12. Dezember 2022
Nato-Osterweiterung. Seit 35 Jahren geistert dieses Wort durch die Osteuropapolitik. Russische Politiker benutzen es gern in Zusammenhang mit einem angeblichen Wortbruch des Westens – auch Putin. Er rechtfertigt damit auch seinen Krieg gegen die Ukraine. Angeblich habe sich die Nato nie nach Osten ausweiten dürfen. Aber stimmt das?
„Es ist ganz klar, es gibt nichts im Völkerrecht, was die Aggression Russlands rechtfertigen würde“, erklärt Paulina Starski, Professorin für Verfassungs- und Völkerrecht an der Universität Freiburg. Putin habe für seinen Einmarsch in die Ukraine die „Sprache des Völkerrechts missbraucht“, sagt Anne Peters, Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
Dennoch führt der Kreml immer wieder Scheingründe für den Einmarsch in die Ukraine an. Einer der prominentesten: Russland habe sich gegen die Osterweiterung der Nato verteidigen müssen. In seiner Ansprache ans Volk am Abend vor Kriegsbeginn im Februar 2022 sagte Putin, die Nato müsse sich in Europa auf den Stand von 1997 zurückziehen. Ein möglicher Nato-Beitritt der Ukraine sei „eine direkte Bedrohung für die Sicherheit Russlands“. Der Westen breche das Versprechen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, behauptete Putin schon 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz.
Auch in Sozialen Netzwerken findet diese Sichtweise Unterstützung. Beim ehemaligen FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache klang das wenige Tage vor Kriegsbeginn auf Facebook so: „Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es eine Nato-Osterweiterung, Stück für Stück in Richtung der Grenzen Russlands. Obwohl damals – vor allem auch im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung – zugesagt wurde, dies von Seiten der Nato zu unterlassen.“ Markus Haintz, Anwalt aus dem Coronaleugner-Netzwerk, schrieb am 24. Februar, dem ersten Tag des russischen Angriffskriegs, auf Twitter: „Die Nato hat an der russischen Grenze nichts zu suchen und war, ist, und wird wohl auch noch für lange Zeit ein Kriegsbündnis sein, wenn wir das nicht stoppen.“ Bis heute stellen auch pro-russische Telegram-Kanäle, die Desinformation und Propaganda streuen, die Nato-Osterweiterung als legitimen Kriegsgrund dar.
CORRECTIV.Faktencheck
CORRECTIV.Faktencheck ist eine eigenständige Redaktion des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV. Wir setzen uns ein gegen Desinformation im Netz und klären Menschen auf, wie sie sich selbst vor Falschmeldungen schützen können. Wir sind Teil eines internationalen Netzwerks von Faktenprüfern, dem IFCN des US-amerikanischen Poynter Instituts.
Die Behauptung um die angeblich unrechtmäßige Ausdehnung der Nato Richtung Osteuropa wird schon seit Jahrzehnten wiederholt. Ein zentrales Motiv darin lautet, der Westen habe Russland immer wieder zugesichert, es werde keine Osterweiterung der Nato geben. Nicht nur Putin, sondern auch seine Amtsvorgänger behaupteten das bereits. Klar ist aber: Einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der eine solche Abmachung enthält, gibt es nicht. Im Gegenteil: Russland hat sich durch mehrere Verträge dazu verpflichtet, die staatliche Souveränität anderer Länder zu akzeptieren, insbesondere die der Ukraine.
Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um das Narrativ des angeblich gebrochenen Versprechens des Westens, zeigen, welche Personen dabei eine Rolle spielten und was heute in der historischen Forschung über verschiedene Treffen zwischen Ministern und Präsidenten bekannt ist. Wir haben dafür Akten, Beschlüsse und Verträge gelesen und mit Historikern, Politikwissenschaftlern und Russland-Experten gesprochen.
Die Kurzfassung: Gesagt wurde viel, vereinbart nur wenig.
Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um den Streit um die Nato-Osterweiterung
- Was ist die Nato?
- Was war der Warschauer Pakt?
- Hat sich die Nato seit Ende des Kalten Kriegs nach Osten erweitert?
- Weshalb hat Russland nie darauf bestanden, dass das Nato-Erweiterungsverbot schriftlich festgehalten wird?
- Weshalb spielt Putin die Karte der Osterweiterung erst jetzt?
- Chronologie zur Debatte um die Nato-Osterweiterung
- Wer war an welchen Gesprächen und Verhandlungen beteiligt?
- Welche mündlichen Zusagen wurden im Zusammenhang mit der Nato-Osterweiterung gemacht?
- Was haben Kohl und Baker Gorbatschow 1990 versprochen?
- Was wurde im Zusammenhang mit der Nato-Osterweiterung schriftlich festgehalten?
- Weitere wichtige Fragen und Antworten
Was ist die Nato?
Nato ist die Abkürzung für „North Atlantic Treaty Organization“ und wird im Deutschen oft als Nordatlantikpakt übersetzt. Die Nato ist ein 1949 von den USA, Kanada und zehn europäischen Staaten gegründetes Verteidigungsbündnis. Sein Ziel ist, gemeinsam die Souveränität der Mitgliedstaaten zu schützen und militärische und politische Sicherheit und Stabilität im Nordatlantik und Europa zu garantieren. Die Grundlage dafür bildet der Nordatlantikvertrag.
Nach der Gründung kamen bis 1982 vier weitere europäische Staaten hinzu, darunter 1955 die Bundesrepublik Deutschland. Danach folgten ab 1999 in fünf Erweiterungsrunden Länder Mittel- und Osteuropas. Um den Beitritt eben jener Länder dreht sich der Streit um die Nato-Osterweiterung. Aktuell sind 30 Länder Mitglied der Nato. Als Gegenbündnis wurde 1955 der Warschauer Pakt gegründet.
Was war der Warschauer Pakt?
Der Warschauer Pakt ist das Gegenstück zur Nato: Das Militärbündnis wurde 1955 zwischen kommunistischen Ländern des Ostblocks geschlossen, konkret zwischen der Sowjetunion, Albanien, Bulgarien, der DDR, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn. Im Sommer 1991 wurde der Warschauer Pakt aufgelöst.
Hat sich die Nato seit Ende des Kalten Kriegs nach Osten erweitert?
Ja. Die erste Erweiterungsrunde fand 1999 statt. Es wurden mit Polen, Tschechien und Ungarn drei ehemalige Mitglieder des 1991 aufgelösten Warschauer Pakts aufgenommen. Bei der nächsten Erweiterung im Jahr 2004 folgten gleich sieben osteuropäische Staaten, von denen mehrere ehemalige Sowjetrepubliken sind oder die im Warschauer Pakt waren: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Beim Nato-Gipfel 2008 hatte die Nato auf Drängen des damaligen US-Präsidenten George W. Bush auch Georgien und der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt; der Kreml sprach daraufhin von einem „schweren strategischen Fehler“ der Nato. Zum Beitritt gekommen ist es bisher nicht, unter anderem, weil sich Bundeskanzlerin Angela Merkel damals gegen eine Mitgliedschaft der zwei Länder aussprach.
2009 folgten Albanien, das den Warschauer Pakt Ende der 1960er Jahre verlassen hatte, und Kroatien, das nie Mitglied gewesen war. 2017 folgten Montenegro und 2020 Nordmazedonien, die jedoch ebenfalls keine ehemaligen Sowjetrepubliken und nicht im Warschauer Pakt waren.