Ukraine: Fotos zeigen eine medizinische Schulung, keine inszenierten Kriegswunden
Bilder von einer Frau voll Kunstblut sollen beweisen, dass in der Ukraine Kriegsverletzungen inszenieren würden, damit westliche Medien die Fotos verbreiten können. Doch die Aufnahmen entstanden bei einer medizinischen Schulung im Jahr 2016.
Erneut wird Menschen aus der Ukraine vorgeworfen, Verletzungen als Folge des Krieges nur zu inszenieren. Es ist ein Narrativ, das wir seit Monaten immer wieder beobachten, zum Beispiel nach Angriffen auf Mariupol im März oder nach Raketenangriffen auf Kiew im Oktober. Im aktuellen Fall wird behauptet, dass Fotos einer verletzten Frau gestellt würden, damit diese dann in westlichen Medien verbreitet werden könnten. Die Behauptung kursiert international in verschiedenen Varianten gemeinsam mit einer Collage aus vier Fotos in Sozialen Netzwerken.
Zu sehen ist auf zwei Bildern, wie eine Frau einer anderen Frau rote Farbe oder Kunstblut auf Gesicht und Hals aufträgt, auf einem dritten Foto albern die beiden herum, und auf dem letzten wird die vermeintlich verletzte Frau am Boden liegend von uniformierten Personen medizinisch versorgt. Dazu heißt es in Beiträgen auf Facebook, das sei ein „Element der modernen Informationskriegsführung und professionellen Propagandamaschinerie“.
Die Fotos zeigen aber keine Inszenierung von Kriegsopfern, sondern eine Erste-Hilfe-Schulung im Jahr 2016 in der Ukraine. Wir fanden zudem keine Beiträge von westlichen Medien, die die Fotos verwendet hätten. Das entkräftet die Behauptung, diese würden die inszenierten Bilder nutzen, um über den Krieg in der Ukraine zu berichten.
Emblem auf der Uniform führt zu einem ukrainischen Ausbildungszentrum für Erste Hilfe
Ein erster Ansatzpunkt, um herauszufinden, wann und wo die Fotos entstanden sind, ist das Emblem, das eine der Frauen auf ihrer Jacke trägt. Das Faktencheck-Team von Mimikama stieß bei Recherchen nach dem Aufnäher auf das Logo des 44 Trainingscenter.
Das 44 Trainingscenter ist ein Ausbildungszentrum mit Sitz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Laut seiner Webseite führt das Zentrum Schulungen für Streitkräfte, die Nationalgarde, Wachen, Freiwilligenbataillone, das Innenministerium und die Streifenpolizei durch. Dabei gehe es unter anderem um Erste Hilfe und das Überleben unter extremen Bedingungen. Bei den Schulungen setze man Puppen und Simulationsübungen ein.
Auf der Webseite und auf der Facebook-Seite der Organisation sind zahlreiche Fotos zu finden, unter anderem solche, die Personen zeigen, die offenbar als Verletzte geschminkt oder verkleidet wurden. Die Fotos aus der Collage sind nicht dabei. Wir fanden aber bei der Recherche weitere Hinweise, die belegen, dass die Fotos in einem Medizin-Kurs vor sechs Jahren entstanden sind.
Ein Foto der geschminkten Frau wurde 2016 auf Instagram veröffentlicht
Wir stießen durch eine Bilderrückwärtssuche auf den Text des finnischen Sicherheitsexperten Janne Ahlberg, der auf seinem Blog Hoaxeye regelmäßig Faktenchecks veröffentlicht. Er hat eines der Originalbilder auf Instagram gefunden.
Die Nutzerin veröffentlichte es am 12. Juni 2016, und am selben Tag ein weiteres Bild, das die beiden Frauen in derselben Kleidung zeigt. Eine von ihnen hat dieselben geschminkten Verletzungen am Körper und im Gesicht. Für ihren Beitrag verwendete die Frau unter anderem die Hashtags #tccc_training und #44tc. Diesen Hashtag nutzt auch das Instragramprofil mit dem Namen 44tc_emsa – der Account des ukrainischen Ausbildungszentrums.
Die Nutzerin ist laut ihrer Instagram-Biografie „kampfmedizinische Veteranin in der Ukraine“, laut ihrem Facebook-Profil arbeitete sie unter anderem als medizinische Leiterin bei der Erste-Hilfe-Organisation Taccat.
Auf Twitter schrieb die Frau am 25. November 2022 – also wenige Tage, nachdem sich die Foto-Collagen anfingen zu verbreiten: „Feindliche Propagandisten haben meine Trainingsfotos von 2016 von Instagram gestohlen.“ Auch auf Facebook veröffentlichte sie ein Bild der Behauptung, über das dick „Fake“ geschrieben steht.
Wir haben ihr auf Instagram geschrieben und sie um weitere Informationen zu den Bildern gebeten. Sie antwortete mit der Nachricht: „Eine Publikation von 44tc zu diesem Kurs“ und schickte drei Facebook-Links. Zwei davon führen zu Beiträgen, die entweder gelöscht wurden oder nur für einen eingeschränkten Personenkreis sichtbar sind. Doch der dritte führt zu einer Fotostrecke des Ausbildungszentrums vom 13. Juni 2016. 20 Personen, so heißt es in dem Beitrag, hätten die „Ausbildung zur taktischen Medizin“ nach dem Standard TCCC absolviert, dabei habe man „Extras und Dummies“ verwendet.
Taktische Medizin ist die Versorgung von Verwundeten unter Gefechtsbedingungen. TCCC steht für Tactical Combat Casualty Care, eine bestimmte Versorgung von Verwundeten im Gefecht.
44 Trainingscenter veröffentlichte im Juni 2016 weitere Fotos der medizinischen Schulung
Unter den Bildern, die das Ausbildungszentrum auf Facebook veröffentlichte, sind zwar nicht jene, die aktuell in der Collage geteilt werden – aber ein anderes Foto vom 13. Juni 2016, das dieselbe Frau mit den geschminkten Verletzungen zeigt. Mehrere Details stimmen auf diesem Bild mit der Collage überein, etwa Haarschnitt und Haarfarbe, das weiße T-Shirt, die fransige Blue-Jeans und der Schmuck am rechten Handgelenk.
Auf Anfrage schickte uns das Trainingscenter weitere Fotos von dem Tag, mit der Info, dass diese am 12. Juni 2016 in Kiew aufgenommen worden seien.
Die Nutzerin schickte uns auch den Link zum Instagram-Profil jener Frau, die das Opfer dargestellt hatte. Diese veröffentlichte am 12. Juni 2016 ein weiteres Foto von dieser Schulung, ein Selfie von sich mit dem Kunstblut beschmiert.
Diese Frau wurde auch auf den Fotos markiert, die das Trainingcenter 2016 auf Facebook veröffentlichte. In ihrem Facebook-Steckbrief steht, sie arbeite unter anderem beim 44 Trainingscenter. Auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck auf Instagram schrieb sie ebenfalls von simulierten Wunden. Sie schickte uns außerdem zahlreiche Links zu Fotos aus den Jahren 2016 und 2017 – darunter ihr Selfie vom Schulungstag am 12. Juni 2016 – und schrieb, all das zeige Trainings in taktischer Medizin.
Fazit: Die vier Fotos zeigen nicht, dass die Ukraine Kriegsopfer inszeniert oder Bildmaterial von Verletzten gestellt wird, sondern eine medizinische Schulung im Juni 2016. Eines der aktuell verbreiteten Fotos wurde schon 2016 auf Instagram veröffentlicht. Auf der Facebookseite des Trainingszentrums, das den Kurs veranstaltet hat, gibt es weitere Fotos der Schulung. Auch die beiden abgebildeten Frauen veröffentlichten schon damals Bilder aus dem Kurs.
Die Fotos wurden auch nicht wie behauptet von westlichen Medien verwendet – wir fanden keine Belege, dass die Bilder in der aktuellen Berichterstattung genutzt würden.
Redigatur: Uschi Jonas, Alice Echtermann
Update, 2. Januar 2023: Das 44 Trainingscenter meldete sich nach Veröffentlichung des Artikels auf unsere Anfrage und schickte weitere Aufnahmen der Schulung. Wir haben das im Text ergänzt.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Webseite des 44 Trainingscenter: Link (Ukrainisch, archiviert)
- Foto der Erste-Hilfe-Übung aus von Juni 2016 auf der Facebook-Seite des 44 Trainingscenter: Link (archiviert)