Das französische Atomkraftwerk Belleville ging Ende der 1980er ans Netz.© Ivo Mayr/Correctiv ( Vorlage AFP )

Das Beste aus dem Archiv

Brandgefährlich: So marode ist der Brandschutz in Europas Atomkraftwerken

Deutsche Atomkraftwerke haben ein Sicherheitsproblem: ihre Brandschutzklappen sind Jahrzehnte alt. Unterlagen aus dem Inneren des französischen Atomgiganten EDF zeigen, mit welchen Tricks Betreiber die erlaubten Grenzwerte einfach selbst ändern. Und wie Aufsichtsbehörden alles absegnen – auch in Deutschland. Dies ist auch die Geschichte zweier Whistleblower, die vergebens warnen. Eine gemeinsame Recherche mit dem RTL Nachtjournal und Mediapart.

von Annika Joeres , Bastian Schlange

Dietmar Krause muss 500 Höhenmeter überwinden, um sich sicher zu fühlen. Serpentine um Serpentine schraubt er sich in seinem Mercedes den Berg hinauf. Das Handy klingelt. „Nein, Schatz“, raunt er in den Hörer. „Mach dir keine Sorgen. Ich erzähle nicht zu viel.“ Dann kommen wir auf der Bergkuppe an.

Es ist ein grauer Morgen Anfang März. Die kalte Bergluft ist beißend kalt, auf den umliegenden Gipfeln liegt noch Schnee. Der Wirt des Berghauses Oberbölchen begrüßt Krause mit Handschlag. Sonst ist da nur noch ein Pärchen mit Motorrad. Keiner hört hier, welche Betriebsgeheimnisse er preis gibt, aus dem „Pulverfass“, wie Krause es nennt. Er meint das Atomkraftwerk Gösgen, das tief unten in der Ebene liegt und für das er lange gearbeitet hat. Sein einstiger Arbeitgeber würde Krause für das, was zu sagen hat, wohl verklagen.

Krause, der eigentlich anders heißt, wirkt nicht wie ein ängstlicher Typ. 1,90 Meter, kräftig. Ein Tüftler mit schwieligen Händen, die von mehr als 30 Jahren Arbeit an Kabeln und Maschinen erzählen. Wann genau in diesen 30 Jahren als AKW-Techniker er zu der Überzeugung kam, dass die Atomkraft nicht beherrschbar ist, kann er nicht mehr sagen. Sie reifte mit dem Alter des Meilers.

Krause breitet Fotos auf dem Tisch aus. In dicken Betonwänden sieht man graue Brandschutzklappen, daneben verkratzte Plaketten. Die Nummern der Räume, die die Klappen im Brandfall voneinander trennen sollen, lassen sich nur schwer erkennen. „Das ist uralte Technik“, sagt Krause.

In breitem Schweizerdeutsch redet er sich immer mehr in Rage. In den 90er-Jahren habe er noch Geld für den Brandschutz ausgeben können. Um Kabel neu abzuschotten oder sie einfach nur regelmäßig zu warten. Das habe sich geändert: „Zuletzt wurde nur noch gespart.“

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Unser Schweizer Whistleblower trifft sich mit uns in einem Berggasthof auf 1600 m Höhe. Er war Techniker im AKW Gösgen. (Symbolbild)

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage unsplash.com )

Der Betreiber weist das zurück. Man habe in den vergangenen Jahren jeweils eine Million Schweizer Franken für den Brandschutz ausgegeben. „Sicherheit hat im Kernkraftwerk oberste Priorität.“

Das AKW Gösgen ging 1979 ans Netz. Gebaut hat es die Kraftwerk Union, jenes Gemeinschaftsunternehmen der Konzerne Siemens und AEG, das einen Großteil der AKWs in Deutschland errichtet hat. In Deutschland sind alle Kraftwerke, die wie Gösgen aus der zweiten Baulinie der Kraftwerk Union stammen, stillgelegt. Gösgen dagegen läuft weiter. Etwa 40 km von der deutschen Grenze entfernt.

Ein Super-GAU ist keine nationale Angelegenheit. Je nach Wetterlage müssten Menschen auf einer Fläche zwischen 80 und etwa 23.000 Quadratkilometer langfristig umgesiedelt werden, veranschlagt die Bundesregierung.

Das Treffen mit Krause ist Teil einer mehrmonatigen Spurensuche. Wir wollten gemeinsam mit RTL Nachtjournal und Mediapart herausfinden, wie sicher die Atomkraftwerke in Deutschland und unseren Nachbarländern Frankreich und Schweiz noch sind. Und wie ernst die zuständigen Behörden es mit der Kontrolle der Sicherheit nehmen.

Dafür haben wir Whistleblower auf Schweizer Berggipfeln und französischen Brücken getroffen, mit Experten und Insidern gesprochen, tausende Seiten Dokumente analysiert. Und wir haben bei den Kraftwerksbetreibern und den für sie zuständigen Aufsichtsbehörden nachgefragt.

Die Behörden nicken bloß

Das Ergebnis in Kurzform: Die Brandschutzklappen in vielen Atomkraftwerken beruhen auf einer problembehafteten Technik aus den 1960er-Jahren und sind völlig veraltet. Sie auszutauschen, würde den Betreibern immense Kosten verursachen. Also bestimmen sie stark mit, welche Technik als sicher gilt und welche nicht. Die Aufsichtsbehörden: nicken nur ab. Und so wird die Nutzungsdauer von Bauteilen in Frankreich wie in Deutschland immer wieder über die ursprünglich vorgesehene Dauer hinaus verlängert.

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Das Schweizer AKW Gösgen – etwa 40 km von der deutschen Grenze entfernt. Seit fast zwei Jahren streiten hier Betreiber und Aufsichtsbehörde um defekte Brandschutzklappen.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage AFP )

Seitdem die AKW in der Schweiz und in Deutschland vor mehr als drei Jahrzehnten ans Netz gingen, wurden kaum Klappen ausgetauscht. Immer wieder kommt es vor allem in Deutschland zu Vorfällen.

Ein wirksamer Brandschutz mit veralteten Klappen ist schwer möglich. Deshalb haben wir bei den vier für die letzten aktiven AKW in Deutschland zuständigen Landesumweltämtern nachgefragt: Auf welchem technischen Stand sind die Brandschutzklappen? Wie viele wurden seit Betriebsbeginn ausgetauscht?

Es war ein zähes Ringen. Die wenigen Informationen, die wir bekamen, lassen zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder sind über 99 Prozent der Brandschutzklappen in deutschen Atomkraftwerken zwischen 30 und 40 Jahre alt und damit fehleranfällig. Oder den zuständigen Aufsichtsbehörden fehlt selbst die Übersicht, was in den Meilern los ist.

Das hieße, dass sie in erster Linie den Betreibern vertrauen, ihre Sicherheitstechnik dem Atomgesetz entsprechend auf dem neuesten Stand zu halten – für die es sich angesichts des Atomausstiegs 2022 immer weniger lohnt, in ihre AKWs zu investieren.

Was für eine schlechte Idee das ist, geht aus Unterlagen des französischen Atomgiganten EDF hervor, die CORRECTIV und Mediapart exklusiv vorliegen. Sie belegen im Detail, wie der Betreiber die Belastungsgrenzen seiner überalterten AKWs schönt und – im Einklang mit der Aufsichtsbehörde – systematisch die zulässigen Belastungsgrenzen nach oben verschiebt. Ähnliches geschieht in Deutschland. EDF sagt dazu, man habe sich an alle Gesetze gehalten.

Achillesferse Brandschutz

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Ein Blick in die Schaltzentrale eines AKW.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage unsplash.com )

Beim Brandschutz sind die Konsequenzen von Alter und Verschleiß besonders gefährlich.

Seit dem Fiasko rund um den neuen Berliner Hauptstadtflughafen redet das ganze Land über das Thema. Denn dass der BER über acht Jahre nach der geplanten Eröffnung noch nicht in Betrieb ist, liegt maßgeblich an der fehlgeplanten Brandschutztechnik. Der Rauch sollte nach unten gesogen und aus den Gebäuden geleitet werden.

Über den Brandschutz in Atomkraftwerken spricht niemand.

Außer einigen wenigen Experten. Matthias Dietrich, Brandschutz-Gutachter in deutschen Reaktorblöcken, nennt ihn „eine der Achillesfersen“ der Atomkraft.

Um zu verstehen, warum gerade das fortgeschrittene Alter von Brandschutzklappen so gefährlich ist, muss man etwas in die Architektur von Meilern und ihrer Sicherheitssysteme eintauchen.

Breitet sich ein Feuer aus, bedroht es die Kühlsysteme. Die wiederum sind unerlässlich, um den Reaktorkern zu kühlen und damit eine Kettenreaktion zu verhindern. Deshalb ist ein Atomkraftwerk so gebaut, dass man im Brandfall – unabhängig von den Löschanlagen – den brennenden Bereich abriegelt und so verhindert, dass Feuer oder Rauch andere Räume erreichen. Das nennt man Schottungssystem. Die Räume sind durch massive Wände aus Beton getrennt, die einem Feuer mehrere Stunden standhalten können.

Eine Klappe pro Schacht

Ihre einzige Schwachstelle sind die Lüftungsschächte. Denn Räume ohne Fenster brauchen Frischluft. Feuer auch. Deshalb gibt es Brandschutzklappen. Wenn es brennt, sollen sie die Räume automatisch abriegeln und so verhindern, dass sich Rauch und später Feuer über die Lüftungsschächte in andere Bereiche ausbreiten können.

Das Problem ist: Pro Lüftungsschacht gibt es oft nur eine Klappe, und damit entziehen sie sich dem sogenannten Redundanzprinzip, auf dem die Sicherheit eines AKW gründet: Fällt ein Teil aus – also eine Pumpe, ein Stromkreis oder ein Steuerungssystem – dann laufen zum Beispiel drei oder vier weitere gleiche Teile weiter. So lassen sich technische Risiken auf die fünfte oder sechste Stelle hinter das Komma verbannen. Außer eben bei den Brandschutzklappen.

Ein Brand kann wiederum beispielsweise mehrere Pumpen auf einmal außer Gefecht setzen. „Dadurch kann gegebenenfalls das in der Tiefe gestaffelte Sicherheitskonzept eines Kernkraftwerkes gefährdet sein“, heißt es in einer gemeinsamen Studie von Bundesumweltministerium und Bundesamt für Strahlenschutz von 2016.

Alter Meiler im Alpenidyll

Zurück in die Schweiz, Heimat von fünf aktiven AKWs, darunter eines der dienstältesten der Welt: Beznau 1, nur wenige Kilometer hinter der Grenze zu Baden-Württemberg entfernt. Im Mai 2017 haben die Schweizer per Referendum für den Atomausstieg gestimmt. Ein Datum hat der Ausstieg nicht. Bis 2050 soll das Energiesystem auf erneuerbare Energien umgestellt sein. Allerdings kann ein Meiler schon vorher vom Netz genommen werden, wenn externe Prüfer ihn als nicht mehr sicher einstufen.

Die Brandschutzklappen könnten im Fall des AKW Gösgen zur Abschaltung führen. Aber das Beispiel Gösgen zeigt, wie Betreiber selbst dann noch auf Zeit spielen können, wenn Störfälle die Aufmerksamkeit der Behörden wecken.

Laut dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) ist ein Großteil der Schweizer AKW über 40 Jahre alt. 40 ist ein schlechtes Alter für eine Brandschutzklappe – in doppelter Hinsicht.

Da ist zum einen schlicht der Verschleiß. Das Material versprödet, korrodiert, ermüdet, zersetzt sich, Schmierstoffe schmieren nicht mehr. „Brandschutzklappen wurden früher mit deutlich geringeren Materialstärken gefertigt. Häufig haben veraltete Klappen daher über die Jahrzehnte Haarrisse bekommen und versagen unter der extremen Belastung eines Feuers“, sagt der Wuppertaler Brandschutzexperte Matthias Dietrich.

Einfach herausgedrückt

Störfälle, zeigt Dieter Majer, folgen einer Badewannenkurve. Der ehemalige Leiter der Abteilung „Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen“ des deutschen Bundesumweltministeriums hat diese Kurve in einer Studie für die Schweizer Energiestiftung aufgezeigt: Nach Anfangsschwierigkeiten gibt es lange Zeit kaum Störfälle. Nach 20 Jahren allerdings schießt die Kurve rasant nach oben, wobei sich „bei 40 Betriebsjahren und mehr eine drastische Erhöhung von Ausfällen zeigt“.

Brandschutzexperte Dietrich zufolge besitzen alte Klappen auch minderwertige Dichtungen, die den Rauch stärker durchlassen als moderne Klappen. Anders als bei modernen Brandschutzklappen, bestünde darüber hinaus die Gefahr, dass sich die alten Lüftungsleitungen bei hohen Brandtemperaturen ausdehnen und die Klappen einfach aus Wand oder Decke herausgedrückt werden.

Damit wären sie im Falle eines Feuers völlig wirkungslos.

Das ist das eine. Das andere ist, dass die alten Klappen von Anfang an einen Konstruktionsfehler hatten: Sie schließen zu spät, um Rauch einzudämmen und moderne Elektronik zu schützen.

Fehler im System

Die alten Modelle werden in der Regel von einem Schmelzlot ausgelöst. Ein kleines Stück Messing, das – zwischen zwei Federn gespannt – die Klappe geöffnet hält. Bei einer Temperatur von 72 Grad schmilzt es, und die Klappe fällt zu.

Überspitzt gesagt: Das Atomkraftwerk muss erst brennen, damit die Brandschutzklappen schließen. Bis dahin zieht der für den Menschen hoch toxische Rauch ungehindert durch das Lüftungssystem. In einem Krankenhaus, einer Schule oder einem Flughafen wird diese Technik in der Regel nicht mehr eingesetzt.

Die Auswirkungen dieser Konstruktion sind heute potenziell noch gravierender als zu den Bauzeiten der AKW. Damals war die Technik eines Atomkraftwerks analog und relativ unempfindlich gegenüber ätzendem Rauch und Hitze. Moderne Computertechnologie mit Platinen und Prozessoren sind das nicht. Schwerer Rauch und ein Temperaturanstieg von 20 oder 30 Grad können einem Rechner schwer zusetzen.

Moderner Brandschutz muss also früher reagieren.

Das sieht offenbar auch ENSI so. Zum Fall Gösgen schrieb die Schweizer Behörde uns, dass „neuere Brandschutzklappen statt dem Schmelzlot eine thermoelektrische Auslösung besitzen“. Sie lassen sich aus der Ferne versperren und schließen automatisch bei Rauch.

Der Kraftwerksbetreiber, die Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG, speist uns im Fall 13 defekter Brandschutzklappen, die bei einer Kontrolle im Dezember 2016 auffielen, immer wieder mit Phrasen ab und informiert auf fragwürdige Weise.

So gingen Betreiber und Behörden mit dem Störfall um

15. Dezember 2016Das AKW Gösgen testet seine Brandschutzklappen. Wobei das Wort „Test“ relativ ist. Die Werksangestellten führen ihn laut Experten unter optimalen Bedingungen durch. „Das ist eine einzige Farce“, sagt auch Dietmar Krause im Berghaus zu uns. Bei einem echten Feuer sei das Material der Klappen durch Hitze und Druck einer ganz anderen Belastung ausgesetzt. „Wenn es wirklich brennt, werden die Klappen reihenweise ausfallen“, glaubt er.

Trotz idealer Bedingungen: 13 Klappen klappen nicht zu. Und was sagen das Kraftwerk und sein Aufseher ENSI zu den verpatzten Tests? Erst einmal nichts.

27. März 2017

Der Betreiber veröffentlicht eine Pressemitteilung: „Zur Verbesserung von Funktionsprüfungen der Brandschutzklappen wurde am 15.12. 2016 in einem nicht-nuklearen Teil der Anlage ein Versuch durchgeführt.“ Und weiter: „Bei einigen wenigen Klappen wurde jedoch die elektronische Rückmeldungsanzeige, die das Schließen der Klappe bestätigt, nicht ausgelöst.“

Das ist eine bemerkenswerte Formulierung. Wenn ein Auto nicht mehr bremst, kann man sagen: die Bremsen sind kaputt. Oder man kann sagen: die Bremslichter leuchten nicht. Man benennt lediglich das Symptom dafür, dass etwas kaputt ist. Für diese Variante hat sich der Betreiber von Gösgen entschieden.

4. Juni 2017

Es ist die Aufsichtsbehörde Ensi, die an diesem Tag mit einer Pressemitteilung öffentlich macht, dass bei dem Test im Dezember „nicht alle Klappen exakt die vorgesehene Endstellung“ erreichten.

Im Dezember 2017 teilt uns die Behörde auf Anfrage mit, dass 13 Klappen nicht richtig geschlossen hätten. Ensi hat da von dem Betreiber längst ein Konzept für den Ersatz derjenigen Klappen verlangt, die nicht dem Stand der Technik entsprechen. „Ersatz heisst neue Klappen“, macht die Behörde gegenüber CORRECTIV deutlich.

Deshalb reicht das Konzept, das der Betreiber Ende 2017 vorlegt, der Behörde nicht. Sie  verlangt bis September 2018 ein „Detailkonzept“, das Auskunft darüber gibt, ob, welche und wie die Brandschutzklappen ausgetauscht werden.

Eine Frage des Geldes

Beim Nuclear Phaseout Congress in Zürich vor zwei Jahren warnte ENSI-Direktor Hans Wanner, dass die Sicherheit in einem AKW nicht mehr allein von technischen Fragen bestimmt werde. Weil die Unternehmen kaum mehr Geld mit Strom verdienten, stünden immer mehr die politischen und wirtschaftlichen Überlegungen im Vordergrund: „Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass die Betreiber der KKW zukünftig nur noch soviel in ihre Anlagen investieren, wie unbedingt nötig ist.“

Die Frage ist, ob sie überhaupt soviel tun.

Forderungen von ENSI, die teure Nachrüstungen nach sich ziehen, könnten das Aus für ein KKW bedeuten, sagte Wanner. Denn Kernkraftwerks-Komponenten wie der Reaktordruck- oder auch der Sicherheitsbehälter lassen sich nicht so einfach erneuern. Für die Brandschutzklappen, die bei der Prüfung im Dezember 2016 auffielen, gäbe es gar keine Ersatzteile mehr, sagt Dietmar Krause bei unserem Treffen in dem Berggasthof.

Ein Großteil der Brandschutzklappen ist zudem in meterdicke Betonwände eingebaut. Die Wand müsste aufgebohrt, zum Teil sogar der Reaktor heruntergefahren werden. Die Kosten wären immens. Und wer will schon teuer nachrüsten, wenn das Ende der Industrie absehbar ist?

Spiel auf Zeit

Der Betreiber sagt, die Brandschutzklappen aus den 70er-Jahren würden laufend getestet und gewartet. Man habe zudem noch ganze Klappen als Ersatz auf Lager. Außerdem hat der Betreiber in den vergangenen zehn Jahren zwei Mal die Brandmeldeanlagen modernisiert.

Allerdings: an den überalterten Brandschutzklappen im AKW Gösgen hat sich bis heute nichts geändert – und wird es so schnell auch nicht.

ENSI prüft jetzt erst einmal das jüngste Konzept der Gösgen-Betreiber zum Ersatz. Auf eventuelle Einwände der Aufseher kann das Unternehmen noch einmal eine Erwiderung schreiben. Frühestens 2019 könnten Reparaturen – sofern sie überhaupt möglich sind – also beginnen.

Der Ausstieg in der Schweiz trägt kein genaues Datum. Und die Betreiber, so wirkt es, spielen auf Zeit.

Auch ein deutsches Problem

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Luftaufnahme des deutschen Atommeilers Brokdorf: Lediglich 10 von 600 Brandschutzklappen wurden laut Ministerium in dem Werk ausgetauscht und erneuert.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage AFP )

Deutschland hat ein Datum für den Atomausstieg – und noch sieben AKW am Netz, deren Bau in den Jahren zwischen 1972 und 1986 begann. Sie müssen bis 2022 vom Netz sein. Ihre Aufsicht obliegt dem jeweiligen Bundesland.

Vor drei Monaten begannen wir, die vier zuständigen Umweltministerien in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein anzuschreiben. Wie funktionieren die Brandschutzklappen in diesen AKW? Wurden sie jemals ausgetauscht und erneuert?

Ein genaues Bild vom Zustand der Brandschutzklappen in deutschen Atomkraftwerken, so viel zeigt unsere Recherche, ist schwer zu bekommen. Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) stellte in seinem Jahresbericht 2016 eine „deutliche Steigerung“ von Störfällen fest, die bei Systemen auftraten, „zu denen vor allem die Brandschutzeinrichtungen und Feuerlöschsysteme zählen“. 2016 entfiel jede fünfte Meldung auf diese Kategorie Das BfE führt das besonders auf „Ereignisse“ zurück, die aus dem stillgelegten Reaktor Biblis gemeldet wurden. 2017 war es noch jeder sechste Störfall.

„Falls es einmal zu einem Brand kommt, muss jede Brandschutzklappe funktionieren“, sagt Christoph Pistner, Mitglied in der für Reaktorsicherheitskommission des Bundesumweltministeriums. „Nicht eine einzige sollte ausfallen, denn dann springt der Brand über.“

Und es gibt Indizien, dass auch in deutschen AKW die Brandschutzklappen nicht immer funktionieren. So schloss im Mai im AKW Neckarwestheim bei einem Test eine Brandschutzklappe nicht, wie das Umweltministerium des Landes in einer Störfallmeldung mitteilte.

Das Ministerium sagt, dass die Klappen einmal im Jahr geprüft werden. Auch die Betreiber der deutschen AKW betonen immer wieder, dass Sicherheit bei ihnen an erster Stelle steht – Atomausstieg hin oder her. EnBW, der Betreiber von Neckarwestheim, antwortete gegenüber CORRECTIV ausführlich auf Fragen nach den Brandschutzklappen. Und wies daraufhin, dass die ursprünglich eingebauten Klappen Bestandsschutz haben.

Doch die zuständigen Ministerien lieferten auf unsere Nachfragen zu Zustand und Alter der Brandschutzklappen in Deutschland nur spärliche Informationen: Insgesamt sind über 5.500 Brandschutzklappen in deutschen AKW verbaut. Demnach seien 46 davon seit Betriebsbeginn ausgetauscht worden. Der Betreiber EnBW teilt mit, in seinen zwei AKW seien bisher 36 Klappen ausgetauscht worden.

Die Antworten der Länder im Detail

Wie veraltet deutsche Anlagen tatsächlich sind, wird am Beispiel Brokdorf deutlich. Das AKW liegt an der Elbe, 70 Kilometer von der Millionenstadt Hamburg entfernt. Nach zehn Jahren Bauzeit ging es 1986 ans Netz. Es hat 600 Brandschutzklappen. Davon wurden nach Angaben des schleswig-holsteinischen Umweltministeriums in den vergangenen 15 Jahren nur zehn ausgetauscht. Und: ebenfalls nur 10 der 600 Klappen reagieren auf Rauch. Die übrigen schließen im Brandfall erst bei 72 Grad über ein Schmelzlot.

Neben Brokdorf bekamen wir noch eine detaillierte Antwort zu Neckarwestheim in Baden-Württemberg. Von den 723 Brandschutzklappen im Reaktorblock Neckarwestheim 2 wurden bisher sechs ausgetauscht – zuletzt im Jahr 2000. Bei dem zweiten AKW in Baden-Württemberg Philippsburg 2 sei von ähnlichen Werten auszugehen, so das Umweltministerium des Landes.

Das bayerische Landesumweltministerium teilte trotz mehrerer Nachfragen nur mit: „Detaillierte Angaben zu den Brandschutzklappen sind aufgrund ihrer hohen Anzahl nicht möglich.“ Und weiter: „Die Brandschutzklappen in den Kernkraftwerken Isar 2 und Gundremmingen Block C sind ein Teil der umfassenden Brandschutzkonzepte in den beiden Anlagen entsprechend dem gültigen kerntechnischen Regelwerk.“

Für die übrigen Atomkraftwerke in Deutschland erhielten wir keine Antworten, die Aufschluss über den Zustand der Brandschutzklappen geben könnten.

Das kann dreierlei bedeuten: Erstens, dass 99 Prozent der Brandschutzklappen in deutschen Atomkraftwerken zwischen 30 und 40 Jahre alt sind und aufgrund der veralteten Technik erst schließen, wenn es schon brennt.

Zweitens, dass die Umweltministerien als zuständige Aufsichtsbehörden es nicht immer mitbekommen, wenn Klappen ausgetauscht werden.

Drittens, dass sie Informationen gezielt zurückhalten. Doch warum sollten sie das tun? Wir fragten lediglich nach dem Alter der Brandschutzklappen. Nicht etwa nach Bauplänen, die für einen terroristischen Anschlag interessant wären.

Das Atomgesetz schreibt vor, dass die sicherheitsrelevanten Bereiche eines AKW auf dem Stand von Wissenschaft und Technik sein müssen, also auf höchstem Stand der derzeitigen technischen Entwicklung. Brandschutzexperte Dietrich sagt, dass Brandschutzklappen, die 30 oder 40 Jahre alt sind oder ausschließlich über ein Schmelzlot ausgelöst werden, in keiner Weise diesem Anspruch gerecht werden.

Atomgesetz § 7d

§ 7d Weitere Vorsorge gegen Risiken
Der Inhaber einer Genehmigung zum Betrieb einer Anlage zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität hat entsprechend dem fortschreitenden Stand von Wissenschaft und Technik dafür zu sorgen, dass die Sicherheitsvorkehrungen verwirklicht werden, die jeweils entwickelt, geeignet und angemessen sind, um zusätzlich zu den Anforderungen des § 7 Absatz 2 Nummer 3 einen nicht nur geringfügigen Beitrag zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit zu leisten.

 

Bereits für Gebäude wie Flughäfen, Schulen, größere Graststätten oder Einkaufshäuser rät die Bundesbauministerkonferenz zu „zusätzlichen Rauchauslöseeinrichtungen für Brandschutzklappen zur Verhinderung der Rauchübertragung“. Für Atomkraftwerke sollten noch höhere Ansprüche gelten.

Richtlinie über brandschutztechnische Anforderungen
6.4.4 Lüftungsleitungen in Lüftungszentralen
Lüftungsleitungen in Lüftungszentralen müssen

  1. aus Stahlblech (nicht mit brennbaren Dämmschichten) hergestellt sein,
  2. der Feuerwiderstandsfähigkeit der Decken und Wände der     Lüftungszentrale zu anderen Räumen entsprechen
  3. am Ein- und Austritt der Lüftungszentrale (ausgenommen Fortluft- oder     Außenluftleitungen, die unmittelbar ins Freie führen) Brandschutzklappen mit einer Feuerwiderstandsfähigkeit     entsprechend Abschnitt 6.4.2 Satz 1 haben; die Brandschutzklappen     müssen mit Rauchauslöseeinrichtungen ausgestattet sein.

und

10 Anforderungen an Lüftungsanlagen in Sonderbauten
Die Anforderungen der vorstehenden Abschnitte 3 bis 9 entsprechen in der Regel den brandschutztechnischen Erfordernissen für Lüftungsanlagen in Sonderbauten.
Bei gesondert gelagerten Einzelfällen ist für Sonderbauten zu prüfen, ob zusätzliche oder andere brandschutz- technische Maßnahmen notwendig werden, z. B. zusätzliche Rauchauslöseeinrichtungen für Brandschutzklappen zur Verhinderung der Rauchübertragung. Die Anordnung der Rauchauslöseeinrichtungen darf deren Wirksamkeit durch Verdünnungseffekte nicht beeinträchtigen.

 

Wie kann es dann sein, dass deutsche Meiler entweder mit einem extrem hohen Anteil veralteter Klappen weiterlaufen oder die Aufsichtsbehörden darüber nicht Bescheid wissen?

Einen ersten Anhaltspunkt liefert die Richtlinie des KTA zum Brandschutz in AKW in Deutschland. Sie schreibt nicht explizit vor, wie Brandschutzklappen getestet werden sollen. Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) sagt dazu, dass es keine einheitliche Bundesvorgabe gebe.

Dass verschlissene Klappen bei hohen Brandtemperaturen etwa herausgedrückt werden könnten, würde bei den gängigen Brandschutz-Prüfungen nicht auffallen, da sie immer unter optimalen und unrealistischen, teils verfälschenden Bedingungen abliefen – das bestätigt die interne Studie von Bundesumweltministerium und Bundesumweltamt.

Der Befund entspricht dem, was Whistleblower Dietmar Krause über die Tests im Schweizer AKW Gösgen berichtete.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Industrie direkt Einfluss auf Sicherheitsvorschriften nehmen kann, lohnt sich zudem der Blick nach Frankreich. Recherchen von CORRECTIV zeigen, wie die dortigen Betreiber und Behörden zusammenarbeiten. Wie die Aufseher zulassen, dass ein Betreiber die Vorgaben, die ihn regulieren, mitbestimmt – und seine veralteten Systeme so länger verwenden kann. Ganz legal.

Dieser Teil der Geschichte beginnt auf einer verregneten Brücke in Toulouse. Dort treffen wir Nozomi.

Der Kampf gegen Frankreichs Atomgiganten

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Frankreich ist ein atomgläubiges Land und der nationale Stromgigant EDF nahezu allmächtig. Wir warten auf unseren zweiten Informanten auf einer verrengneten Brücke in Toulouse.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage AFP & unsplash.com )

Nozomi ist ein Pseudonym. Ein Deckname für einen Whistleblower, so wie Deep Throat in der Watergate-Affäre. Nur spielt Nozomi nicht auf Sexpraktiken oder Pornofilme an, sondern auf Fukushima.

Frankreich ist ein atomgläubiges Land. Der staatseigene Stromgigant Electricité de France, kurz EDF, ist der weltweit führende Lieferant von Atomstrom. 58 Kernkraftwerke betreibt er in Frankreich und deckt mehr als 72 Prozent des landesweiten Stromverbrauchs.

Der beliebteste Minister im Kabinett des neuen Präsidenten Emmanuel Macron, Nicolas Hulot, ist im August zurückgetreten. Auch, weil er über das französische Atomprogramm sagte, es sei eine „unnütze wirtschaftliche und technische Verrücktheit, auf die man sich starrköpfig eingeschossen habe“.

Unerschütterlicher Glaube

Doch insgesamt haben auch Unfälle wie Tschernobyl oder Fukushima den Glauben der französischen Politik an die Atomenergie nicht wesentlich erschüttert.

Den von Nozomi schon. Aus Solidarität mit den Opfern von Fukushima hat er sich einen japanischen Decknamen gegeben. Nozomi bedeutet „Hoffnung“. Hoffnung im Angesicht einer allmächtigen Industrie, sagt er. Wenn man seiner Geschichte zuhört, gibt es dafür eigentlich wenig Grund. Außer, dass sie zuletzt stirbt.

Nach der Fukushima-Katastrophe wurden Atomkraftwerke europaweit Stresstests unterzogen. Die französischen Ergebnisse fielen miserabel aus. Dazu kamen immer wieder Skandale um schlechten Stahl im Hochsicherheitsbereich, unsichere Reaktordruckbehälter und rostige Kühlleitungen in 29 der 58 Kernreaktoren des Landes.

EDF baut derzeit im nordfranzösischen Flamanville und in Finnland AKW einer neuen Generation, die so genannten Europäischen Druckwasserreaktoren (EPR). Sie sollen der Atomenergie noch einmal neues Leben einhauchen. Es ist fraglich, ob das funktioniert. Auf beiden Baustellen ist kein Ende in Sicht, die Kosten liegen ein Vielfaches über den ursprünglichen Planungen. Der Finanzvorstand von EDF trat 2016 aus Protest zurück, als der Konzern den Bau eines ähnlichen Reaktors in Großbritannien beschloss.

Doch EDF hat im vergangenen Jahrzehnt jeden Skandal ausgesessen. Und strebt eine Verlängerung seiner Reaktor-Laufzeiten auf bis zu 60 Jahre an.

Der mächtigste Gegenspieler

Jeder Held ist immer nur so gut wie sein Gegenspieler. Nozomi hat sich den mächtigsten ausgesucht.

Wir sind mit dem Mann, der sich Hoffnung nennt, an einem Tag im Mai auf einer Brücke in Toulouse verabredet. Die Regenschauer bilden dichte Vorhänge. Wir warten. Nomozi kommt zu spät. Dann eine kurze Nachricht mit unterdrückter Nummer. 20 Minuten später fährt Nozomi mit seinem Kleinwagen vor. Wir fahren über die regengefluteten Straßen zu einem Café am Rand der Stadt.

„Mit 18 Jahren war ich noch stolz, bei EDF als Elektriker ausgebildet zu werden“, sagt Nozomi dort bei einem Espresso. EDF-Angestellte, sagt er, waren schließlich Beamte, und der Konzern war mehr als beliebt. Heute steht er kurz vor der Rente.

Unbeachtet

Nozomi – braunes, lockiges Haar, Nickelbrille und eher schmächtig – wirkt ganz anders als der Schweizer Krause. Der Mann, der sich nach der Hoffnung benennt, hat seine Angst mit der Zeit in eine Mission verwandelt. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Nozomi unter seinem Pseudonym das Buch „La farce cachée du nucléaire“ („Die versteckte Tragödie der Atomkraft“), in dem er Interna aus seiner Kraftwerks-Karriere teilte.

Er wollte den Franzosen die Augen öffnen. Beachtet hat das Buch, herausgegeben von einer kleinen Vereinigung von Atomkritikern, niemand.

„Aufgewacht bin ich mit der Katastrophe von Tschernobyl“, sagt Nozomi über den Beginn seines Feldzugs. „Ich sah damals im Fernsehen die Liquidatoren“. Er habe sofort gewusst, dass keiner die Aufräumarbeiten auf dem Dach des explodierten Meilers überleben konnte. Trotzdem blieb die Zahl der Toten von Tschernobyl offiziell bei 32 stehen.

Stoppschilder auf der Wetterkarte

Am Abend des Unglücks zeigten die Hauptnachrichten im französischen Fernsehen dann eine Wetterkarte, erinnert sich Nozomi. Ein Hochdruckgebiet hielt angeblich die Wolke von Tschernobyl an der Landesgrenze auf. „Auf der Wetterkarte waren sogar Stoppschilder eingezeichnet“, sagt Nozomi und schnauft kopfschüttelnd ein Lachen heraus. Was für ein Unfug.

Dokumente, die CORRECTIV vorliegen, belegen, wie systematisch EDF verschleiert, dass Teile seiner Kraftwerke die zulässigen Belastungsgrenzen überschritten haben. Laut Nozomi ging es darum, gezielt Kosten zu vermeiden und das Image von EDF nach außen hin zu wahren. Auf Anfrage sagt EDF, dass man gegen keinerlei Gesetze verstoßen habe. Die Überschreitung von Belastungssituationen habe zu keinerlei Reparaturen oder dem Austausch von Bauteilen geführt.

Seit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 wurden Vorkommnisse in französischen Meilern immer stärker verschwiegen, sagt Nozomi. Außerdem seien die Mitarbeiter unter Druck gesetzt worden, keinen Ärger zu machen.

„Ruhe im Kommandoraum“

„Jeder, der eine Fehlfunktion, ein leckendes Rohr oder erhöhte Messwerte meldete, wurde danach geächtet“, sagt Nozomi. „Eine Beförderung konnte man danach vergessen. Außerdem wurde man dazu verdonnert, den Schaden, den man gemeldet hatte, allein und über Wochen zu beheben. Auch wenn das eigentlich unmöglich war.“

Kollegen durften sich nicht mehr austauschen. Wo sich früher noch Techniker verschiedener Aufgabengebiete in der Kommandozentrale trafen, wurde ihnen nach dem Gau von Tschernobyl der Zutritt verwehrt. „Sérénité dans la salle de commando“ (Ruhe im Kommandoraum), hieß laut Nozomi eine offizielle Richtlinie der Werksleitung. „Jeder weiß seitdem nur noch über seinen eigenen kleinen Bereich Bescheid“, sagt Nozomi. Damit können Vorfälle besser vertuscht werden. „Aber auch viele Missverständnisse sind die Folge. Wenn etwas richtig Schlimmes passiert, sind wir aufgeschmissen.“

Als Nozomi seiner Kraftwerksleitung unangenehm auffiel, weil er sich kritisch über die Zustände in seinem AKW äußerte, nahmen sie ihn aus dem laufenden Betrieb und verdammten ihn zur Aktenarbeit, sagt er.

Die internen Dokumente belegen: Bereits vor fünf Jahren hatten 21 der insgesamt 58 Reaktoren die Grenzwerte für bestimmte Bauteile überschritten. Und die Liste der altersschwachen Meiler wird stetig länger. Im Schnitt gingen sie vor 33 Jahren ans Netz.

Reaktoren mit überschrittenen Grenzwerten
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Die Gutachter des Pariser Ingenieurbüros Wise haben die internen Akten des Atomgiganten EDF für uns ausgewertet.

 

EDF plant, seine AKW noch einmal so lange laufen zu lassen.

Eine solche Planung ist nur begreiflich, wenn man versteht, wie Belastungsgrenzen in Frankreich zustande kommen.

Alle Bauteile eines Kraftwerks, wie zum Beispiel Rohre oder Kabel, haben Belastungsgrenzen. Das heißt, sie dürfen während ihrer Nutzungsdauer nur einer bestimmten Anzahl an Belastungen wie Temperaturschwankungen, Druck oder Strahlung ausgesetzt werden. Die Grenzen wurden vor langer Zeit festgelegt, als die ersten Atomkraftwerke gebaut wurden. Die Werte beruhen auf Schätzungen, wie lange die verbauten Teile durchhalten.

Wenn der Grenzwert erreicht ist, muss EDF dies der französischen Atomaufsicht „Autorité de sûreté nucléaire“ (ASN) melden. Die Überalterung wird damit als „ein sicherheitsrelevantes Ereignis“ aktenkundig. Doch um das zu vermeiden, verschiebt EDF die Grenzwerte, wie die Dokumente zeigen.

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Das AKW Belleville 1 ging 1987 ans Netz. Laufen soll es noch bis 2027. Dabei ranken sich schon jetzt genug Skandale um den Meiler – wie unsere Dokumente belegen.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage AFP )

Zum Beispiel im Atomkraftwerk Belleville, das 1988 ans Netz ging und zwei Autostunden südlich von Paris liegt. Die internen Dokumente, aus denen wir hier zitieren, stammen von 2007. EDF begann also bereits bei einem 20 Jahre alten Meiler, die Grenzwerte zu überschreiten. Angestrebt wird für Belleville 1 derzeit eine doppelt so lange Laufzeit. Bis mindestens 2027.

So hat EDF die Grenzwerte für Belleville 1 verschoben

„In Erwartung der Revision des Dossiers über die Belastungssituationen, das gerade neu evaluiert wird, um die Erhöhung der zulässigen Belastungssituationen zu bestätigen, ist es nun notwendig, ein Dossier über die Unschädlichkeit für die Überschreitung der Grenzwerte für die Situation 12C und 12D zu verfassen“

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Dieser Screenshot und der nachfolgende stammt aus dem Protokoll einer EDF-Sitzung vom Juni 2007, service ingenieries et projet

Der Grenzwert 12C gilt für den Primärkreislauf des AKW Belleville. Im Primärkreislauf befinden sich die Brennstäbe des AKW. Das Wasser dieses Kreislaufs ist deswegen radioaktiv verseucht. Die Einhaltung der Grenzwerte ist hier also besonders wichtig.

Der Grenzwert 12C beschreibt eine rasche Temperaturschwankung von bis zu 30 Grad. Diese Schwankungen sind besonders belastend für die Rohre, in denen das radioaktive Wasser fließt. Für 12C ist eine maximale Grenze von 100 Belastungen vorgeschrieben. Bei 97 Vorfällen dieser Art, also als der Grenzwert fast erreicht ist, wird EDF laut den Unterlagen aktiv.

An dieser Stelle wird es kompliziert: In einem ersten Schritt spaltet der Konzern den Grenzwert in zwei Kategorien, eine für Schwankungen bis zu 15 Grad und eine für Schwankungen von 16 bis 30 Grad. Temperaturschwankungen von bis 15 Grad werden nur noch zur Hälfte gezählt. Damit sinkt der Belastungswert auf einen Schlag von 97 auf 75,5.

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Während EDF noch auf eine Lockerung der Grenzwerte spekuliert, verändert das Unternehmen also schon jetzt die Berechnungsgrundlage. So gewinnt es Zeit.

Im zweiten Schritt setzt der Konzern bei der Aufsichtsbehörde durch, die vorgeschriebene Gesamtzahl für das Belastungsmoment 12C zu erhöhen.

Im Jahr 2014, sieben Jahre nach der wundersamen Senkung der Grenzwertüberschreitungen, treffen sich EDF und die Aufsichtsbehörde ASN erneut zu einer Sitzung. Das Sitzungsprotokoll trägt den Titel:

“Reunion ASN-EDF sur les DDS et la comptabilisation des situations du 10.12.2014“ – ASN-EDF-Sitzung zur DDS und Zählweise der Belastungssituationen vom 10.12.2014 (DDS/dossiers des situations = Belastungssituationen)

Aus dem Protokoll geht hervor, dass der Grenzwert für die Belastungssituation 12C inzwischen offiziell angehoben wurde. Wörtlich:

„Für die Belastungssituationen 12C und 12D: Die neue Grundlage erhöht den Grenzwert dieser Belastungssituationen von 100 auf 200, dies sollte die Berechnung über die 4. Sicherheitsüberprüfung (nach 40 Jahren) hinaus abdecken.“

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Aus dem Originaldokument von 2014 geht hervor, wie EDF Politik macht.

 

Die Rohre im Primärkreislauf des AKW Belleville sind immer noch die gleichen – aber eine vormals als zu hoch eingestufte Belastung ist nun legalisiert. Das AKW kann länger am Netz bleiben.

Ein ganz ähnliches Vorgehen findet sich in den Unterlagen zum AKW Saint Alban in der Nähe von Lyon.

2015 führt EDF detailliert in einer Tabelle auf, wie alle AKW offiziell innerhalb der Grenzwerte gehalten werden können – entweder mit einer Anhebung der Grenzwerte oder durch die Einführung einer neuen Berechnungskategorie. Wenn sich zum Beispiel in einer Kategorie 99 der Grenzwert nähert – dann gibt es fortan 99a und 99b. Und wieder ist Zeit gewonnen.

EDF sagt dazu: man habe die Unterkategorien nur geschaffen, um die Ermüdung von Material genauer einzelnen Bauteilen zuschreiben zu können. Und so könne man es vermeiden, ungünstig festgelegte Grenzwerte aus der Konzeptionsphase der AKWs zu verwenden.

Das Pariser Gutachterbüro Wise hat für CORRECTIV und unseren Recherchepartner „Mediapart“ die internen Unterlagen von EDF ausgewertet. Es kommt zu dem Schluss: „Für keinen der Bauteile mit überschrittenen Grenzwerten hat EDF vorgesehen, es zu ersetzen oder zu reparieren. Stattdessen werden in mehreren Fällen die Grenzwerte mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde erhöht, oder es werden neue Kategorien geschaffen, um die Bilanz der alten Kategorien zu entlasten.“

Die Aufsichtsbehörde ASN bestätigt dieses Vorgehen unumwunden. Um überschrittene Grenzwerte zu rechtfertigen, müsse EDF in einer Studie zeigen, welche Folgen die zusätzliche Belastung für die sensiblen Zonen des AKW haben kann. Und weiter: „ASN hat sich bis heute noch keiner Erhöhung der Grenzwerte widersetzt.“

Zudem gibt ASN an, von keiner Reparatur oder einem Ersatz der Bauteile im AKW zu wissen, die an ihre Grenzen stoßen. Über die Dokumente, die auflisten, wie häufig die Belastungssituationen in 2017 überschritten oder nahezu erreicht wurden, verfüge die Aufsichtsbehörde nicht: „EDF ist nicht verpflichtet, sie uns zu übermitteln.“

Nozomi, der nicht beachtete Zweifler, arbeitete bis zu seiner Strafversetzung in einem Techniker-Team von zwölf Personen. Ihr Einsatzort: le circuit – der Primärkreislauf. Er überprüfte Pumpen, sobald sie anfingen zu vibrieren, reinigte Maschinenteile von Öl. Anfangs, sagt Nozomi, wurden die Maschinen präventiv auseinander genommen. Ab der Jahrtausendwende ging es nur noch darum, die Maschinen bei einem Schaden wieder ans Laufen zu kriegen.

Nozomi kommt zu dem gleichen Schluss wie der Schweizer Whistleblower Dietmar Krause: „Täglich passieren Dutzende Missgeschicke und Fehler. Wir können diese Technik nicht beherrschen.“

Am 2. Juni 2009 hielt die EDF eine Sitzung mit dem Titel „Schwere Unfälle — Sicherheit bei der Konzeption“ (acidents graves — sûrete à la conception) ab. Im Protokoll steht ein bemerkenswerter Satz: „Schwere Unfälle wurden beim Bau der heute laufenden Atomkraftwerke nicht berücksichtigt.“

Aus dem EDF-Originaldokument
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Aus dem Protokoll einer EDF-Sitzung unter dem Titel „Schwere Unfälle – Sicherheit bei der Konzeption“ (acidents graves — sûrete à la conception) vom 2. Juni 2009

 

Das Undenkbare – ein schwerer Unfall – wurde gar nicht erst gedacht. Seit Tschernobyl weiß man, dass das Undenkbare eintreten kann. Zwei Jahre nach dieser Sitzung ist es in Fukushima wieder eingetreten.

Vertrauen vor Kontrolle

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Prüfungen und Sicherheitskontrollen werden in erster Linie von den Betreibern durchgeführt. Das kann ein Problem sein.

Ivo Mayr/CORRECTIV ( Vorlage AFP )

Die Debatte um die Kernenergie, heißt es immer wieder von ihren Befürwortern, werde von irrationalen Ängsten bestimmt, sei ideologisch verblendet. Aussagen wie diejenige des größten französischen AKW-Betreibers zeigen: es sind die Betreiber, die mögliche Szenarien schlicht ausgeblendet haben.

Auf diese Betreiber verlassen die französischen Aufsichtsbehörden sich quasi blind.

Und in Deutschland?

Baut man ebenfalls auf die Gewissenhaftigkeit der Atomindustrie.

„Der Betreiber ist für die Sicherheit seiner Anlagen verantwortlich“, sagt Christoph Pistner, Mitglied in der Reaktor-Sicherheitskommission des Bundesumweltministeriums. „Das ist die grundsätzliche Philosophie aller Atompolitik.“

Die grundsätzliche Philosophie des Rechtsstaats sieht allerdings auch vor, dass der Staat die Einhaltung seiner Gesetze überwacht. Dass er seiner Kontrollpflicht genügend nachkommt, ist in Deutschland fraglich.

Ebenso wie in der Schweiz führt der hiesige Betreiber eines AKW die Sicherheitsprüfungen selbst durch. Die Aufsichtsbehörde prüft lediglich die Berichte, die er ihr liefert. Der Betreiber muss dann die gemeldeten Mängel und Störfälle beheben. „Bis komplizierte Probleme behoben sind, kann es aber auch Jahre dauern“, sagt Pistner.

Das Bundesumweltministerium bestreitet, dass die Aufsicht nur auf dem Papier stattfindet und verweist auf eine „hohe Präsenz der Aufsichtsbehörden und Sachverständigen in den Anlagen“.

Ein Beispiel, das daran Zweifel aufkommen lässt: Im Abschlussbericht der periodischen Sicherheitsüberprüfung für das AKW Brokdorf ist von dieser Präsenz nichts zu bemerken. Er bezieht sich lediglich auf Dokumente, die der Betreiber lieferte.

Auszug aus dem Abschlussbericht: Weder Betreiber noch Behörde sehen Verbesserungsbedarf im AKW Brokdorf

Liest man das Fazit des Prüfberichts für Brokdorf (KBR), das 32-jährige AKW an der Elbe mit den Schmelzlot-Brandschutzklappen, käme man nicht auf den Gedanken, dass darin eine längst überholte Technologie verbaut ist.

„Im Ergebnis ihrer Analysen und Bewertungen leitet die Betreiberin keine Maßnahmen zur weiteren Optimierung der Anlagensicherheit ab“, schreibt das zuständige Ministerium in Schleswig-Holstein. Mit Betreiberin ist die Betreibergesellschaft PreussenElektra gemeint. Die Tochtergesellschaft von Eon ist neben Brokdorf auch verantwortlich für die AKWs Isar und Grohnde.

Das Ministerium hat daran nichts auszusetzen: „Hinweise auf sicherheitstechnische Mängel mit unmittelbarem Handlungsbedarf sind danach aus der Sicherheitsüberprüfung nicht ableitbar“, heißt es im Abschlussbericht 2006 des Ministeriums weiter.

Die Aufsichtsbehörde veröffentlichte ihn im Dezember 2010. Der Bericht zur jüngsten Überprüfung von 2016 wird nicht vor Ende 2020 erwartet. Und da hätte – einmal angenommen, die Betreiberin kommt darin selbst zu dem Schluss, dass sie in ihre Sicherheit investieren muss –, ein formales Hin und Her wie beim Schweizer AKW Gösgen noch gar nicht begonnen.

Auf unsere 28 Fragen zu Brandschutzklappen und Altersmüdigkeit antwortete PreussenElektra: „Unsere Kernkraftwerke verfügen über große Sicherheitsreserven. Diese gehen über die in Gesetzen, Genehmigungen und Regelwerken festgelegten Mindestanforderungen weit hinaus.“

 

Und wie in Frankreich werden auch hierzulande die einmal festgelegten Belastungsgrenzen für AKW während ihrer Laufzeit gelockert. Alle zuständigen Landesumweltministerien beschreiben diesen Vorgang als völlig normal und selbstverständlich.

„Im Zuge der Weiterentwicklung des Alterungsmanagements wurde festgestellt, dass die damals von der Kraftwerk Union spezifizierten Grenzwerte für Lastfälle konservativ waren“, schreibt zum Beispiel das Landesumweltministerium in Baden-Württemberg.

Zur Erinnerung: festgestellt werden die angeblich konservativen Werte von den Betreibern selbst. Nur sie messen die Belastungen ihrer Kraftwerke und werten diese eigenverantwortlich aus. Das zuständige Ministerium segnet dann nur noch ab. Die Verfahren der Atomnation Frankreich und des Aussteigers Deutschland unterscheiden sich an dieser Stelle kaum.

„Den politischen Entscheidungsträgern ist meist nicht klar, dass Grenzwerte je nach Berechnungsmethode einen ganz unterschiedlichen Schutz bieten“, sagt Wolfgang Renneberg. Der Physiker und Volljurist leitete elf Jahre lang die Abteilung Reaktorsicherheit und Strahlenschutz des Bundesumweltministeriums. „Häufig werden die Lösungen gewählt, die für den Betreiber wirtschaftlich sind — aber nicht diejenigen, die sicherheitstechnisch nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich wären.“

Keine Antworten

Keines der vier Landesumweltministerien ging auf mehrfache konkrete Nachfragen zu den Grenzwerten im Primärkreislauf der Reaktorblöcke – die in den französischen Atomkraftwerken geändert wurden – ein.

Auch die Belastungskataloge der einzelnen Atomkraftwerke halten die Ministerien unter Verschluss. Anhand dieser Kataloge ließe sich analog zu den Unterlagen aus Frankreich nachvollziehen, wie sehr die Grenzwerte im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ausgeweitet wurden.

„Von der Vorlage entsprechender Unterlagen im Rahmen einer Presseanfrage sehen wir ab“, schrieb uns etwa das niedersächsische Umweltministerium. Dabei, so sagt der ehemalige Ministerialdirektor der Atomaufsichtsbehörde, Dieter Majer, wäre es für die Behörden ein Leichtes gewesen, uns die Papiere zukommen zu lassen. Sie erhalten monatlich und jährlich die entsprechenden Dokumente von den Betreibern.

Warum haben sie es nicht getan? Der Gedanke liegt nahe, dass auch die Aufseher wenig Interesse an öffentlichem Druck auf die Betreiber haben. Denn dann müssten sie Nachrüstungen einfordern, die die heute betriebenen AKW auf den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik brächten – und sich auf massiven Widerstand der Betreiber einstellen. „Entsprechende Forderungen würden mit Sicherheit vor den Verwaltungsgerichten und Verfassungsgerichten landen“, so Majer.

Grund genug hätten die AKW-Betreiber aus Sicht des ehemaligen Ministerialdirektors: „Die Nachrüstungen kämen oft einem Neubau mit entsprechenden Kosten gleich.“ Ein Neubau vier Jahre vor dem Ausstieg: So eine Option ist keine Option. Unsicher auslaufen lassen dagegen schon.

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Update vom 13. September 2018: Das Landesumweltministerium Baden-Württemberg hat uns nach Redaktionsschluss noch Angaben zu den Brandschutzklappen in den AKW des Bundesland gemacht. Die Zahl der bisher ausgetauschten Klappen steigt dadurch von 20 auf 46.

Update vom 14. September 2018: Wir haben deutlich gemacht, dass die Schweizer Aufsichtsbehörde unsere erste Anfrage im Dezember 2017 nicht erst nach mehreren Monaten beantwortete, wie es ursprünglich hieß. Wir haben zudem verdeutlicht, dass es beim Brandschutz vor allem in deutschen AKW immer wieder zu Vorfällen kam. Außerdem haben wir klar gemacht, dass die Schweiz bis 2050 ihr Energiesystem auf erneuerbare Energien umstellen will, während der Atomausstieg kein konkretes Datum hat.

Mitarbeit: Simon Wörpel, Marta Orosz, Marcus Bensmann, Elisa Harlan. Redaktion: Ruth Fend