hier eingezogen sind. Weil wir in einem Ladenlokal die Wände gestrichen, Möbel aufgebaut, die Türen geöffnet und uns ins Schaufenster gesetzt haben. Nur ein paar Meter entfernt von der „Alten Apotheke“. Weil wir als Journalisten hier für mehr verantwortlich sind als für Recherche. Wir blieben da, wurden Teil der Menschen und ihrer Geschichten.
Journalisten informieren. Wir sind es gewohnt, für hunderte, tausende Leser gleichzeitig zu arbeiten. Je mehr Leute wir erreichen, desto besser. In Bottrop war unsere Zielgruppe kleiner. Manchmal war es nur genau eine Person. Eine Person, die sich Sorgen macht. Die ihre Behandlungsunterlagen vorbeibringt, ihre Briefe von der Krankenkasse – und viele Fragen hat. Und wir haben hier in unserer Mobilen Lokalredaktion versucht, diese eine Person zu informieren.
Gesicht zeigen
„Ich vertraue den Medien nicht“, das sagen leider nicht nur Honks, sondern manchmal auch durchaus intelligente Menschen. Und wenn wir ehrlich sind, dann können wir alle in der Medienwelt ein bisschen was dafür. Wer noch nie einen Termin so schnell wie möglich wieder verlassen hat, noch nie unsauber zitiert hat, noch nie einen unverständlichen Text geschrieben hat, der werfe den ersten Kugelschreiber. In Bottrop merken wir, dass es gar nicht so kompliziert ist, Vertrauen zurückzugewinnen. Wenn man Menschen einlädt, sich Zeit nimmt, ihnen die Arbeit zu erklären, die man macht, ihnen zeigt, was man weiß und auch was man nicht weiß, dann verdient das eben auch Vertrauen.
Journalisten brauchen Protagonisten, um Geschichten zu erzählen. Protagonisten finden, das ist manchmal unendlich mühsam, vor allem, wenn man dabei am Schreibtisch sitzt. In Bottrop müssen wir nicht suchen, denn die Protagonisten kommen von selbst. Sie helfen uns bei der Arbeit. Erklären ihre Fälle, liefern Versatzstücke zu einem größeren Puzzle oder haben eine Information zu einem Bild, das vielleicht noch eine größere Rolle spielt.
Wir haben gelernt, dass Personalisierung eigentlich ganz einfach ist. Personalisierung, das wollen ja alle – dafür gibt es dann jeden Tag drei meinungsschwache Kommentare und überall Ich-Geschichten. Dabei braucht man tatsächlich nur eine Glasscheibe in der Innenstadt und zwei Redakteure, die sich dahintersetzen. Damit sie dort arbeiten, Hände schütteln, sich vorstellen, zuhören. An ein Kürzel, an einen Namen auf Papier, kann man sich erst vielleicht nach ein paar Monaten Zeitunglesen erinnern. Ein Gesicht, eine Stimme und einen Händedruck, das vergisst man nicht so schnell.
Zum Produkt gehört auch ein Gefühl
Journalisten können nichts, aber sie müssen alles lernen wollen. Komplizierte Sachen verstehen und dann verständlich aufschreiben. Vor allem im Lokalen ist das so, denn da lohnt es sich nicht, Exklusiv-Experte für Ratssitzungen zu werden, wenn man in der nächsten Woche sowieso wieder über Kegelclubs schreibt. Wir müssen uns anstrengen, damit die Leser es leicht haben. In Bottrop haben wir versucht Ärzte, Anwälte und Seelsorger verständlich zu machen. Und immer wieder betont, wo unsere Grenzen sind. Was wir leisten können und was nicht. Wir geben weiter, was wir wissen. Während andere schweigen, versuchen wir, klare Worte zu finden.
Es ist wichtig, dass Redakteure rausgehen. Das ist eine einfache Wahrheit. Aber es ist vielleicht genau so wichtig, dass Leser reinkommen. Und dass alle mit allen reden. Dass ist gut für die Menschen in der Redaktion – die Redaktion ist dann nicht mehr eng und stickig, sondern ein helles Lokal mit genug Sitzplätzen und Kuchen. Dann passieren auch Sachen: Debatten fangen an. Vorleseabende für Kinder und Konzerte für Erwachsene werden gestartet. Das Interview mit dem Oberbürgermeister wird nicht mehr hinter verschlossenen Türen in seinem Büro geführt, sondern in der Redaktion, öffentlich für alle, die kommen wollen. Mit anderen Worten, die Leser können dorthin kommen, wo Journalismus gemacht wird. Es geht nicht mehr um ein Produkt, das verkauft wird, sondern eine Sache, die man gemeinsam in einer Stadt zusammen macht.
Offen für jeden
In vielen Städten gibt es immer noch Lokalredaktionen, bei denen Leser anklingeln können. Und es gibt Menschen, die das tun – aber wenn man ehrlich ist, nehmen diese Möglichkeiten vor allem Menschen einer kleine Elite wahr: von der Kirchenchorleitung bis zum Schützenvereinsvorsitzenden. Es sind Leute, die sowieso eine Zeitung abonniert haben, weil das für sie im Leben dazu gehört.
Wenn man Lokalredaktionen auf den Boden eines Ladenlokals holt, sie öffnet, dann kommen mehr Menschen vorbei als die üblichen Elitenangehörigen. Dann kann jeder kommen, der etwas zu erzählen hat. Und vielleicht schafft es dann auch der Journalist, wieder dazuzugehören. Zu seiner Stadt, zu den Leuten, zu den Gesprächen in den Kneipen und auf dem Marktplatz.
Journalismus muss wieder sichtbar werden
Seit wir in Bottrop sind, werden wir viel mehr angefeuert als angefeindet. Neulich sind zwei Penner vor der Glasscheibe stehen geblieben, einer hat die Faust gehoben und gerufen: „Weitermachen!“ Eine Mutter hat ihren kleinen Sohn reingeschickt. „Ich möchte etwas spenden“, hat er gesagt, mit einem Fünf-Euro-Schein in der Hand, und wir waren alle nicht so sicher, wie man mit so viel Niedlichkeit umgehen soll. Während ich das hier schreibe, steckt eine Frau ihren Kopf durch die Tür und sagt: „Übrigens: Schön, dass Sie da sind.“
Natürlich liegt das auch an dem Thema dieser Recherche. Aber im Grunde ist es anwendbar auf jede Redaktion und auf jedes Thema – zumindest da, wo es ums Präsent-sein geht. Früher haben die Leute im Café und im Zug eine Zeitung in der Hand gehalten, sodass alle sehen konnten, was sie lesen. Heute halten die Leute ein Handy, und was sie darauf lesen, sieht keiner. Deshalb müssen sich Journalisten in die Fußgängerzonen setzen. Nicht nur für lächerliche Werbeaktionen, sondern immer wieder. Wir müssen aus den Bildschirmen der vielen tausend Smartphones zurück auf die Straße klettern.