
Liebe Leserinnen und Leser,
Huch!, das war unsere erste Reaktion heute Vormittag in der Redaktion – als sich die Nachricht verbreitete, dass Bundeskanzler-Kandidat Friedrich Merz im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit erhielt.
Im Thema des Tages erklären wir, welche Konsequenzen die (zwischenzeitliche) Nicht-Wahl hat, warum auch die Einigung auf einen zweiten Wahlgang eine wichtige Neuerung darstellt – und, was über die Gründe für das Scheitern bekannt ist.
Außerdem noch eine Leseempfehlung: AfD-Verbotsverfahren-Reporterin Marie Bröckling hat eine Chronik erstellt, wie die Debatte um ein Verbotsverfahren ins Rollen kam.
Was halten Sie davon, dass Friedrich Merz im ersten Durchgang nicht zum Bundeskanzler gewählt wurde? Schreiben Sie mir: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Merz nur zweite Wahl
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Faktencheck: Koalitionsvertrag: Wie Union und SPD gegen Desinformation vorgehen wollen
Grafik des Tages: Die knappsten Kanzlerwahlen – und das historische Scheitern von Friedrich Merz
Es ist ein historisches Ereignis. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik erreichte ein designierter Kanzler im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit. 316 Stimmen hätte er gebraucht, es waren aber nur 310.

Wie hat es dann doch noch funktioniert?
Genau hier gab es nun das zweite bemerkenswerte Ereignis: Um eine zweite Abstimmung noch heute abzuhalten, musste sich der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit auf eine Ausnahme der üblichen Regeln (sogenannte Ladungsfrist) einigen. Andernfalls wäre eine Wahl erst in den kommenden Tagen möglich gewesen.
Den notwendigen Antrag reichten Union und SPD gemeinsam mit Grünen und der Linken ein. Eigentlich gibt es bei der Union seit vielen Jahren ein Kooperationsverbot mit der Linken. Mindestens für diese historische Wahl aber wurde das nun ausgesetzt.
Warum wurde Merz im ersten Durchgang nicht gewählt?
CDU und CSU haben zusammen 208 Abgeordnete im neuen Bundestag, die SPD hat 120. Zusammen verfügen die Partner also über 328 Stimmen. Das bedeutet, 18 Abgeordnete aus den Koalitionsparteien haben Merz nicht zum Kanzler gewählt.
Bloß wer? Der designierte Vizekanzler, Lars Klingbeil von der SPD, hatte Merz vor der Wahl zugesichert, alle Stimmen der SPD-Fraktion zu bekommen. Nach dem Scheitern gebe es „Entsetzen“ in der SPD-Fraktion.
Waren es also Unionsabgeordnete, die Merz die Stimme nicht gaben? Für diese Theorie spricht, dass unsere kürzlich veröffentlichte Recherche über Merz zeigte: Es gibt einige in der Fraktion, die mit Merz äußerst unzufrieden sind. Den Arbeitnehmer-Flügel in der Partei zum Beispiel lässt er demnach links liegen.
Die Fraktion weist das aber weit von sich. Wir von CORRECTIV haben heute zwölf der wichtigsten Unions-Abgeordneten gefragt, wie sie abgestimmt haben, darunter Jens Spahn, Alexander Dobrindt und Philipp Amthor. Spahns Pressesprecher sagte uns: „Selbstverständlich hat Jens Spahn für Friedrich Merz gestimmt!“ Andere Abgeordnete haben bis Redaktionsschluss noch nicht geantwortet.
Vielleicht wird nie herauskommen, wer die Abweichler waren, denn die Stimmabgabe ist geheim.
Wer profitiert von dem Chaos?
Das ist nicht klar, aber die AfD versucht jedenfalls, Merz’ Misserfolg als Erfolg für sich zu verbuchen. Deren Fraktionschefs Alice Weidel und Tino Chrupalla sagten rasch vor Fernsehkameras, der „Wahlbetrüger“ Merz sei gescheitert, dies sei ein guter Tag für die Demokratie.
Geldwäsche-Verdacht gegen AfD-Politiker im Europaparlament
Das EU-Parlament hebt die Immunität des AfD-Politikers Petr Bystron auf. Die Ermittlungen gegen Bystron wegen Geldwäsche und Bestechlichkeit können nun fortgesetzt werden.
t-online.de
Brandenburger Verfassungsschutz-Chef entlassen
Jörg Müller, Leiter der Brandenburger Verfassungsschutzbehörde, muss überraschend seinen Posten räumen. Grund dafür ist laut Innenministerin Lange fehlendes Vertrauen.
rbb24.de
Stuttgart: Prorussische Hacker Angriff auf die Website der Stadt bestätigt
Vergangene Woche wurde die Website der Stadt Stuttgart durch einen Hackerangriff lahmgelegt. Laut der Stuttgarter Polizei hat sich jetzt eine Prorussische Hacker-Gruppe zu dem Angriff bekannt. Diese greift Städte in Ländern an, die die Ukraine im Krieg gegen Russland unterstützen.
swr.de
CORRECTIV-Recherche: Wie die Debatte um ein AfD-Verbot ins Rollen kam
Für manche ist die Debatte um ein AfD-Verbot verfrüht, für andere ist sie längst überfällig. Wir zeigen, wie sich die Debatte entwickelt hat: Vom ersten Tweet bis zum Bundestagsantrag.
correctiv.org

Faktencheck

Im Koalitionsvertrag stellen Union und SPD vor, wie sie die Gesellschaft vor der Verbreitung bewusster Falschinformationen schützen wollen. Sofort entbrennt eine Debatte über ein angebliches „Lügen-Verbot“. Wir schauen uns an, was da dran ist.
correctiv.org
Endlich verständlich
Das israelische Sicherheitskabinett unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat beschlossen, den Gazastreifen komplett zu besetzen. Die Angehörigen der noch dort festgehaltenen im befindlichen israelischen Geiseln sind entsetzt. Und auch die Lage für die palästinensische Bevölkerung könnte sich dadurch weiter zuspitzen. Was die Ankündigung bedeutet und welche Befürchtungen damit verbunden sind, klären der Deutschlandfunk und der britische Guardian.
deutschlandfunk.de / theguardian.com
So geht’s auch
In Winsen eröffnet das erste klimaneutrale Naturbad. Die Energie steuert eine Photovoltaikanlage bei. Statt Chlorreinigung setzen die Stadtwerke, die das Bad betreiben, auf Pflanzenfilter.
ndr.de
Fundstück
Der vielleicht netteste Ort des Internets: Hier bekommen Sie digitale Umarmungen von Fremden.
thenicestplace.net
Durch das Kommando über das Regionalkommando Nord und den Einsatz von 150.000 Soldaten in Afghanistan hat Deutschland strategische, militärische und diplomatische Erfolge erzielt, die bis heute nachhallen.
Das Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghanen ist das absolute Minimum, um diesem Vermächtnis gerecht zu werden. Doch jetzt steht es vor dem Aus. Das Programm zu stoppen wäre nicht nur ein moralisches Versagen, sondern ein strategischer Fehler. Deutschland hat afghanische Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Ortskräfte um Unterstützung gebeten. Sie nun im Stich zu lassen, würde Deutschlands Glaubwürdigkeit bei künftigen Missionen zerstören und Zweifel unter den NATO-Partnern neu entfachen. Darüber hinaus würde es diese Menschen entweder der Verfolgung durch die Taliban ausliefern oder sie in die Hände von Schleusern treiben. Das wäre ein direkter Widerspruch zu der bisherigen feministischen Außenpolitik und dem Bekenntnis zum Rechtsstaat.
Angesichts dessen, was Deutschland in Afghanistan gewonnen hat, sind sichere, legale Wege für die Zurückgelassenen keine Wohltätigkeit – sie sind eine überfällige Verpflichtung. Es ist ein Prüfstein dafür, ob Deutschland seinen militärischen Anspruch mit menschlicher Verantwortung zu vereinen weiß.

Historisches Beinahe-Scheitern: Im ersten Wahlgang versagten einige Mitglieder der Koalitionsparteien Friedrich Merz die Zustimmung. Damit ist er der einzige Kanzlerkandidat, der den ersten Wahlgang nicht überstanden hat. Auch in der Vergangenheit waren die Entscheidungen bereits sehr knapp. Konrad Adenauer erreichte 1949 nur genau so viele Stimmer, wie er für die Wahl benötigte. Auch Helmut Schmidt und Helmut Kohl schafften es nur mit einer zusätzlichen Stimme über die 50-Prozent-Hürde.
Dabei ist es durchaus üblich, dass nicht alle in der Koalition dem oder der Kandidatin ihre Zustimmung gewähren. So verweigerten 49 Abgeordnete von Union und SPD der Kanzlerkandidatin Angela Merkel im Jahr 2005 die Zustimmung. Sie wurde dennoch Kanzlerin – die Große Koalition verfügte damals über eine hinreichende Mehrheit im Parlament.
tagesschau.de
An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Till Eckert, Samira Joy Frauwallner, Sebastian Haupt und Jule Scharun.
CORRECTIV ist spendenfinanziert
CORRECTIV ist das erste spendenfinanzierte Medium in Deutschland. Als vielfach ausgezeichnete Redaktion stehen wir für investigativen Journalismus. Wir lösen öffentliche Debatten aus, arbeiten mit Bürgerinnen und Bürgern an unseren Recherchen und fördern die Gesellschaft mit unseren Bildungsprogrammen.