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Autor Bild Anette Dowideit

Liebe Leserinnen und Leser,

in unserem Land leben 5,7 Millionen Menschen, die ihren Alltag nicht (mehr) allein bewältigen können. Sie sind pflegebedürftig. Die meisten von ihnen, 86 Prozent, wohnen dennoch zu Hause und werden zu großen Teilen von ihren Ehepartnern, Kindern oder anderen Angehörigen versorgt. Für diese Arbeit, die sie leisten, bekommen sie fast nichts.

Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die neue Bundesfamilienministerin möchte es angehen. Darum geht es heute im Thema des Tages – und um ein Schlupfloch, das einige pflegende Angehörige nutzen, wie eine heute veröffentlichte Recherche zeigt.

Gestern hatte ich Sie gefragt: Bereitet es Ihnen Sorgen, dass für dieses Jahr kein Wachstum unserer Wirtschaft erwartet wird? Eine Zusammenfassung Ihrer Antworten lesen Sie in den nächsten Tagen im SPOTLIGHT.

Welche Themen treiben Sie sonst derzeit um? Schreiben Sie mir: anette.dowideit@correctiv.org.

Thema des Tages: Pflegefall(e)

Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste

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Das ist nicht nur ein privates Problem, sondern auch ein gesellschaftliches: Die Pflegenden stehen dem Arbeitsmarkt nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Und wenn sie deshalb nicht genug für den eigenen Ruhestand vorsorgen können, muss die Allgemeinheit dies auffangen.

Die neue Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) will dieses Problem angehen.

Was sie vorschlägt:
Prien möchte eine neue Sozialleistung einführen: Pflegegeld als Lohnersatz. Grund:

„Es wird mit unserer demografischen Entwicklung nicht möglich sein, dass Pflege allein von Fachkräften geleistet wird.“
Karin Prien
Bundesfamilienministerin

Konkret plant sie eine Leistung, die ähnlich wie das Elterngeld funktionieren könnte. So wolle sie Millionen von Menschen im Land entlasten. 

Allerdings, wie sie sagt: nur, wenn das Wirtschaftswachstum das auch hergibt.

Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) heute im Bundestag. Quelle: picture alliance / dts-Agentur

Warum gibt es zu wenige Fachkräfte?
Dass Fachkräfte rar sind und deshalb viel zu wenige Pflegebedürftige von ambulanten Pflegediensten oder in Heimen versorgt werden können, ist lange bekannt. Einen Grund dafür hatten wir von CORRECTIV kürzlich aufgezeigt: Rund 11.000 Fachkräfte aus dem Ausland könnten sofort loslegen, würden die Behörden ihre Ausbildungsabschlüsse anerkennen. Doch die Anerkennungsverfahren dauern Monate.

Ende April hatten wir das Bundesgesundheitsministerium gefragt, ob es nach unserer Recherche die Anerkennungs-Prozedur vereinfachen wird. Damals hieß es: Dazu könne man nichts sagen, so lange es keine neue Ministerin gibt. Jetzt, wo es die gibt – Nina Warken (CDU) – haben wir erneut dort nachgefragt.

Das Ministerium antwortete uns heute Nachmittag: Es sei gar nicht möglich, die Anerkennungsverfahren so schnell und einfach zu beschleunigen – dafür seien komplizierte und langwierige Absprachen mit anderen EU-Ländern nötig.

Es sieht also so aus, als ob es an dieser Stelle erstmal keine Entlastung für pflegende Angehörige gibt.

Welche Leistungen es bisher gibt:
Es existieren natürlich viele verschiedene Geld- und Sachleistungen für Pflegebedürftige, von denen indirekt auch die Angehörigen profitieren. Eine gute Übersicht gibt es hier.

Jene Leistung, die bisher am direktesten den Angehörigen zugute kommt, ist die sogenannte Verhinderungspflege: Man kann als Hauptpflegeperson bis zu 2.500 Euro pro Jahr beantragen, um von dem Geld einen Pflegedienst (oder auch einen Nachbar) zu bezahlen, wenn man mal verhindert ist – also zum Beispiel selbst krank ist oder Urlaub braucht.

Im vergangenen Jahr gaben die Pflegekassen dafür 3,1 Milliarden Euro aus.

Aktuelle Berichterstattung dazu:
Heute ist eine Recherche von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung erschienen, die zeigt, dass das Geld für diese Verhinderungspflege oft gar nicht an jemand anderen weitergegeben wird, sondern die Angehörigen es selbst behalten. Damit beschäftigt sich jetzt sogar das Bundeskriminalamt.

Der Recherche zufolge wird das System von vielen ausgenutzt, weil es keine Kontrollen gibt, wohin das Geld am Ende fließt. 

Lädt das System dazu ein?
Eine Kollegin aus unserem Redaktionsteam, selbst mit Pflegeerfahrung in der Familie, sagte mir heute Vormittag: „Es ist nur ein Formular, das man ausfüllen muss. Man kann eine Bekannte oder ein Familienmitglied darum bitten, als Vertreter zu unterschreiben. Das ist ein relativ geringer bürokratischer Aufwand und niemand kontrolliert das. Die Mentalität ist da eher, dass man das Geld quasi verschenkt, wenn man den Antrag nicht stellt.“

Ist das also ein Kavaliersdelikt – wenn man bedenkt, dass (wie oben beschrieben) die pflegenden Angehörigen ansonsten kaum vom Staat entlastet werden? Diese Meinung muss sich jeder selbst bilden. 

Zwei Mitarbeiter der israelischen Botschaft erschossen 
Vor dem Jüdischen Museum in Washington, D.C. wurden zwei Mitarbeiter der israelischen Botschaft getötet. Ein Verdächtiger wurde bereits festgenommen. Er soll bei der Festnahme „Free, free Palestine“ gerufen haben. Die beiden Opfer sollen ein junges Paar gewesen sein, der Mann deutsche Wurzeln haben. Das FBI geht von einem möglichen Hassverbrechen aus. 
spiegel.de

Stuttgart: AfD attackiert Schüler verbal für Pro-Demokratie-Plakate 
Bei einer Ausstellung im Rathaus werden Plakate Stuttgarter Schülerinnen und Schüler ausgestellt. Sie positionieren sich so für die Demokratie. Die AfD-Fraktion verunglimpft die Schüler im Amtsblatt als „Heuchler“. 
stuttgarter-zeitung.de

CORRECTIV: Genfer Pensionskasse – Lücken in ambitionierter Klimastrategie
Die Genfer Pensionskasse investiert Millionen in große Kohleunternehmen und Amazonas-Abholzer. Trotzdem geht sie in ihrer Klimastrategie weiter als viele andere Kassen der Altersvorsorge. Dazu geführt haben nicht Anreize und Freiwilligkeit, wie es Behörden und Finanzindustrie propagieren, sondern klare Gesetze. 
correctiv.org

Bild: Felix Marquez/ picture alliance/ dpa
Bild: Felix Marquez/ picture alliance/ dpa

So geht’s auch
Weltweit bedroht Artensterben zwischen einer und zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten – mit Folgen für Ökosystem, Klima und Gesundheit. Dagegen arbeitet die ecuadorianische Naturschutz-NGO „Jocotoco“, geleitet vom deutschen Biologen Martin Schaefer. In Südamerika kämpfen sie um das Überleben des seltenen Blaulatzkolibris, von dem nur noch etwa 100 bis 250 Tiere vermutet werden. Dafür wird erstmals KI eingesetzt, um Tierstimmen zu analysieren und den Erfolg der Schutzmaßnahmen messbar zu machen.
tagesschau.de

Fundstück
Politik führt manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen – so auch im Parlament in Taiwan. Aktuell gehen Videos viral, in denen ein Abgeordneter zu versuchen scheint, Gesetzesdokumente zu entreißen und damit wegzurennen – wohl, um die Abstimmung zu verhindern. Der Hintergrund: Die Regierungspartei DPP hat das Präsidentenamt, aber keine Parlamentsmehrheit mehr. Die Opposition will dem Parlament mit neuen Gesetzen mehr Macht geben, was die DPP als verfassungswidrig kritisiert. Die chaotischen Szenen stehen also symbolisch für die aktuelle Krise in Taiwans Demokratie. 
ndtv.com / Reddit


CORRECTIV hat die gemeinsame Erklärung unabhängiger Medien aus ganz Europa unterzeichnet. Wir rufen zu internationaler Solidarität auf und fordern die EU-Institutionen zum sofortigen Handeln auf, um dieses antidemokratische Gesetz zu stoppen. Inhalt und Sprache des Gesetzes erinnern stark an repressive Maßnahmen aus Putins Russland – ein direkter Angriff auf die Pressefreiheit, eine tragende Säule der Demokratie.

Für mich ist das persönlich. In Polen, bei meiner Arbeit für Gazeta Wyborcza, habe ich miterlebt, wie unabhängigen Medien staatliche Werbegelder entzogen, institutionelle Abonnements gekündigt, sie mit SLAPP-Klagen überzogen und als „ausländische Agenten“ diffamiert wurden. In der Ukraine sah ich, wie Journalistinnen und Journalisten der Zugang zu öffentlichen Informationen verweigert, Berichte zensiert und sie von Politikerinnen und Politikern bedroht wurden, die ihre eigenen Verfehlungen vertuschen wollten.

Diese Erfahrungen sind keine Ausnahmen und kein rein osteuropäisches Phänomen. Auch in westlichen Demokratien wächst das Misstrauen gegenüber unabhängigem Journalismus – vor allem dann, wenn er Machtmissbrauch aufdeckt.

Bei CORRECTIV sind wir überzeugt: Journalismus muss Macht hinterfragen. Und das geht nur gemeinsam. Demokratie ist kein Erbe, sondern etwas, das wir täglich aufs Neue schützen, stärken und verteidigen müssen – durch unsere Entscheidungen, unsere Recherchen und unsere Solidarität.

Dazu zählen laut Antidiskriminierungsstelle verbale und physische Belästigung, aber etwa auch das Zeigen pornographischer Bilder. In der Wahrnehmung, ab wann Verhalten die Grenze zur Belästigung überschreitet, unterscheiden sich Männer und Frauen laut Angaben des IAB nicht. Viele Beschäftigte glauben indes nicht, dass eine Beschwerde etwas ändern würde. 
rnd.de

An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Samira Joy Frauwallner, Sebastian Haupt und Jule Scharun.