Der Prozess, Tag 23
Die Verteidigung verweist auf ein „Hirnorganisches Psychosyndrom" und mögliche „unverschuldete Minderdosierungen".
Am 23. Verhandlungstag sind keine Zeugen geladen. Stattdessen entscheidet das Gericht über mehrere Beweisanträge. CORRECTIV berichtet aus dem Gerichtssaal.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Die Anwälte von Peter Stadtmann wollen unter allen Umständen verhindern, dass Details der von ihnen vorgebrachten „Hirnschädigung“ öffentlich bekannt werden. Intensiv beraten sie sich zu diesem Thema mit Peter Stadtmann selbst.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Einige Nebenklägerinnen werten einen Nebensatz des Richters als Hinweis, dass sie eventuell doch noch als Zeugen im Verfahren gehört werden. Die Ausführungen der Verteidigung zu einer möglichen Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten, beobachten sie kritisch.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
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Ist Peter Stadtmann nur eingeschränkt schuldfähig? Das legen zumindest seine Anwälte nahe. Peter Stadtmann habe seit einem Sturz im Jahr 2008 eine „schwere Hirnschädigung infolge eines Schädel-Hirn-Traumas“. Die Verteidigung beantragt zu diesem Thema den Psychiater Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität Bochum als Sachverständigen zu laden. Er habe Peter Stadtmann im Dezember und Januar zweimal in der Haft besucht und ein vorläufiges Gutachten geschrieben. Laut Stadtmanns Anwälten zeige ihr Mandant „gravierende neurologische Auffälligkeiten.“ Bei der Bearbeitung verschiedener Testaufgaben sei seine Leistung schon nach kürzester Zeit rapide abgefallen. Ein „Hirnorganisches Psychosyndrom“ verursache eine „Störung des entscheidungsbezogenen Denkens“. Das könne zu „unbewussten Fehlleistungen unter Stress führen“. Eventuelle Fehlleistungen seien für Peter Stadtmann jedoch „nicht wahrnehmbar“. Demnach sei bei einer möglichen Unterdosierung von Therapien ein vorsätzliches Handeln nicht möglich. Auch sei eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten denkbar.
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Verteidigung versucht Gutachten unter Verschluss zu halten. Stadtmanns Anwälte wollen ihren Beweisantrag, Pedro Faustmann als Zeugen zu hören, zunächst nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen. Der Richter lehnt das mit Verweis auf das große öffentliche Interesse ab. Dieses überwiege, weil es um die Gesundheit der Bevölkerung gehe. Das vorläufige Gutachten von Pedro Faustmann möchte die Verteidigung dennoch möglichst unter Verschluss halten und verweist darauf lediglich als Anhang des Beweisantrages. Das Gutachten zu der „Hirnschädigung“ Peter Stadtmanns soll demnach weder öffentlich im Gerichtssaal verlesen, noch der Nebenklage zur Verfügung gestellt werden. Die Nebenklage will das nicht hinnehmen und beantragt Einsicht in das Gutachten, um sich auf eine mögliche Vernehmung des Psychiaters Faustmann vorzubereiten. Der Staatsanwalt Rudolf Jakubowski lehnt den Antrag der Verteidigung, Faustmann als Zeugen zu hören, ab. Jakubowski verweist auf die Aussagen mehrerer Zeugen, die nach dem Unfall keine Persönlichkeitsveränderung bei Peter Stadtmann bemerkt haben wollen. Außerdem sei das Herstellen von Therapien kein standardisierter Vorgang, bei dem Flüchtigkeitsfehler passieren könnten. Zudem habe sich der Angeklagte laut dem Whistleblower Martin Porwoll damit gerühmt, dass er besonders gut in der Herstellung von Therapien sei. Die Nebenklage schließt sich der ablehnenden Stellungnahme des Staatsanwaltes an. Der Nebenklage-Anwalt Markus Goldbach fügt hinzu, dass in den Minderdosierungen gerade keine Flüchtigkeit erkennbar sei, da diese durchgängig festgestellt worden seien. Ob Pedro Faustmann als Zeuge gehört wird, und ob die Nebenklage Einsicht in sein Gutachten erhält, hat das Gericht noch nicht entschieden.
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Verteidigung sieht das Gericht in Beweisnot. Stadtmanns Anwälte beantragen die Präzisierung des rechtlichen Hinweises, den der Richter dem Angeklagten am 22. Verhandlungstag erteilt hatte. Das Gericht sei offenbar in „Beweisnot“. Es sei „völlig unklar, wer was wann in der Therapiezubereitung gemacht hat“. Keiner der Mitarbeiter habe Peter Stadtmann beim Produzieren im Labor gesehen. In seinem Hinweis hatte der Vorsitzende Richter Johannes Hidding gesagt, man könne in das Labor der Alten Apotheke „nicht hineinschauen“. Diesen Punkt greift die Verteidigung nun auf. Es sei retrospektiv nicht möglich, die Vorläufe im Labor zu rekonstruieren. Das müsse der Rechtsstaat aushalten.
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Unverschuldete Minderdosierung? Die Verteidigung bringt eine „unverschuldete oder fahrlässige Unterdosierung“ ins Spiel. Dieser Erklärungsansatz sei bisher nicht geprüft worden. Die Beweisaufnahme habe nichts ergeben, was für eine vorsätzliche Unterdosierung spreche. Auch sei bisher kein Tatmotiv erbracht worden. Die Herstellung im Labor unter Zeitdruck, die mehrere Zeugen vor Gericht beschrieben hätten, könne statistisch gesehen schnell zu Fehlern führen. Auch die niedrigen Einkaufsquoten würden sich laut Verteidigung so erklären lassen. Würden Therapien unverschuldet unterdosiert, würde auch weniger eingekauft. Der Einkauf passe sich dem Verbrauch an und nicht umgekehrt, denn einen automatisierten Einkauf habe es nicht gegeben. Dafür sprechen laut Verteidigung auch die Aussagen mehrerer Mitarbeiter, es sei immer genügend Wirkstoff auf Lager gewesen. Ein anderer Grund für unverschuldete Unterdosierungen könnten laut Verteidigern die instabilen Wirkstoffe sein. Mangelnde Kontrollen würden zudem ermöglichen, dass eine unverschuldete Unterdosierung auch jahrelang unentdeckt bleiben könne.
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Organisationstat oder nicht? In seinem rechtlichen Hinweis hatte der Richter Johannes Hidding auf eine mögliche Organisationstat verwiesen. Die Verteidigung stellt das in Zweifel. Diese Rechtsfigur der „uneigentlichen Organisationstat“ sei auf Mehrpersonenverhältnisse zugeschnitten, also Straftaten mehrerer Personen. Es habe jedoch kein Zeuge von Anweisungen Stadtmanns zu Unterdosierungen oder einem möglichen Tatplan berichtet. Sämtliche Mitarbeiter hätten vor Gericht ausgesagt, selbst die Therapien immer ordnungsgemäß hergestellt zu haben. Es gebe zudem keine Hinweise darauf, dass der Betrieb der Alten Apotheke auf Straftaten ausgerichtet worden sei. Der Nebenklage-Anwalt Markus Goldbach bemerkt dazu, dass für eine Organisationstat nicht erforderlich sei, dass sich mehrere handelnde Personen zusammen schließen. Auch die Schaffung einer Organisationsstruktur reiche aus.
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In Straßenkleidung im Labor. Immer wieder haben Zeugen vor Gericht ausgesagt, dass Peter Stadtmann das Reinraumlabor in Straßenkleidung betrat. Die Verteidigung argumentiert gegen eine mögliche Kontaminierung des Labors. Demnach habe sich im Rahmen der Beweisaufnahme keine überdurchschnittliche Zahl von Blutvergiftungen bei Patienten ergeben. Wann und in welchem Umfang mögliche Blutvergiftungen bei Patienten untersucht wurden, bleibt jedoch offen. Zudem gebe es laut Verteidigung in der Apothekenbetriebsordnung keine konkrete Vorschrift zur Schutzkleidung. Es sei deshalb unklar, was eine Schutzkleidung laut Norm genau darstelle. Wie bereits am letzten Verhandlungstag verweist die Verteidigung auf Prüfberichte einer Laborbetriebsgesellschaft. Die Prüfberichte aus den Jahren 2012 bis 2015 sollen laut Verteidigung beweisen, dass die Werkbänke in der Alten Apotheke nicht kontaminiert waren. Das Gericht hat über den Beweisantrag zu diesen Prüfberichten noch nicht entschieden.
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Möbelhändler wird nicht als Zeuge gehört. Das Gericht lehnt den Antrag der Verteidigung, einen Möbelhändler als Zeugen zu hören, ab. Der Möbelhändler sollte eine Lieferung von hochwertigen Haushaltsgegenständen im Auftrag Peter Stadtmanns an den Pharmavertreter Wilfried H. bezeugen. Laut dem Vorsitzenden Richter Johannes Hidding ließen sich aus einer solchen Aussage aber nicht zwingend private Lieferungen „erheblicher Mengen Zytostatika“ ableiten. Der Pharmavertreter Wilfried H. habe vor Gericht glaubhaft ausgesagt, dass er privat keine Zytostatika an Peter Stadtmann lieferte. Zudem habe Martin Porwoll vor Gericht ausgesagt, dass er keine Hinweise auf Schwarzkäufe bemerkt und die Alte Apotheke bei allen Herstellern sehr gute Konditionen gehabt habe. Daraus schließe die Kammer laut Richter Hidding, dass Schwarzkäufe, die nicht als Betriebsausgaben abgerechnet werden könnten, wirtschaftlich nicht sinnvoll seien. Auch die weitere Beweisaufnahme habe keine Hinweise darauf geliefert.
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Nebenklägerinnen im Zeugenstand? Der Richter lehnt die Fernsehreportage „Panorama Die Reporter — Der Krebsapotheker“ von NDR und CORRECTIV als Beweis ab. Die Nebenklage hatte am 18. Verhandlungstag beantragt, die Reportage als Beweis aufzunehmen, um die Folgen für die Betroffenen zu belegen. Dazu erklärt der Richter, dass der Antrag keine konkreten Tatsachen nenne und deshalb nur ein Beweisermittlungsantrag sei. Außerdem sei es gegebenenfalls sinnvoller, mehrere Nebenklägerinnen vor Gericht als Zeuginnen zu hören. Konkret nennt der Richter vier Nebenklägerinnen, für die dies möglicherweise in Frage kommen könnte. Die Nebenklage hatte in ihrem Beweisantrag auch auf die mögliche Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Whistleblower Marie Klein und Martin Porwoll hingewiesen. „Die Kammer bewertet die Aussagen der Zeugen Klein und Porwoll im Wesentlichen als glaubhaft, deshalb bedarf es keines Vergleichs“, sagt der Richter.
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Akteneinsicht für die Nebenklage. Die Nebenklage erhält Akteneinsicht in Auszüge der Finanzakten. Allerdings nur in die Dokumente, die am vergangenen Prozesstag öffentlich in der Verhandlung vorgelesen wurden. Darunter sind Kontenlisten und ein Vollstreckungsprotokoll einer Gerichtsvollzieherin. Der Antrag der Nebenklage auf vollständige Einsicht in die Finanzakten wird abgelehnt. Auch die Einsicht der Nebenklage in Umsatzlisten eines Kontos und Kreditkartenabrechnungen wird abgelehnt.
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Kontroverse der Sachverständigen. Am 9. März kommt es am Essener Landgericht wohl zur direkten Konfrontation der Sachverständigen. Siegfried Giess vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und Christoph Luchte vom Landeszentrum Gesundheit NRW (LZG) werden an dem Tag erneut als Zeugen vor Gericht aussagen. Beide stützen die Anklage. Die Verteidigung bekommt die Gelegenheit am gleichen Tag Fritz Sörgel und Henning Blume zu laden. An diesem Tag würden demnach die vier Experten aufeinandertreffen. Zudem teilt der Richter mit, dass das PEI Aktenordner mit Rohdaten an das Gericht geliefert hat. Diese könnten nun von den Verfahrensbeteiligten eingesehen werden. Zudem gebe es laut Richter die Möglichkeit, die für das Qualitätsmanagement zuständigen MItarbeiter des PEI und des LZG, als Zeugen zu laden.
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Update, den 06.03.2018: Wegen Krankheit des Vorsitzenden fallen am 07. und am 09. März die Termine aus. Am 09. März sollten die Sachverständige der Verteidigung und die Sachverständige, die die beschlagnahmten Krebsmittel ausgewertet haben, aussagen. Ein neuer Termin für den Show-Down der Sachverständigen steht noch nicht fest. Neuer Termin ist der 13.03.
Die nächsten Verhandlungstage im Überblick (Beginn jeweils 09:30 Uhr):13.03., 14.03., 19.03., 21.03., 22.03., 03.04., 06.04., 03.05., 04.05., 09.05., 16.05., 18.05., 23.05., 24.05.
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