Nein, Berlins Bevölkerung holzt nicht den Tiergarten ab, um zu heizen
Russische Medien verbreiten die Behauptung, in Berlin würde die Bevölkerung den Stadtpark Tiergarten für Brennstoff abholzen. Das stimmt nicht, die Artikel geben einen Bloomberg-Bericht falsch wieder.
Die Kacke sei am dampfen, findet eine Facebook-Nutzerin. Der Grund dafür: Die Berlinerinnen und Berliner würden den Tiergarten abholzen, um die Bäume zu verheizen. Die Nutzerin stützt sich dabei auf einen russischen Medienbericht. „Nahezu alle“ Bäume seien schon gefällt worden, schreibt sie.
Auch weitere russische Webseiten haben die angebliche Neuigkeit veröffentlicht. Sie stützen sich auf einen Artikel des Nachrichtensenders Bloomberg, in dem das so aber gar nicht steht. Dort heißt es lediglich, dass im Zweiten Weltkrieg Bäume des Tiergartens als Brennmaterial verwendet wurden.
Russische Medien geben Bloomberg-Artikel falsch wieder
Live-Bilder einer Webcam, die auf den Tiergarten gerichtet ist, zeigen außerdem: Die Bäume im Tiergarten stehen noch. Die Live-Kamera, die den Tiergarten aufnimmt, befindet sich im Hansaviertel und filmt über die S-Bahn-Brücke, die über das westliche Ende des Parks führt. Dass dort aktuell Bäume stehen, ist deutlich zu sehen.
Auch die zuständigen Behörden wissen nichts von einer Abholzung. Ein Mitarbeiter vom Bezirksamt Berlin Mitte aus dem Fachbereich Denkmalschutz schreibt uns: Dass es eine wilde Abholzung durch Berlins Bevölkerung gegeben habe, sei nicht bekannt. Behörden hätten kein Holz gefällt, um Brennstoff zu gewinnen. Das verbiete unter anderem das Denkmalschutzgesetz – immerhin ist der Tiergarten ein sogenanntes Gartendenkmal. Er schreibt außerdem: „In Berlin gibt es in der Innenstadt zudem nahezu keine Öfen mehr, die mit Holz beheizt werden könnten.“
Die russischen Berichte, die das Gegenteil behaupten, erschienen beinahe zeitgleich und verweisen als einzige Quelle auf einen Bloomberg-Artikel. In dem steht allerdings nicht, dass der Tiergarten gegenwärtig abgeholzt werde.
Im Bloomberg-Artikel heißt es, dass Holz als Brennstoff in Europa wieder an Beliebtheit gewinnen würde. In dem Zusammenhang wird auf die Situation im Zweiten Weltkrieg verwiesen: „In Berlin weckt die Krise beunruhigende Erinnerungen an die Trostlosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts der Brennstoffknappheit fällten die Bewohner fast alle Bäume im zentralen Tiergarten, um zu heizen.“ Das passiere aktuell nicht, heißt es explizit im Artikel.
Der historische Kontext ist korrekt. In der Deutschen Digitalen Bibliothek sind Fotos verfügbar, die den damals abgeholzten Tiergarten zeigen. Auf einem Foto des Lebendigen Museums ist zu sehen, wie die Bevölkerung die gerodeten Flächen für den Gemüseanbau nutzte.
Ein Medium änderte inzwischen seinen Artikel, andere bleiben dabei
Die nun kursierenden Berichte verzerren den Text von Bloomberg und machen daraus Titel wie: „Die Deutschen haben wegen der Krise fast alle Bäume im Tiergarten in Berlin gefällt.“ Der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg fehlt, auch in den Texten selbst.
Jener Artikel, den die eingangs erwähnte Facebook-Nutzerin teilte, wurde mittlerweile geändert. Der Titel auf dem Screenshot lautet übersetzt: „Bloomberg: Im Berliner Tiergarten haben Anwohner fast alle Bäume gefällt und interessieren sich nun für Gülle“. Das wurde geändert zu: „Bloomberg: Die wegen der Energiekrise verzweifelten Europäer kehren zum ältesten Brennstoff zurück.“ Auch in dem Text selbst wird der Bezug zum Zweiten Weltkrieg bereits zu Beginn deutlich, anders als in der Version auf dem Screenshot der Facebook-Nutzerin.
Redigatur: Viktor Marinov, Steffen Kutzner
Update, 24. Oktober 2022: Ein Mitarbeiter vom Denkmalschutz Berlin Mitte meldete sich nach der Veröffentlichung des Artikels auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck zurück. Wir haben seine Antwort ergänzt.