Missbrauchsskandal

Nach Recherche von CORRECTIV und Frontal: Kardinal Marx bittet in bayerischer Gemeinde um Entschuldigung

Eine Recherche von CORRECTIV und frontal über einen wegen Kindesmissbrauch verurteilten Priester löste im bayerischen Garching an der Alz eine Bewegung für Aufklärung aus. Jetzt besuchte Kardinal Reinhard Marx die Gemeinde und entschuldigte sich für die Versäumnisse der Katholischen Kirche.

von Marcus Bensmann

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Das Missbrauchsopfer Markus Elstner trifft in Garching auf Kardinal Marx. (Foto: Marcus Bensmann)

Von Marcus Bensmann, Michael Haselrieder (frontal) und Anne Herzlieb (frontal).

Für dieses Schuldeingeständnis benötigte die Kirche mehr als zehn Jahre. Kardinal Reinhard Marx reiste am Samstag in das bayerische Garching an der Alz und bat in einer Andacht ohne Pressezugang um Entschuldigung. „Missbrauch ist Verrat an Jesu Botschaft. Das System Kirche hat versagt – auch persönlich bitte ich um Entschuldigung“, sagte Marx als Erzbischof von München und Freising zu der in der Kirche versammelten Gemeinde.

In dem bayerischen Pfarrverband Garching und Engelsberg war ab 1987 der wegen Kindesmissbrauch verurteilte Priester H. 20 Jahre lang tätig. H. missbrauchte Kinder in Bottrop, Essen, München und dann offenbar auch in der bayerischen Gemeinde, bevor er 2008 erst nach Bad Tölz und dann 2010 nach ersten Medienberichten in den Ruhestand versetzt wurde.

Schon die ersten Veröffentlichungen über den Priester H. 2010 waren für die katholische Kirche brisant. Die New York Times deckte auf, dass 1980 unter dem damaligen Erzbischof von München und Freising Kardinal Joseph Ratzinger der Missbrauchstäter aus dem Bistum Essen lediglich eine Therapie erhielt und sofort wieder in der Gemeindearbeit eingesetzt wurde, wo er sich neue Opfer suchte.

Der Missbrauchstäter H. wird durch die Gemeinden weitergereicht

Besonders lange war H. im Pfarrverband Garching und Engelsberg als Priester tätig. Das Bistum setzte den Pfarrer in den 1980er Jahren dort ein, unmittelbar, nachdem ihn ein Gericht wegen Kindesmissbrauch rechtskräftig verurteilt hatte. Das Gericht setzte die Strafe auf Bewährung aus.

Nach Aussagen des Bistums soll es auch in Garching an der Alz mindestens drei Missbrauchsfälle gegeben haben. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dazu wurden allerdings wegen Verjährung eingestellt.

Kardinals Marxs Schuldeingeständnis in der bayerischen Gemeinde hängt mit einer Recherche von CORRECTIV und dem ZDF-Magazin frontal zusammen, die im Februar 2020 bisher unbekannte Taten von H. aufdeckte sowie neue Verbindungen von H. zu dem nun mehr emeritierten Papstes Benedikt XVI.  aufzeigte.

Noch während der Recherche schrieb Gemeindepfarrer Hans Speckbacher Kardinal Marx einen Brief. In einer Notiz an das Reporterteam heißt es, „ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Kardinal Marx einen Brief geschrieben habe, ob er nicht nach Garching kommen möchte, um in einem schlichten Gottesdienst die (versäumten) Dinge anzusprechen und sich zu entschuldigen für die Versäumnisse der Diözese“.

Handschriftliche Notiz
Eine handschriftliche Notiz für das Rechercheteam (Foto: Michael Haselrieder)

Erschüttert von den Ergebnissen der Recherche organisierten sich auch die Gemeindemitglieder und gründeten nach dem ersten Besuch bei Kardinal Marx in München im März 2020 die Initiative Sauerteig, die sich seither für Aufklärung und Prävention in der Gemeinde einsetzt.

Wie die Recherchen zum Missbrauch eine Initiative „ins Rollen“ bringen

„Die Recherchen von CORRECTIV und frontal haben das Ganze ins Rollen gebracht“, sagt Rosi Mittermeier, Mitinitiatorin von Sauerteig. Die Entschuldigung vor der Gemeinde in Garching war für Kardinal Marx ein langer Weg. Noch 2018, bei der Vorstellung einer Missbrauchsstudie in Fulda, lehnte der Erzbischof von München und Freising eine persönliche Verantwortung ab. Im Juni dieses Jahres sprach er jedoch erstmals von persönlicher „Mitverantwortung“. Die Aufarbeitung der Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche sah er an einem „toten Punkt“ angekommen.

Marx bot Papst Franziskus auch seinen Rücktritt an. Das Oberhaupt der Katholischen Kirche lehnte Marxs Gesuch ab und empfahl ihm in einer erklärungsbedürftigen Formulierung, „das Fleisch auf den Grill“ zu legen.

In der Beschreibung der persönlichen Verantwortung blieb Marx aber auch bei dem Besuch in Garching vage. Manchmal habe er nicht genau hingeschaut, sagte Kardinal Marx während seines Besuchs in Garching auf einer Pressekonferenz, „das empfinde er als Schuld“.

Die genauen Verantwortlichkeiten sollen ein unabhängiges Gutachten im Auftrag des Bistums aufzeigen, das im Herbst veröffentlicht werden soll. Über den Fall H. werde wegen der Brisanz sogar ein eigenes Gutachten erstellt, sagte Marx in der Pressekonferenz.

Kardinal Marx in Garching: Erst Gespräche, dann eine Andacht.

Bei seinem Besuch in Garching traf sich Marx erst mit den Pfarrgemeinderäten, dann mit der Initiative Sauerteig, danach folgte die Andacht und die Pressekonferenz. Die Andacht sei nach Berichten von Gemeindemitgliedern und des Pfarrers Spechbacher sehr emotional gewesen. „Die Entschuldigung war für die Gemeinde sehr befreiend“, sagte Pfarrer Speckbacher. Ihm sei während der Andacht nach der ganzen Belastung die Tränen gekommen.

Nach der Andacht ging Markus Elstner aus Bottrop vor der Kirche auf den Kardinal zu. Elstner wurde als Junge in den 1970er Jahren von H. missbraucht, als H. in der Ruhrgebietsstadt als Kaplan seine Priesterkarriere begann. Elstner wollte von dem Kardinal wissen, warum der Priester H. nicht schon früher aus dem Verkehr gezogen wurde. Der Kardinal bat Elstner ihm zu schreiben.

In der Andacht soll Marx die Gemeinde auch aufgefordert haben, offen über den Missbrauch zu reden. „Es gibt immer noch Menschen, die meinen, die Kirche sonst zu verraten“, sagt Mittermeier von der Initiative Sauerteig. Die Aufforderung des Kardinals Marx zu Offenheit sei für die Aufarbeitung sehr wichtig gewesen.

Kardinal Marx erkannte bei dem Besuch die Gruppe Sauerteig in der Gemeinde als Partner bei der Aufklärung an und sah in der Eigeninitiative ein Modellversuch für andere Gemeinde in Deutschland. „Wenn der Schock nicht zu einer Reform führt, dann weiß ich nicht, wie groß der Schock sein muss“, sagte Marx.

Missbrauchsgutachten macht auch vor der Kirchenspitze nicht halt

Das im Herbst erwartete Missbrauchsgutachten soll laut einem Bericht von Süddeutscher Zeitung auch die Rolle der Kirchenspitze untersuchen. Das bezieht sowohl Kardinal Marx als auch den früheren Erzbischof von München und Freising, den heutigen Papst emeritus, mit ein.

Die Recherchen von CORRECTIV und frontal zeigten in Garching an der Alz und Engelsberg auch Verbindungen von H. zum damaligen Kardinal Ratzinger und heutigen Papst emeritus auf.

Ein Studienfreund von Ratzinger, Weihbischof Heinrich von Soden-Fraunhofen, betreute mit H. viele Jahre gemeinsam die Gemeinde Garching und Engelsberg. Wie kein anderer wusste von Soden von der Gefährlichkeit  Hs., warnte die Gemeinde jedoch nicht. Zudem soll es zu einem Treffen zwischen Ratzinger und H. in Garching gekommen sein, als Ratzinger im Jahre 2000 den Studienfreund kurz vor dessen Tod in Engelsberg besuchte. Der Papst emeritus dementierte die Begegnung nach Veröffentlichung der Recherche. Gleichzeitig bestätigte er den Besuch beim kranken Weihbischof und ließ ausrichten, dass es bekannt gewesen sei, dass H. in der Gemeinde war.

H. hatte nicht nur den Gemeindemitgliedern von der Begegnung mit Ratzinger erzählt, sondern dies auch in einer Befragung im Bistum Essen gesagt. Dieses Protokoll wurde 2012 nach Rom zur Glaubenskongregation „als Anlage zum Voruntersuchungsbericht“ geschickt. Auch H. wandte sich an die Glaubenskongregation und schrieb nach CORRECTIV und Frontal vorliegenden Unterlagen, dass er von sich aus nicht um die Entlassung aus dem Priesteramt bitten würde.

Die Aufklärung im Falle des Missbrauchs in der Katholischen Kirche muss weitergehen

Die Aussage von H. über ein angebliches Treffen mit Ratzinger scheint ihm lange Zeit nicht geschadet zu haben. 2014 entschied die Glaubenskongregation, der Ratzinger bis zu seiner Wahl zum Papst vorstand, „nach intensiver Beratung und Abwägung“ zugunsten von H. und gegen einen sofortigen Rauswurf des Priesters, wie aus einem Dokument der Glaubenskongregation hervorgeht.

Inzwischen befindet sich H. unter bischöflicher Aufsicht in Essen, auch das eine Folge der Recherchen. H. hat nie auf Anfragen von CORRECTIV und frontal reagiert. Als H. und der Weihbischof von Soden die Gemeinde in Garching leiteten, veranstalte H. Kindersegnungen und umgab sich mit Messdienern. In den Pfarrnachrichten erschienen immer wieder zwielichtige Fotos von Jungen, einmal sogar von zwei nackten Kleinkindern. Ratzingers Studienfreund von Soden schritt nicht ein, obwohl er genau von der Gefährlichkeit H. wusste.

Die Frage nach der Rolle von von Sodens belastet die Gemeinde in Engelsberg und Garching an der Alz bis heute. Die Menschen der Initiative Sauerteig erhoffen sich weitere Aufklärung. Die Entschuldigung von Kardinal Marx sei hoffentlich der Beginn eines guten Prozesses, sagt Rosi Mittermeier.