Der Prozess

Der Prozess, Tag 40

Der psychiatrische Sachverständige Pedro Faustmann sagt erneut aus. Der Saal diskutiert über IQ-Werte und Schmerztropfen. Ersatzrichter müssen nun entscheiden, ob die ganze Kammer befangen ist.

von Marita Wehlus

© CORRECTIV.RUHR

Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?

Stadtmann wirkt heute ruhig. Als seine Verteidiger nach dem Zitat einer Zeugin suchen, blättert er in den großen Aktenordnern herum und sucht danach. Ansonsten lehnt er sich große Teile der Verhandlung zwischen seinen Verteidigern zurück und sieht geradeaus.

Welchen Eindruck machen die Betroffenen?

Am Anfang des Tages sind sechs Betroffene im Gericht. Bis die Sitzung mit fast vierstündiger Verspätung beginnt, sind fünf davon gegangen. Am Ende des Tages sitzen nur noch Anwälte auf den Bänken der Nebenklage. Zwei Zuschauer und zwei Journalisten verfolgen den Verhandlungstag.

Die wichtigsten Ereignisse des Tages:

  • Ersatzrichter müssen über Befangenheit entscheiden.Teile der Nebenklage haben nach Richter Hidding auch die komplette Kammer abgelehnt. Den Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Hidding wies die Kammer heute zurück. Doch über einen Antrag gegen die anderen beiden Berufsrichter und die zwei Schöffen in der Kammer müssen nun andere befinden. Nach einem komplexen System ist festgeschrieben, welche Richter in so einem Fall über welche Kollegen entscheiden. Die drei Richter des Landgerichts Essen, die ausgewählt wurden, setzen eine Frist. Bis morgen, 13 Uhr, dürfen alle dazu Stellung nehmen. Danach werden sie sich beraten. Lehnen sie die Kammer wegen Befangenheit ab, müsste das Verfahren mit neuer Besetzung wiederholt werden.

  • Die IQs von amerikanischen Apothekern 1945. Ein Streitpunkt ist und bleibt die Einschätzung von Stadtmanns IQ. Bereits der psychologische Sachverständige Boris Schiffer hatte kritisiert, dass sich Faustmann auf ungewöhnliche Vergleichsgruppen beziehe. Faustmann hatte gesagt, Stadtmann habe in einigen Tests einen für ihn auffällig niedrigen IQ-Wert von 100-115 erzielt. Der IQ von Apothekern liege durchschnittlich bei 120-125 Punkten. Diesen Vergleichswert hat Richter Hidding herausgesucht. Er stamme aus einer US-Untersuchung aus dem Jahr 1945. Dort sei auch aufgeführt, dass ein Bäcker einen niedrigeren IQ als ein Konditor habe, sagt Hidding. „Vielleicht weil er auf Kuchen schreiben muss“, sagt der Richter, und fragt, ob solche Zahlen überhaupt einen Aussagewert hätten. Faustmann bejaht, es seien ja nur Mittelwerte. Hidding ist dies nicht genug. Die Frage sei berechtigt, wenn Faustmann ihm mit solchen uralten Studien käme. Der Sachverständige erwähnt eine Studie von 2001, dort seien keine Apotheker, jedoch Pharmazeuten mit einem Wert von 116 eingetragen. Die Nebenklage hakt nach: „Ist es nicht nur Ihre eigene Einschätzung, dass der Angeklagte einen höheren IQ gehabt haben muss?“ Faustmann antwortet, er beziehe das aus dem Beruf, dem Bildungsweg und dem Abiturschnitt.

  • Eingeschränkt nur im Zytolabor? Richter Hidding versteht nicht, wie das ganze Leben Stadtmanns so toll laufen konnte und dann ein so winziger Teil nicht. Er habe schließlich erfolgreich gearbeitet, ein Haus gebaut und Charity betrieben, sagt Hidding. Genau darin läge die Schwierigkeit, sagt Faustmann. Man merke oft nicht, wenn die Einschränkung in einem ganz spezifischen Bereich sei. Es müsse die Situation unter Zeitdruck mit vielen Wiederholungen in Folge gegeben sein, sagt Faustmann. Sonst würde man die Einschränkungen in anderen Teilen des Alltags wohl nicht bemerken. Es sei bei Stadtmann auch zu keiner Wesensveränderung gekommen, sagt Faustmann. Leistungseinschränkungen seien bei dem hohen Selbstbild und der gehobenen Stimmung Stadtmanns nicht leicht zu erkennen. In Belastungssituationen würden sich dann die Einschränkungen zeigen. Ob dies nur im Zyto-Labor der Fall gewesen sei, könne er auch nicht sagen.

  • Wusste Stadtmann, was er tat? Laut Faustmann könnten unbewusste Unterdosierungen in der Stresssituation von Zyto-Herstellungen passiert sein. Die unterschiedlich unterdosierten Proben passten in ihrer Bandbreite zu der Theorie. Stadtmann habe gesagt, er könne vom Protokoll her einschätzen, ob eine Wirkstoffmenge richtig für die Person sei, sagt Nebenklageanwalt Goldbach. Die Äußerung stamme aus dem Gutachten Schiffers. Wie habe er dann mutmaßlich viel zu geringe Mengen hineintun können, fragt Goldbach. Er sei ja im Alltag nicht gestört gewesen, sagt Faustmann. Nur unter bestimmten Anforderungen arbeite er schnell, fühle sich dabei gut, mache aber qualitative Fehler. Nebenklageanwalt Schulz hakt nach. Eine Zeugin habe Stadtmann das Zitat „Die sterben doch eh alle“ zugeschrieben. Wie würde das ins Bild passen, wäre es dann nicht vorsätzlich? Faustmann argumentiert wieder mit der Stresssituation. Nach fünf Nachfragen, sagt er: „Wenn jemand das während der Herstellung sagen würde, also eine Metaebene aufmacht, dann müsste man das anders bewerten.“ Die Argumentation der Nebenklage: Wenn eine Person darüber reflektiert, während sie die Handlung ausführt, dann liegt ein Vorsatz nahe.

  • Kritik an Tests von Schiffer. Die Verteidigung befragt Faustmann zum Gutachten von Professor Schiffer. Wie Faustmann damit umgehen würde, wenn ein Proband vor dem Termin Neuralgin gegen Kopfschmerzen genommen hätte? Das sei für Faustmann ein „absolutes No Go“. Die Untersuchung müsste abgebrochen werden, sagt Faustmann. Man könne dann keine validen Tests mehr machen. Der Richter korrigiert: Die Tropfen seien laut Schiffer nur vorbeugend gewesen. Im Gerichtssaal wird über das Medikament diskutiert. Ein Arztbrief von 2006 weise auf mögliche psychische Nebenwirkungen der Tropfen hin, sagt Faustmann. Auch zu den Fragen Schiffers wollen Stadtmanns Anwälte Faustmanns Einschätzung. Wie fände er es, dass Schiffer dem Angeklagten Zeugenaussagen vorgehalten habe? Er würde davon abraten, es sei nicht die Aufgabe des Gutachters zu ermitteln, sagt Faustmann.

  • Keine Vereidigung. Obwohl alle Beteiligten eine Vereidigung des Sachverständigen beantragten, lehnt die Kammer das ab. Staatsanwalt Jakubowski machte den Vorschlag, Nebenklage und Verteidigung schlossen sich an. Richter Hidding war dagegen: „Wir machen hier keine Vereidigungen. Ich will nicht sagen es wäre Quatsch, aber…“. Die Kammer schließt sich dem Vorsitzenden an. Es benötige keine Vereidigung, um ein unparteiisches Gutachten sicherzustellen.

  • Verteidiger zweifeln Herstellungsprotokolle an. Die Verteidigung beantragt, 27 der beschlagnahmten Infusionsbeutel zu sehen. Stadtmann soll diese Proben selbst hergestellt haben. Seine Anwälte wollen beweisen, dass hier nicht das Kürzel „PS“ markiert wurde. Dann seien die Herstellungsprotokolle der einzige Hinweis auf Stadtmann als Hersteller. Hier will die Verteidigung einen Graphologen hören, der bestätigen soll, dass die Kürzel auf den Protokollen nicht Stadtmanns Unterschrift sind.  

Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag

Der Verhandlungstag am Donnerstag wird abgesagt. Das Programm am Freitag ist noch nicht klar. Zumindest will die Kammer aber am Freitag darüber beraten, ob die Frist für Anträge verlängert wird.

Die nächsten Verhandlungstage im Überblick (Beginn jeweils 09:30 Uhr):      29.06., 03.07., 05.07. und 06.07.