Missbrauch in der katholischen Kirche: Fall in Bayern zeigt Mittäterschaft der Bischöfe

Das unsichtbare Kind

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unsichtbare
Kind

Sexueller Missbrauch in der Kirche: Unter den Augen eines Bischofs missbrauchte der Priester Peter H. jahrelang einen Jungen. Erstmals berichtet das Opfer in einer gemeinsamen Recherche von CORRECTIV und BR. So klar wie in Bayern war die Verantwortung der Vorgesetzten bis hinauf zum späteren Papst Benedikt noch nie sichtbar.

grimme online award nominiert
von Marcus Bensmann, Gabriela Keller,
Antje Dechert und Justus von Daniels

12. Januar 2022

Früh am Morgen kam der Junge aus dem Haus des Pfarrers, wie so oft, es war ein Sonntag gegen halb sieben, längst hell, Stefan schlich aus der Tür, lief über den noch leeren Kirchplatz, und da stand es, das Böse: In blauer und gelber Farbe auf die Mauer und den Asphalt gesprüht, für alle sichtbar, nur wenige Stunden, bevor das Pfarrfest begann, zwei Namen, Stefans und der des Pfarrers, ein Ist-gleich-Zeichen, das Wort „schwul“, Fragezeichen.

Stefan erschrak, dann packte ihn die Wut, und der Junge tat, was er auch sonst immer tat, wenn der Pfarrer mit ihm fertig war: Er verschwand.

Es muss der 24. Juli 1994 gewesen sein, so jedenfalls erinnern sich die meisten im Dorf, vor der St.-Nikolaus-Kirche. Dort sollten an dem Tag wie in einem Kammerspiel alle die zusammenkommen, die in diesem schweren Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche eine Rolle spielen: Der Junge und der Pfarrer. Der Bischof, der den Täter deckte. Ein Pfarrgemeinderat als gutgläubiger Helfer. Und eine Gemeinde, die wegsah.

Die Ersten kamen bei Anbruch des Tages zum Festplatz in Garching an der Alz, 8.700 Einwohner, Landkreis Altötting, katholisches Herzland, Oberbayern.

Es gab ja viel zu tun bis zum Beginn des Pfarrfests, Bänke für den Feldgottesdienst aufstellen, Altar dekorieren. Als die Leute die Schrift an der Wand sahen, fuhr der Schreck in sie: Nur eine dreiviertel Stunde, dann kommen 2.000 Gäste. Also rannten sie, holten Kübel mit Farbe, um die Schmach zu übertünchen, Bauer Perschl hatte Zement, den goss er aufs Pflaster, und darüber legten sie Teppiche, damit keiner etwas von der Sauerei sah. Die Parolen waren dann weg. Aber die Ahnungen gingen nicht weg. Die blieben.

Stefan erinnert sich, wie er sich bloßgestellt fühlte vor den Augen des Dorfes. Wer tut so etwas? Und warum? Offene Fragen, bis heute. Aber etwas war anders seit diesem Tag. „Das war für mich schon wie ein Augenöffner“, sagt er jetzt, fast drei Jahrzehnte später. Der Missbrauch endete nach dem Pfarrfest. Stefan entzog sich immer stärker. Auch das Interesse des Pfarrers klang ab. Der Junge war ja inzwischen schon 15 Jahre alt.

Seit vielen Jahren war Stefan nicht mehr hier. Er hat sein Auto beim Friedhof hinter der Kirche geparkt, nun läuft er in straffen geraden Schritten dahin, wo alles begann. Fast erkennt er den Platz nicht mehr, es sieht moderner und offener aus, bis auf das Pfarrhaus ist alles neu, er sagt: „Das macht es leichter dadurch, dass es nicht mehr so ist wie früher.“

Stefan ist sein echter Vorname, aber sein Nachname soll ungenannt bleiben. Der Missbrauch, der seine Kindheit bestimmte, soll nicht mit seinem heutigen Leben verbunden werden.

Das System der katholischen Kirche ermöglichte Missbrauch

Die Geschichte, die er CORRECTIV und dem Bayerischen Rundfunk (BR) erzählt, legt offen, wie das System Missbrauch in der Kirche oft funktioniert, weil es in solchen Fällen nicht nur den einen Straftäter gibt, sondern viele Beteiligte auf allen Hierarchieebenen, die kaschieren, schweigen, Hinweise unterdrücken und die Taten so erst möglich machen. 

Der Mann, der Stefan jahrelang missbraucht haben soll, hat 35 Jahre lang als Priester gearbeitet: Peter H., einer der notorischsten Missbrauchstäter in der katholischen Kirche. Wie aus Kirchenakten hervorgeht, soll H. mindestens 23 Jungen zwischen acht und 16 Jahren sexuell missbraucht haben. 

Nun verleihen die Aussagen von Stefan dem Fall noch eine neue Tragweite: Zum ersten Mal geht ein Opfer aus der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz an die Öffentlichkeit, wo H. ab Ende der 80er Jahre als Pfarrer tätig war. Bislang waren nur weiter zurückliegende Straftaten bekannt. Jetzt zeigt sich: Peter H. hat bis mindestens weit in die 90er Jahre völlig unbehelligt agiert – trotz einer rechtskräftigen Verurteilung 1986 und praktisch unter den Augen des Erzbistums München und Freising.  

Recherchen von CORRECTIV und dem BR weisen außerdem nach, dass hohe Würdenträger nicht nur untätig blieben, sondern sich offenbar aktiv daran beteiligten, H. zu decken, sodass dieser immer neue Kinder missbrauchen konnte, und das bis heute straflos.

Der Fall Peter H. hat Schlagzeilen gemacht, auch international: 2010 deckte die New York Times auf, dass die Kirchen über Straftaten H.s Bescheid wusste und ihn trotzdem weiter als Pfarrer einsetzte. Für Empörung sorgten vor allem die Verstrickungen der Kirchenväter bis hoch zu Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Eine Recherche von CORRECTIV und ZDF-Frontal wies 2020 weitere Verbindungen zu Ratzinger auf. 

Garching gehört zum Erzbistum München und Freising, wo Ratzinger bis zu seinem Wechsel in den Vatikan an der Spitze stand. Später stellte sich Pfarrer H. in Garching jahrelang einen Weihbischof als Aufpasser an die Seite, den eine enge Freundschaft mit Ratzinger verband – dieser unterband den Missbrauch nicht, sondern deckte den Täter. 

Gegenüber CORRECTIV und BR lässt Ratzinger über seinen Privatsekretär George Gänswein „klarstellen, dass Papst emeritus Benedikt XVI. nicht über die gegen Pfarrer H erhobenen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs informiert war”.  Aber es gibt Hinweise, die dieser Darstellung zu widersprechen scheinen.

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Bischöfe schützten pädokriminellen Priester

Jetzt werfen die Aussagen von Stefan auch gravierende Zweifel an einem Dekret aus dem Jahr 2016 auf, über das die Zeit in ihrer aktuellen Ausgabe berichtet: Dieses bisher geheime Papier ist praktisch das Urteil eines kirchlichen Gerichts des Erzbistums. Es liegt auch CORRECTIV vor. Zwar attestieren die Kirchenrichter dem emeritierten Papst demnach im Fall H. Pflichtverletzungen. Allerdings entlastet es Pfarrer H. für seine Zeit in Garching. 

Die Kirchenrichter bewerteten die bisher von dort gemeldeten Taten als vereinzelte und zum Teil nicht nachvollziehbare Vorfälle. Der Fall Stefan zeigt, dass diese Annahme falsch ist. 

In Garching kommt nun vieles wie unter einem Brennglas zusammen: Ein Betroffener, der einen jahrelangen Missbrauch öffentlich macht. Eine Gruppe von Gläubigen, die wissen will, wie weit die Mitwisserschaft der Kirche ging. Der damalige Erzbischof Ratzinger, der wichtige Entscheidungen mittrug und starke persönliche Verbindungen nach Garching und Umgebung hatte. Und ein Ort, den der Skandal bis heute entzweireißt.

In einem kirchlichen Gutachten zum sexuellen Missbrauch zentral: Der Fall Peter H.

Der Fall H. wiegt so schwer, dass er einen zentralen Teil eines neuen Gutachtens ausmacht, das am 20. Januar vorgestellt wird. Die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl hat dafür den Umgang der Kirche mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder unabhängig untersucht. 

„Neue Erkenntnisse“ hatten die Veröffentlichung verzögert. Die Gründe werden nun deutlich: Die „neuen Erkenntnisse“ stützen sich offenbar auch auf Stefans Aussagen: Er hat nach eigenen Angaben als Zeuge gegenüber der Kanzlei ausgesagt.

Die Kirche kann sich damit nicht mehr aus der Verantwortung ziehen. Der Fall könnte nun auch noch strafrechtliche Folgen haben: Ein Anwalt, der Stefan vertritt, will gegen die vorgesetzten Bischöfe Anzeige erstatten – und zwar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

Seit den ersten Presseberichten 2010 wurden bei Staatsanwaltschaft und Erzbistum zwar drei Missbrauchsfälle in Garching gemeldet. Aber die Behörden stellten die Ermittlungen ein, die Taten waren verjährt. Auch wandten sich die Opfer nicht an die Öffentlichkeit. 

Einer der Männer ist im selben Alter wie Stefan, er saß zeitweise in der Psychiatrie. H. soll ihn während der Beichte missbraucht haben. Laut dem Dekret bestreitet H. dies und das Kirchengericht glaubt dem Pfarrer.

Hintergrund

Berichte über massenhaften Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche weltweit begannen mit der Recherche des Boston Globe in den USA 2002. Der systematische Missbrauch in Irland, Frankreich und Australien wurde öffentlich, 2010 erreichte die Missbrauchsdebatte auch Deutschland. Immer war die zentrale Frage: was wussten der Vatikan und der Papst über den Missbrauch.

Die New York Times-Recherche legte damals die direkte Mitverantwortung des deutschen Papstes für die Wiedereinsetzung des Priesters H. offen, der vorher Kinder missbraucht hatte, was der Kirche bekannt war. In Studien und Untersuchungen versuchen die Bistümer und die deutsche Bischofskonferenz seither das Ausmaß und die Gründe für den Missbrauch aufzuklären. Am 20. Januar veröffentlicht die Münchner Anwaltskanzlei Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl die Untersuchung zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising, die die Kirche in Auftrag gegeben hatte. Der Fall H. wird in dieser Studie eine zentrale Rolle einnehmen. Bis heute ist nicht über Entschädigungszahlungen für die tausenden Opfer des Missbrauchs in Deutschland entschieden.

Das Erzbistum München und Freising hatte die Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) beauftragt, die Dimension des sexuellen Missbrauchs im Bistum seit 1949 sowie den Umgang mit den Fällen innerhalb der Kirche zu untersuchen. Für das Gutachten wurden Opfer und Zeugen befragt. Die Anwälte gehen von mindestens 497 Geschädigten aus, in 42 Fällen wurden Unterlagen an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Den Gutachtern zufolge tragen Vorgesetzte der katholischen Kirche eine Mitverantwortung. Ein eigener Teil des Gutachtens beschäftigt sich mit dem Fall des Priesters H., der in Bayern über Jahrzehnte eingesetzt wurde, obwohl der Kirchenleitung sein pädokriminelles Verhalten bekannt war. Ein neuer Zeuge, der sich im Vorfeld gegenüber CORRECTIV und dem BR geäußert hat, berichtet dort von Missbrauch durch H. bis in die 1990er Jahre. 

Das Gutachten wurde am 20. Januar 2022 vorgestellt und veröffentlicht.

Auch dem ehemaligen Papst Benedikt XVI. wird Fehlverhalten in vier Fällen im Zusammenhang mit sexuellen Missbrauch durch Priester vorgeworfen. Kardinal Joseph Ratzinger war ab 1977 mehrere Jahre Erzbischof in München und Freising. In dieser Position sei er mitverantwortlich gewesen, sein Verhalten muss nach Ansicht der Gutachter neu bewertet werden. In diese Zeit fällt auch der Fall des Priesters H., von dem der ehemalige Papst gewusst haben soll. Dieser bestreitet, Kenntnis von dem Verhalten des Priesters gehabt zu haben. Ratzinger hat in einem 82-seitigen Schreiben ausführlich auf Fragen der Anwälte geantwortet, das auch Teil des Gutachtens ist.

Erst legte sich der Pfarrer nackt neben den Jungen ins Bett

Stefan selbst wirkt nicht gebrochen. Mitte 40 ist er inzwischen, beruflich erfolgreich, hat Familie. Mehr soll nicht über ihn bekannt werden. Er will ein Fenster in die Vergangenheit öffnen und dann wieder schließen. Aber zuerst soll seine Geschichte aufgearbeitet werden. Deshalb ist er zurück ins Dorf seiner Kindheit gekommen.

Auf einem Hügel steuert er nun auf eine Holzbank zu, von der aus er ganz Garching im Blick hat, und dahinter den Nachbarort Engelsberg. Beide gehören zum selben Pfarrverband. Leichter Nebel liegt über den Zwiebeltürmen der Kirchen, Kruzifixen und weiß getünchten Häusern, die zwischen Nadelwäldern liegen wie hin gewürfelt. 

Die Geschichte bringt ihn zurück an den Anfang 90er-Jahre, Bill Clinton war amerikanischer Präsident, der Gameboy kam in Mode, im Radio lief Nirvana. 

An keinem Ort war H. länger Pfarrer als in Garching an der Alz. Über 20 Jahre hat er dort Messdiener ausgebildet,  Religionsunterricht gegeben, Predigten gehalten und Messen gelesen. 

Oben auf dem Hügel ist Ruhe, fern ist die Welt. Deshalb zog sich der Junge oft an diesen Ort zurück, wenn H. ihn missbraucht hatte.

Er sagt heute, all das kam ihm vor wie ein Film, es lief, so beschreibt er es, immer nach dem gleichen Muster ab: Der Pfarrer legte sich nackt neben ihn ins Bett und machte an ihm herum, ejakulierte, dann stand er auf, lief in die Küche und schmierte sich ein Wurstbrot. Es waren immer die gleichen Szenen, Stefan kannte den Ablauf, er war zwölf, 13 Jahre alt, brachte es hinter sich, ging weg, und der Pfarrer aß eine Schnitte.

Den Jungen packte dann dieses schäbige Gefühl. Beklemmend war das, sagt er, „bedrückend.“ Das hielt er nicht aus. Er musste raus, nur raus, weil er ja so oder so alleine war. Er konnte mit niemandem sprechen, ihm hätte doch keiner geglaubt, ganz sicher nicht: „Gerade in der Situation, in der wir waren“, sagt er. „Pfarrer H. hat ein Imperium geschaffen, es stand ja eine komplette Pfarrgemeinde hinter ihm.“ 

CORRECTIV und der BR rekonstruieren die Geschichte aus Stefans Erinnerungen. Zu H.s Verhalten in der Gemeinde wurden auch andere Zeuginnen und Zeugen befragt, um die Aussagen zu überprüfen. Zu den konkreten Missbrauchstaten gibt es bislang nur die Sicht des Opfers. Die Schilderungen decken sich mit Straftaten H.s, die in Kirchenakten dokumentiert sind. 

CORRECTIV und der BR haben H. angeschrieben und um Stellungnahme gebeten. Darauf reagierte er nicht.

Allerdings liegen CORRECTIV Dokumente vor, die zeigen, wie sich H. in kirchlichen Anhörungen zu anderen Fällen äußerte: Er sei ein „pädophiler Priester”, die „ganze Welt” wisse das, sagte er im April 2010 bei einer internen Befragung.

Aus einem Schriftsatz von H.s Anwalt aus der Zeit geht hervor, dass der Pfarrer einzelne Taten einräumte, den Missbrauch zugleich aber klein redete und relativierte: Demnach teilte der Verteidiger mit, der Pfarrer habe keinem Kind oder Jugendlichem jemals „körperliche Gewalt angetan“. Auch „eine Penetration“ habe er „in seinem ganzen Leben noch nie praktiziert.“ 

Bei einigen Vorwürfen „angeblicher Taten“ unterstellte er als Motiv erhoffte „finanzielle Vorteile“. In anderen Fällen sei es „möglicherweise“ aber „zum vorwurfbaren Verhalten“ gekommen, „worunter mein Mandant Entblößung und oder Berührung versteht.“

Der spätere Papst Benedikt nahm den pädokriminellen Priester in Bayern auf

Der Priester kam 1987 nach Garching, da war Stefan gerade neun. Dass der neue Pfarrer ein verurteilter Sexualstraftäter war, wusste in Garching niemand.

Stefan war ein hübsches Kind. Sein Vater war oft in Gaststätten unterwegs, er trank und log viel. Zu Hause gab es oft Streit. Die Mutter zog Konsequenzen und trennte sich vom Vater. Sie blieb allein mit vier Söhnen und ohne Geld, musste nachts putzen gehen, um durchzukommen. Die Not machte sie anfällig für H.s gezielte Annäherung.

Der Kirche fiel H. Ende der 70er Jahre bereits zum ersten Mal auf. Als sich die Vorwürfe häuften, wurde er von Essen nach Bayern versetzt. Wie das Erzbistum München und Freising später offiziell mitteilte, stimmte der damalige Erzbischof und spätere Papst Joseph Ratzinger dem Umzug des Pädokriminellen in seinen Zuständigkeitsbereich zu.

Das Bistum will sich zu den aktuellen Vorwürfen nicht äußern und verweist auf seine Antworten auf eine Anfrage von CORRECTIV und ZDF-Frontal von 2020. 

Fast ganz Oberbayern gehört zum Erzbistum München und Freising, dort war Ratzinger als Bischof höchster kirchlicher Würdenträger, verantwortlich für 1,6 Millionen Katholiken. Das bedeutet: Als Bürgermeister würde er eine Stadt so groß wie Hamburg regieren, allerdings mit absoluter Verwaltungsmacht: Bischöfe müssen niemandem Rechenschaft ablegen außer dem Papst.

Was wusste der spätere Papst über H.?

Ratzinger trug zudem den Beschluss mit, dass H. nach seinem Umzug nach Bayern zum Psychotherapeuten müsse. Auch das hat das Erzbistum 2010 in einer Pressemitteilung bestätigt: „Aufgrund der Aktenlage“ gehe man davon aus, „dass damals bekannt war, dass er diese Therapie vermutlich wegen sexueller Beziehungen zu Jungen machen sollte.“ 

Der Privatsekretär des emeritierten Papstes dagegen dementiert energisch: „Jede Darstellung dass Benedikt XVI. von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Kenntnis hatte und/oder davon Kenntnis hatte, dass diese der Grund für die Therapie des Pfarrers H. waren, wäre damit falsch.”

Entschied Ratzinger auch, dass H. weiter als Pfarrer arbeiten durfte? Anders gesagt: Half er mit, einen Missbrauchstäter wieder in eine kirchliche Vertrauensposition zu bringen, die ihm einen leichten Zugang zu neuen Kindern und Jugendlichen gab?

In dem Punkt nimmt die Kirche Ratzinger in Schutz: Mit der Entscheidung, den Täter trotz aller Vorwürfe wieder in der Seelsorge einzusetzen, habe der damalige Erzbischof laut der Pressemitteilung nichts zu tun gehabt. Stattdessen schiebt das Bistum die Schuld für den „schweren Fehler” auf einen Generalvikar, der eigenmächtig gehandelt habe.

Allerdings gibt es keinen Hinweis darauf, dass überhaupt je in Frage stand, ob H. wieder als Pfarrer arbeiten darf. Niemand schien dagegen Einwände gehabt zu haben.

In dem Dekret von 2016 steht, dass Ratzinger H. schon 1980 vor ein Kirchengericht hätte stellen müssen. Stattdessen soll er darauf gehofft haben, dass durch „brüderliche Ermahnung die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann.” 

Nur wenige Jahre später, im Juni 1986, steht H. wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs vor Gericht: In Grafing bei München hatte der Pfarrer mehreren Jungen Pornofilme vorgeführt, vor ihnen onaniert und sie ebenfalls zum Onanieren aufgefordert. Nach Angaben des Erzbistums waren damals zwölf Kinder betroffen. H. wird vom Amtsgericht Ebersberg zu 18 Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt.

Ein Jahr danach zog Peter H. nach Garching.

H. und seine 100 Messdiener: „Man wollte dazugehören“

Stefan lernte den neuen Pfarrer bei der Vorbereitung für die Kommunion kennen. Später fing er als Messdiener an, wie sehr viele Jungen. H. riss die Gemeinde mit, gerade die Jugendlichen. „Man hat es relativ schnell bemerkt, dass sich hier was bewegt“, sagt er. H. gründete ein neues Blasorchester, einen Kinderchor, einen Jugendchor, und viele Gläubige hatten das Gefühl, dass jetzt neues Leben in ihre Gemeinde kommt.

Vorher habe es in der Kirche vielleicht drei Messdiener gegeben. Unter H. standen gut 100 Jungen am Altar, der Andrang war enorm, sagt Stefan: „Man wollte einfach dazu gehören.“

H. umgarnte Stefans Mutter, die fühlte sich geschmeichelt. Im Nachhinein wirkt das wie Kalkül: Um sich Zugang zu den Jungen zu verschaffen, spann er die Mütter ein in ein Netz aus Aufmerksamkeit und Fürsorge. Dann hatte er leichtes Spiel.

Bei Stefan bot sich der Pfarrer als Ersatzvater an, er ließ ihn bei sich Mittag essen und half ihm bei Hausaufgaben, gab ihm auch Zigaretten und Alkohol. Grooming würde man heute sagen.

Jede Woche blieb der Junge zwei, drei Mal über Nacht im Pfarrheim. Stefan erzählt, er hatte einen eigenen Schlüssel, damit schlich er sich erst durch die Garage und über den Hintereingang ins Haus, später ging er zur Vordertür rein. Das kriegten viele mit, und offenbar fand kaum einer etwas daran.

Einzelnen aber bereitete das doch Sorge.

Im Jahr 1993 gingen bei den Kirchenoberen in München Hinweise ein, dass H. in Garching einen auffälligen Umgang mit Minderjährigen pflegt; die Rede war unter anderem von einem „älteren Jugendlichen“, der „im Pfarrhof verkehre“. Das teilt das Erzbistum auf Anfrage von CORRECTIV mit: H. sei befragt worden und habe gesagt: Er habe sich des Jungen angenommen, weil „die Mutter auf Abwege geraten“ sei.

Das war H.s Taktik, die Mutter in Verruf bringen. Die perfide Strategie ging auf: Niemand beachtete das Alarmsignal: H. war wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verurteilt. Aber keiner von H.s Vorgesetzten störte sich an den seltsamen Berichten aus Garching.

H. hatte in Garching weiter jede Freiheit. Das Dorf war dem Pfarrer praktisch hörig. Der Geistliche zelebrierte seine Gottesdienste als große Show. Spricht man mit Menschen, die ihn damals erlebten, dann klingt es, als habe er die Gemeinde dirigiert wie ein Sektenführer. „Das war das Fatale“, sagt Stefan, „dass der so hat begeistern können.“

Der Fall des pädokriminellen Priesters zerreißt den Ort Garching

Inzwischen aber ist etwas in Bewegung gekommen. Vor zwei Jahren, in Folge der ersten CORRECTIV-Recherche in Garching, hat sich eine kleine Gruppe formiert, Sauerteig heißt die Initiative, Garchinger, die gemeinsam in die Kirche gingen, Gläubige, die nun alle dieselben Fragen verbindet: Wie konnte es passieren, dass Jungen aus ihrem Dorf dem Pfarrer ausgeliefert waren? Warum schützte niemand die Kinder? Und welchen Anteil haben sie selbst an H.s Verbrechen? Sie fordern Aufklärung, rückhaltlos. Sie tun, was sie für richtig halten, aber damit haben sie sich Feinde gemacht. 

Die Gemeinde ist verteilt auf zwei Orte: Garching, zweckmäßig gebaut, ein Industrieort, und Engelsberg, das wirkt wie ein bayerisches Dorf aus dem Bilderbuch. Gerade dort hat H. noch viel Rückhalt, und die Sauerteig-Mitglieder gelten für viele als Nestbeschmutzer. 

Stefan hatte als Kind mehrere Rückzugsorte, an die er sich flüchtete. Da war die Bank oben auf dem Hügel. Und es gab eine kleine, weiße Kapelle an einer Ausfallstraße.

Als CORRECTIV 2019 zum ersten Mal in Garching recherchierte, lag dort, auf dem Altar unter einer Marienstatue, ein Stapel mit Bittbüchern. Darin notierten Gläubige, was sie sich von der Mutter Gottes wünschen, eine Schwangerschaft, einen neuen Job. Und versteckt zwischen all den kleinen Hoffnungen stand ein Eintrag in kindlicher Schrift, zwei Zeilen auf liniertem Papier: „Die Sexuele Belestigung soll aufhören. Dein Stefan.“

Die Recherche von CORRECTIV und ZDF-Frontal förderte bereits im Jahr 2020 diesen Eintrag zutage, neben dem Graffiti am Tag des Pfarrfests ein weiteres Indiz, dass H. auch in Garching Kinder missbrauchte. Aber bis heute ist nicht klar, wer den Satz geschrieben hat. Stefan selbst sagt, er erinnert sich nicht daran. Das muss nichts heißen, er hat aus der Zeit vieles verdrängt. Man weiß, dass das bei Opfern von Missbrauch typisch ist.

Oder gab es noch einen Stefan? Hat jemand anderes einen Hinweis hinterlassen? Es ist ein Rätsel, das sich nicht mehr aufklären lässt – zumal auch dieser Eintrag niemanden aufrüttelte.

Die Kapelle ist jetzt für Stefan verschlossen. Sie gehört einer Bauernfamilie, der Hof liegt gegenüber. Inzwischen sagt der alte Bauer: Hätten wir doch diese Kapelle nie gebaut.

Es ist ein Abend im Dezember 2021, schon dunkel, der Bauer steht noch vor dem Kuhstall, Schlamm klebt an den Schuhen. Er will nichts hören von dem Missbrauch. „Wir wurden durch den Dreck gezogen“, sagt er, und: „Der H. war ein guter Priester. Meinen Söhnen ist nie etwas passiert.“ Einer steht neben ihm, auch er war Messdiener damals, er sagt: „Da war nichts.“

Der Fall H. zerreißt die Gemeinde, auch jetzt noch, wo der Pfarrer längst weg ist. Da sind die einen, die wollen, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt. Und da sind die anderen, die sich bis heute noch an der Fassade der heilen Gemeinde festhalten.

Er konnte drohen und schmeicheln: Er hatte Macht, die er nutzte

Peter H. konnte mit Menschen spielen. Die Leute beschreiben ihn wie einen Zeremonienmeister, der sich mit Pomp inszenierte. In der Zeit war die Kirche jeden Sonntag voll, die Messdiener drängten sich um ihn. H. ordnete sie der Größe nach, und die Jungen überschlugen sich, nur um in die Nähe des Pfarrers zu gelangen.

Nicht nur in der Kirche, auch in der Gemeinde webte H. sein Netz, er bevorzugte die einen und strafte die anderen ab. Die Leute wetteiferten um seine Gunst und wer ihm nahe stand, sonnte sich in dem Gefühl, besonders zu sein. Nach außen hin strotzte die Gemeinde vor Leben. Doch dicht unter der Oberfläche gärten die Angst und der Neid.

H. wusste die Leute bloßzustellen. Er konnte sie emporheben, und dann trat er sie in den Dreck. Das war die Kehrseite der Vorzeigegemeinde, die absolute Kontrolle.

Der Priester äußert sich zu den Fragen von CORRECTIV und BR nicht. In Garching haben mehrere Gemeindemitglieder diese Strukturen übereinstimmend beschrieben.

Klaus Mittermeier war damals Vorsitzender des Gemeinderats und ließ sich von H. einspannen. Er zählt zu den Gründern der Initiative Sauerteig. Wer H. in die Quere kam, sagt er, wurde systematisch schikaniert. Da gab es zum Beispiel eine Pastoralreferentin, die wollte er weg haben. Einmal, sagt Mittermeier, wollte sie etwas sagen, und H. habe ihr einen Marzipanriegel in den geöffneten Mund gestopft. „So hat er die behandelt, und die war dann völlig fertig.“

Doch nun hat ein Aufbruch Garching erfasst. Die Mitglieder der Gruppe Sauerteig wollen etwas verändern, bleiben aber behutsam. Sie haben Angst, dass es ihre Gemeinde sonst spaltet. Die Gruppe hat das Schweigen aufgebrochen und setzt die Kirche unter Zugzwang. Immerhin haben sie bereits erreicht, dass Kardinal Reinhard Marx im vergangenen Sommer nach Garching kam. „Das System Kirche hat versagt“, sagte der Kardinal vor der Gemeinde, „auch persönlich bitte ich um Entschuldigung.“

Die Mitglieder der Gruppe sind schonungslos, auch gegen sich selbst. Warum haben sie nichts gemerkt? H. konnte jahrzehntelang Kinder missbrauchen, auch, weil ihn niemand hinterfragt hat. Warum störte sich kaum einer an dem auffälligen Umgang des Pfarrers mit minderjährigen Jungen?

„Da waren wir so naiv“, sagt Mittermeier. „In unserer Welt hat das überhaupt nicht bestanden, dass es so etwas gibt.“

Einer allerdings wusste ganz genau über H. Bescheid.

Der Ratzinger-Vertraute: Er sollte aufpassen, stattdessen schwieg er die Gerüchte in Garching weg

Der Pfarrer stand in Garching sieben Jahre lang unter Beobachtung des Bistums: Weihbischof Heinrich Sigmund Maria Rudolf Graf von Soden-Fraunhofen folgte H.1993 und ließ sich im Nachbarort Engelsberg nieder.

Er überwachte H. und berichtete an die Kirche. Auch das wurde den Leuten verschwiegen. Die fühlten sich geehrt, weil sie nun einen Bischof im Ort hatten, noch dazu einen adeligen. „Der kam mit seiner Bischofsmütze, und die Leute lagen ihm zu Füßen. Es war unerträglich“, sagt ein Geistlicher aus der Region, der anonym bleiben möchte.

Der Weihbischof spielt in dieser Geschichte eine zentrale Rolle: Viele haben H.s Taten begünstigt, indem sie nicht eingriffen. Bei von Soden-Fraunhofen ist das anders: Er hat den Täter laut übereinstimmender Aussagen von mehreren Gemeindemitgliedern geschützt, indem er seine Autorität einsetzte, um den Verdacht zu zerstreuen.

Dabei wusste niemand so gut wie er über H. Bescheid: Nicht nur der ehemalige Psychiater des Pfarrers hatte ihn gewarnt; auch H. selbst hatte sich ihm 1984 in München anvertraut, als die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn aufnahm. Das geht aus Kirchenakten hervor, die CORRECTIV vorliegen. Der Weihbischof taucht auch in dem kirchlichen Dekret von 2016 mehrfach auf. Demnach waren er und mehrere hochrangige Kirchenfunktionäre in Essen und München ab 1984 „vollumfänglich“ über das strafrechtliche Verfahren gegen H. wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs informiert; sie sorgten sich demnach vor allem „um die Gesundheit des Kaplans und seinen guten Ruf“.

Der Weihbischof war ein enger Freund des emeritierten Papstes Joseph Ratzinger. Sie wurden in den 1950er-Jahren gemeinsam zu Priestern geweiht. Als H. 1987 nach Garching zog, hatte Ratzinger bereits die nächste Karrierestufe erklommen und war im Vatikan angelangt. Ratzinger, so bestätigte es sein Sprecher auf Anfrage von CORRECTIV, wusste aber, dass H. in Garching als Pfarrer tätig war.

Im Vatikan war er nun Präfekt, also Chef der Glaubenskongregation – das ist die Nachfolge der Heiligen Inquisition. Über ihm gab es da nur noch den Papst. In der Funktion war er für die Aufklärung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche weltweit zuständig. Umso frappierender fällt heute sein Desinteresse im Fall H. auf.

Als Oberaufseher des Vatikans für Moral hat sich Ratzinger nicht für H. interessiert

Auch die anderen Kirchenväter kümmerten sich nicht weiter um die Causa H. Dazu schien es keinen Anlass zu geben. In einer Antwort des Bistums auf eine Anfrage von CORRECTIV steht: „In den Akten finden sich konkrete Hinweise darauf“, dass der Weihbischof von Soden-Fraunhofen über H. „regelmäßig“ und „ohne Beanstandung positiv“ berichtet hat – ungeachtet der Schmierereien auf dem Pfarrfest. Diese Berichte des Aufpassers von H. förderten die Ansicht im Bistum, man könne H. ohne Abstriche im Amt belassen. Zu der Zeit hieß der Erzbischof von München und Freising Friedrich Wetter.

Ratzinger ist mit der Gegend um Garching eng verbunden, er stammt selbst aus der Region. In dem Landkreis liegt der Wallfahrtsort Altötting, der bis heute damit wirbt, dass Ratzinger, Ehrenbürger des Ortes, auch noch regelmäßig als Papst privat zu Besuch kam. Das Städtchen liegt gerade 16 Kilometer entfernt von Garching.

Mit von Soden-Fraunhofen pflegte er bis zuletzt Kontakt. Kurz vor dem Tod des Studienfreundes im Jahr 2000 kam Ratzinger ihn besuchen. Das erzählte H. stolz in seiner Gemeinde herum: Ratzinger habe vor seiner Tür gestanden, er habe ihn bei dem Schwerkranken ankündigen sollen. Zehn Jahre später bestätigte H. den Vorfall bei einer Vernehmung im Erzbistum Essen, das geht aus einem internen Protokoll hervor.

Der Privatsekretär des emeritierten Papstes, Georg Gänswein, hat gegenüber Frontal den Besuch in Garching bestätigt. Er ließ aber dementieren, dass er dort auf H. getroffen sei.

„Verantwortung nicht gerecht geworden“: Bisher ohne Folgen für die Bischöfe

Das Dekret der Kirchenrichter zum Fall H. kam 2016 zu einem eindeutigen Urteil und warf Ratzinger und anderen Kirchenautoritäten „Pflichtverletzungen“ vor. Auffällig ist, dass das Papier die dubiose Rolle des Weihbischofs von Soden-Fraunhofen in Garching und Engelsberg verschweigt.

Sieben Jahre lang waren H. und von Soden-Fraunhofen zusammen in den Gemeinden tätig. Wider besseres Wissen ließ der Bischof den Pfarrer gewähren. Weder schlug er Alarm in München oder Essen, noch ließ er im Dorf Zweifel an dem Pfarrer aufkommen. Das bedeutet auch: H. konnte sich absolut sicher fühlen.

Und als am Morgen des Pfarrfestes Hinweise auf den Missbrauch als Graffitis auf den Mauern auftauchten, nutzte er seine Autorität als Weihbischof, um zu beschwichtigen.

Dass es in der Kirche Verantwortliche gab, die über H. Bescheid wussten und nichts taten, um Kinder vor ihm zu schützen, das macht Stefan bis heute zu schaffen. Er hatte es ja nicht nur mit einem Täter zu tun, sondern mit einem gewaltigen Apparat aus Religion und Macht. „Das ist auch ein Grund“, sagt er, „warum ich jetzt darüber spreche und so lange geschwiegen habe.“

Rechtsanwalt Andreas Schulz, der Stefan vertritt, will nun Anzeige gegen die Bischöfe, also auch Joseph Ratzinger, erstatten. Die Verantwortung der Kirchenvorgesetzten für die Taten seien als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Das Völkerstrafrecht könnte es möglich machen, denn bei sexuellem Missbrauch können, wenn er systematisch gedeckt wird, auch die Vorgesetzten verurteilt werden.

Aber es ist ein heikler Versuch. Denn das Gesetz wird bisher nur auf verbrecherische Regime angewandt, nicht auf die Kirche. „Die Verantwortlichkeit der Bischöfe zeigt sich in diesem Fall so klar wie nie zuvor“, sagt Schulz. Es geht ihm darum, dass auch die Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen werden, die den Missbrauch Minderjähriger immer wieder verschwiegen und dadurch noch gefördert hätten.

Bilder von halbnackten Kindern im Gemeindeblatt: Warum hakte niemand in Bayern nach?

Später am Tag fährt Stefan noch einmal aus Garching heraus, und jeder Meter vorwärts bringt ihn weiter zurück. Etwa vierzig Minuten lang geht es in Richtung Süden, dann ist er da. Außerhalb des Örtchens Vachendorf steht ein Bauernhaus in einem verlassenen Tal, weiter vorn duckt sich ein Häuschen – ein zweiter, versteckter Ort des Missbrauchs.

Im Obergeschoss war die Ferienwohnung, die H. mietete. Nun ist die Fassade saniert und hell gestrichen, früher, erinnert sich Stefan, sah alles marode und dunkel aus. „Hier war gar nix“, sagt Stefan. „Es war wirklich total weg vom Schuss.“ Das Steinhaus stand leer; die Bauernfamilie war wohl zerstritten. Nur eine alte Frau lebte im Erdgeschoss des Häuschens. Dort achtete niemand auf den Mann und den Jungen. Wenn sie unterwegs doch auf Leute trafen, musste er H. mit „Papa“ oder „Onkel“ ansprechen, sagt Stefan.

Hier in diesem oberbayerischen Niemandsland ließ H. den Jungen praktisch verschwinden. Aber auch in Garching kam er sich unsichtbar vor. Dabei hätten viele etwas merken müssen; es gab immer wieder Anzeichen, dass etwas nicht stimmte mit dem Pfarrer: Jugendliche, die praktisch bei ihm wohnten, seltsame Bilder von kleinen Jungen in den Pfarrnachrichten, kitschig verklärt oder halb nackt. Wieso hakte da niemand nach?

Die Haushälterin des Pfarrers etwa, hat die nicht gemerkt, wenn ein Kind im Haus war, und dann zwei nasse Handtücher im Badezimmer auf dem Boden lagen? Sie sagte nichts, keiner sagte etwas.

Und einmal stand, vor den Augen aller, das Unaussprechliche plötzlich an der Wand.

Der Bischof erstickte die Gerüchte um den Missbrauch in Garching sofort: „Da war nichts“

Der Tag des Pfarrfestes 1994 markiert eine Zäsur. Pfarrer H. ist auf dem Höhepunkt seiner Macht in Garching und praktisch unangreifbar. Bauer Michael Perschl, der damals Zement auf die Schmierereien auf dem Boden schüttete, hat nicht vergessen, wie weit die Loyalität ging.

Perschl, groß und breit, mit Händen wie Schaufeln, steht vor seinem Gut und sucht nach Worten, um zu erklären, was damals geschah. Ein Mitglied aus der Kirchengemeinde habe später geraunt: Sei froh, dass du nichts wusstest, „die hätten dir den Hof angezündet.“ Perschel sagt: „So war die Stimmung für den H.“

Der Weihbischof von Soden-Fraunhofen ließ keine Diskussionen zu. Nach dem Pfarrfest stellte er sich hinter den Pfarrer. Und er half aktiv mit, die Gerüchte zu ersticken.

Die Gemeinde war aufgebracht, so erinnert sich Bauer Perschl, er war damals Mitglied in der Kirchenverwaltung. Als die Graffiti übertüncht waren, hingen die Worte bei den Leuten noch nach. „Und dann haben wir gesagt: Was machen wir jetzt? Wir müssen doch irgendwie tätig werden.“ Er selbst sei dann auf die Idee gekommen, den Weihbischof einzuladen und um Rat zu fragen. So wären sie auf der sicheren Seite.

Wenige Tage später versammelte sich der Kirchenrat auf Perschls Hof, sechs Leute, von Soden-Fraunhofen kam dazu. Einer habe in den Raum gefragt, ob ein Priester mit solcher Neigung nicht berufsunfähig sei. Da habe der Bischof die Augen weit aufgerissen und den Mann angestarrt: „Dann war ein Moment Stille, und dann hat er gesagt: ‚Da war nichts.‘ Und was sollen wir sagen, wenn der Bischof sagt: ‚Da war nichts‘?“

Von Soden-Fraunhofen muss bewusst gewesen sein, dass er als Bischof eine Respektsperson ist, der niemand zu widersprechen wagt. Damit ließ er die Leute verstummen.

Nach dem Pfarrfest war H. noch 14 Jahre lang in Garching als Pfarrer tätig. Er hörte nicht auf, sich Jungen zu greifen.

In dem kirchlichen Dekret tauchen zwei Jungen aus dem Nachbarort Engelsberg auf: Einer sagte demnach aus, er sei, wie Stefan, im Pfarrhaus missbraucht worden. Einem Freund sei dasselbe passiert. Die Rede ist wieder von Pornofilmen, von gemeinsamem Onanieren.

Auffällig ist aber auch, dass H. noch in dem Dekret erstaunliche Nachsicht erfährt. Die Kirche wiegelt weiter ab: Manche der Vorwürfe werden klein geredet oder als unplausibel eingestuft. In einem Fall wird „Beweismangel“ angeführt, in einem anderen ist von einem Vergehen von „geringer Schwere“ die Rede, und in einem weiteren gebe es „Zweifel an der objektiven Glaubhaftigkeit.“

Sie brechen ihr Schweigen, genau das bringt die katholische Kirche in Erklärungsnot

Viele Menschen in Garching denken, dass von Soden-Fraunhofen sich zum Mittäter gemacht hat. Stefan sagt: Der Glanz des Bischofs machte H. quasi gegen jeden Verdacht immun: „So konnte man die Menschen blenden und in eine Richtung schauen lassen, damit man alles andere nicht mehr sieht.“

Das ist jetzt anders. An einem Tag im Dezember sitzen Rosi und Klaus Mittermeier in ihrem Wohnzimmer in Garching, beide Lehrer. Auch sie waren Teil des Systems H.

Mittermeier sagt, er versteht nun, wie sich die Ostdeutschen fühlten, als es mit der DDR zu Ende ging. „Plötzlich ist die Situation völlig anders und dann steh’ ich da: Wie soll ich mich jetzt verhalten? Dann muss ich zugeben, dass ich brutale Fehler gemacht hab und vielleicht sagen: Du hast versagt.“

Die Mittermeiers haben die alten Fotoalben herausgesucht, darin kleben die Fotos von damals, etwa vom Faschingsumzug der Pfarrgemeinde 1993, zu der Zeit zog der Bischof von Soden-Fraunhofen gerade nach Engelsberg. Auf einem Bild ist ein geschmückter Wagen zu sehen, der dekoriert ist mit Sprüchen: „Nun ist H. nicht mehr allein, der Bischof bringt uns Sonnenschein“, und: „Gemeinsam sind wir stark.“

Klaus Mittermeier sagt leise: „Im Nachhinein sieht man die Fotos anders, gell?“

Gut ein Jahr nach dem Faschingsumzug erschienen in der Nacht die Schandworte an der Fassade. Mittermeier, damals der Pfarrgemeinderat, wurde als einer der Ersten alarmiert.

Er hat viele Gespräche geführt, um zu begreifen, was danach geschah. Es sind nur noch Puzzlestücke vorhanden, aber langsam fügen sie sich zu einem Bild.

Als das Pfarrfest begann, war H. nirgends zu sehen. Wo ist der Pfarrer? Der Weihbischof Soden-Fraunhofen, so sagt Mittermeier, tat sein Möglichstes, um einen Eklat zu verhindern. Zunächst habe er eine Frau aus der Gemeinde losgeschickt, den Pfarrer zu holen: Um den Gerüchten entgegenzutreten, musste H. sich in der Öffentlichkeit zeigen.

Die Frau soll ihn blass im Pfarrhaus gefunden haben, er wollte nicht raus, aber die Frau richtete die Botschaft des Weihbischofs aus: Er solle augenblicklich kommen.

Die Graffiti waren schnell beseitigt, aber damit waren die Worte nicht aus der Welt. „Das hat gebrodelt und das hat sich hier herumgesprochen, dass da was gestanden war“, sagt Klaus Mittermeier. Etwas Aufwand war nötig, um die Gerüchte zu zerstreuen: Das Böse ging um in Garching, und das Böse musste weg.

Deshalb kam H. nach dem Pfarrfest noch einmal auf Mittermeier zu. Der sagt, er habe den Pfarrer gefragt, ob etwas dran sei an dem Gerede. H. stritt alles ab. Wie er es darstellte, waren das Verleumdungen und nichts weiter.

Also stellte sich auch Mittermeier hinter H., und auch er half, die Gerüchte als Intrige darzustellen. Die Männer arbeiteten eine Strategie aus, um das Gerede zu unterbinden. H. wetterte in zornigen Predigten gegen diejenigen, die über ihn tuschelten.

So etwas soll nie wieder passieren. Deshalb auch das Motto der Gruppe: „Wir schauen hin, und du?“

Was können sie in Garching noch glauben?

Stefan kennt die Mittermeiers von früher. Am Nachmittag tritt er in ihr Wohnzimmer, die beiden haben den Tisch festlich gedeckt, es gibt Kaffee und Christstollen.

Auch die Mittermeiers erinnern sich an den Jungen. Bloß dass er auch zu H.s Opfern zählte, das, sagt Klaus Mittermeier, haben sie nicht geahnt. Er habe in der Zeit nach dem Pfarrfest, viele Gerüchte gehört, welche Jungen betroffen sein sollten: „Aber dein Name ist nie aufgetaucht.“

Stefan sagt: „Aber der stand doch an der Wand.“

Wer fiel H. noch zum Opfer? Mittermeier sagt, der Pfarrer habe ihm von seiner Ferienwohnung in Vachendorf erzählt, von einem Neffen, den er mit dorthin nahm, einen Sohn seiner Schwester, die Probleme habe, man solle das Kind nicht darauf ansprechen. Wieder gab H. eine überforderte Mutter an, wieder schob er Seelsorge vor. Und wieder nahmen es alle hin.

Am Ende des Gesprächs kommt Stefan wieder die Frage in den Sinn, die er sich schon vor 30 Jahren gestellt hat, am Morgen des Pfarrfests: „Warum fragt mich denn keiner?“ Selbst, als sein Name an die Wand gesprüht war, blieb er unsichtbar. Aber es gibt keine Antwort, auch die Mittermeiers wissen es nicht genau. Die Verbindungen, sagt Klaus Mittermeier, habe er einfach nicht gezogen.

Deshalb sind die beiden froh, dass Stefan jetzt da ist. Auch sie haben noch etwas loszuwerden: „Weil es uns wirklich schon lange ein Anliegen war”, sagt Rosi Mittermeier, „einfach zu sagen, dass uns das leid tut, wie das damals alles gelaufen ist.“

Stefan nimmt die Entschuldigung an. „Der Missbrauch fand ja nicht nur im sexuellen, sondern auf vielen Ebenen statt“, sagt er. „Ihr seid ja auch komplett missbraucht worden.“

Nach dem Pfarrfest traf Stefan H. nicht mehr oft. Er schenkte ihm noch ein Mofa, das nutzte er, um das Dorf zu verlassen. Danach kehrte er nur noch selten zurück.

Als der Fall H. an die Öffentlichkeit kam, ermittelte die Staatsanwaltschaft auch in Bayern, da war Stefan Anfang 30. Die Polizei lud ihn auf die Wache vor, der Polizist sagte, so erinnert er sich: „Jetzt nehmen wir deine Aussage auf“, und Stefan fragte: „Welche Aussage?“ Er wollte damals nicht über H. reden, war nicht bereit, er war ja froh, dass das alles hinter ihm lag, da wurde der Polizist laut, bis Stefan rief: „Sorry, Schluss.“

Nach den Medienberichten rief Stefan H. noch einmal an und bat um ein Treffen. Er wollte eine Aussprache. Aber die verwehrte ihm der Pfarrer. 

Der Pfarrer wurde 2008 in aller Stille ein weiteres Mal versetzt, diesmal nach Bad Tölz. Auch dort kam es gegen H. zu staatsanwaltlichen Ermittlungen. CORRECTIV und BR liegen Dokumente vor, aus denen hervorgeht, dass dort zwei Jungen bei einer Befragung einen Missbrauch bestritten. 2010 versetzte die Kirche H. in den Ruhestand. 

Erst nach Recherchen von CORRECTIV und ZDF-Frontal 2020 beorderte ihn das Bistum Essen zurück ins Ruhrgebiet. Dort lebt H. bis heute als pensionierter Priester.

Stefan ist in dem kirchlichen Dekret von 2016 nur eine Notiz. Die Rede ist von einer „sexuellen Handlung“, auch wird die abgebrochene Vernehmung bei der Polizei erwähnt. Er habe angegeben, „dass es zu keinerlei sexuellen Handlung ihm gegenüber gekommen sei.“ Ein letztes Mal wird Stefan übersehen. 

Nun aber ist die Geschichte in der Welt. Stefan und die Mitglieder der Gruppe Sauerteig lassen sich nicht mehr zum Schweigen bringen.

 

Der Bayerische Rundfunk (BR) hat einen Podcast „Funkstreifzug“ (BR24 Radio) und im Politikmagazin „Kontrovers” (BR Fernsehen) einen längeren Beitrag mit einem zusätzlichen Experteninterview veröffentlicht.

Die Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl stellte am 20.01. das Gutachten vor, in dem sie die Dimension des sexuellen Missbrauch in Bayern im Auftrag des Erzbistums München und Freising aufgearbeitet hat. Dort geht es auch um die Verantwortung der Bischöfe. Ein wesentlicher Zeuge in dem Gutachten war Stefan.

Falls Sie H. kannten, sei es aus Bottrop, aus Essen, aus München, Grafing, Garching, Engelsberg oder Bad Tölz, melden Sie sich gern bei uns. Jeder Hinweis ist wertvoll. Wir behandeln jede Meldung vertraulich. Melden Sie sich bei marcus.bensmann(at)correctiv.org oder über unseren anonymen Briefkasten.

Missbrauchsopfer oder deren Angehörige, die Beratung und Hilfe suchen, können sich jederzeit an das staatliche „Hilfeportal sexueller Missbrauch” wenden. Unter der kostenfreien Nummer 0800-2255530 informiert das Portal über Therapiemöglichkeiten und juristische Mittel für Betroffene.

Hinweis: Die Passage zu den Aktivitäten in der Gemeinde in Folge der Schmiereien auf dem Pfarrfest wurden nachträglich korrigiert. Korrektur vom 21.01.21: Wir haben den Absatz zu den Familienverhältnissen von Stefan korrigiert. Nun heißt es: „Die Mutter zog Konsequenzen und trennte sich vom Vater.”

Recherche: Marcus Bensmann, Antje Dechert (BR), Beate Greindl (BRText: Gabriela Keller, Marcus Bensman, Justus von Daniels Fotos: Ivo Mayr Redaktion: Justus von Daniels, Katharina Huth, Sophia Stahl, Jamie Grenda Design: Benjamin Schubert Kommunikation: Luise Lange-Letellier, Maren Pfalzgraf, Valentin Zick Bildnachweis: picture-alliance / dpa | dpa

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