Faktencheck

Äußerungen von Joachim Gauck über seine Gefühle zu Deutschland werden aus dem Kontext gerissen

In Sozialen Netzwerken kursiert ein Video, in dem der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sagt, er schäme sich, Deutscher zu sein und hasse das Land. Seine Äußerungen werden ohne Kontext jedoch irreführend dargestellt: Gauck bezog sich nicht auf das heutige Deutschland, sondern auf die nationalsozialistische Vergangenheit.

von Paulina Thom

Ludwig Erhard Gipfel 2022 auf Gut Kaltenbrunn am Tegernsee.
Als Joachim Gauck begann, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, schämte er sich laut eigener Angabe dafür, Deutscher zu sein (Bild: Picture Alliance / Sven Simon, Frank Hoermann)
Behauptung
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck habe in einem Video gesagt: „Ich schäme mich sozusagen ein Deutscher zu sein, obwohl ich nichts verbrochen hatte. Aber meine geliebte deutsche Sprache wird mir verdächtig, weil aus dem Grund, aus dem diese schöne Literatur erwachsen ist, aus demselben Grund sind ja Übermut und Hass erwachsen und Mordgier in unglaublichem Maß. Und ich hasse und verachte das Land.“
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Die Aussage von Joachim Gauck bezog sich auf sein Auseinandersetzen mit dem Nationalsozialismus als Heranwachsender. In einem ZDF-Interview sprach er darüber, dass die Beschäftigung mit diesem Abschnitt der deutschen Geschichte eine „Phase des allertiefsten Erschreckens“ über sein „eigenes nationales Heim“ bewirkte.

Auf Facebook und auf Whatsapp verbreitete sich im Juli ein knapp 20-sekündiges Video des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Darin sagt er: „Ich schäme mich sozusagen ein Deutscher zu sein, obwohl ich nichts verbrochen hatte. […] Und ich hasse und verachte das Land.“ In einem Facebook-Beitrag wird Gauck deshalb als „Volksverräter“ bezeichnet.  

Dieser Videoausschnitt ist ohne Kontext jedoch irreführend. Gauck bezog sich mit seiner Aussage nicht auf die Gegenwart, sondern auf eine Zeit, in der er sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands auseinandersetzte.

Screenshot eines auf Facebook geteilten Beitrages
In dem auf Facebook geteilten Video sind die Aussagen des ehemaligen Bundespräsidenten aus dem Zusammenhang gerissen (Quelle: Facebook; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Aussagen von Joachim Gauck stammen aus einem Interview mit Markus Lanz – dieser fragte ihn zu seiner Vergangenheit 

Der Video-Ausschnitt mit der Aussage von Gauck wird ohne Angabe einer Quelle verbreitet. Über eine Suche nach „Joachim Gauck“ und dem Gesagten stießen wir auf ein Youtube-Video, in dem Gauck im Gespräch mit dem Moderator Markus Lanz zu sehen ist. 

Das Gespräch zwischen Lanz und Gauck fanden wir in der Mediathek des ZDF, es wurde am 13. Juli 2022 übertragen. In der relevanten Passage des Interviews spricht Gauck über sein Aufwachsen in der DDR und seine Erfahrung mit einem totalitären System. Gauck wuchs in der ehemaligen DDR auf, geboren wurde er im nationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1940 in Rostock. 

Gauck setzte sich mit Nationalsozialismus auseinander – in dem Zusammenhang macht er seine Aussagen

Gauck wird darauf angesprochen, dass sein Vater wegen angeblicher Kontakte nach Westdeutschland in ein sowjetisches Gefangenenlager deportiert wurde. Er erzählt schließlich, wie dieses Erlebnis und noch etwas anderes seine Gefühle gegenüber der Sowjetunion verändert hätten. 

Nun folgt der Ausschnitt (ab Minute 53:45), der aktuell im Netz kursiert: „Als ich etwas älter werde, lese ich all die Bücher über das, was die Generation meiner Eltern veranstaltet hat, in der Sowjetunion, aber auch gegenüber Deutschen, den deutschen Juden und den deutschen Dissidenten in der Nazi-Zeit. Und ich komme in eine Phase des allertiefsten Erschreckens über mein eigenes nationales Heim. Ich schäme mich sozusagen ein Deutscher zu sehen, obwohl ich nichts verbrochen hatte, aber meine geliebte deutsche Sprache wird mir verdächtig, weil aus dem Grund, aus dem diese schöne Literatur erwachsen ist, aus demselben Grund sind ja Übermut und Hass erwachsen und Mordgier in unglaublichem Maß. Und ich hasse und verachte das Land.“ 

Gauck spricht also über seine Gefühle, als er sich in jungen Jahren mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte. Die Erzählung findet zwar im Präsens statt, aber er bezieht sich offensichtlich auf die Vergangenheit. Wir haben bei dem Bundestagsbüro des ehemaligen Bundespräsidenten nachgefragt, wie Gaucks Aussage zu verstehen ist. Dort verwies man uns auf einen Faktencheck der DPA, der ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass Gauck sich auf die Vergangenheit bezog. 

Redigatur: Sarah Thust, Sophie Timmermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Video des gesamten Interviews von Markus Lanz mit Joachim Gauck, ZDF-Mediathek, 13. Juli 2022: Link