Faktencheck

Nein, es sind nicht 400.000 Deutsche wohnungslos

Es sei paradox, dass die SPD für Familiennachzug werbe, obwohl 400.000 Deutsche ohne Wohnung und festen Mietvertrag seien, heißt es in Sozialen Netzwerken. Doch diese Zahl stimmt laut offiziellen Angaben nicht.

von Steffen Kutzner

Armut - Bettler
Wohnungslosigkeit durch zu wenig bezahlbaren Wohnraum ist gerade in Ballungsgebieten und Großstädten ein Problem (Symbolbild: Picture Alliance)
Behauptung
Die SPD werbe für Familiennachzug von Geflüchteten, obwohl 400.000 Deutsche ohne Wohnung und festen Mietvertrag seien.
Bewertung
Größtenteils falsch
Über diese Bewertung
Größtenteils falsch. Es gab nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 2020 zwar rund 400.000 wohnungslose Menschen, davon sind jedoch nicht alle Deutsche. Laut der Wohnungslosenhilfe und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist die Zahl wohnungsloser Deutscher nur etwa halb so groß.

„Paradox: 400.000 Deutsche ohne Wohnung und festen Mietvertrag und die SPD wirbt für Familiennachzug von Flüchtlingen“, heißt es in einer Behauptung, die aktuell wieder auf Facebook kursiert. Sie taucht seit Jahren immer wieder auf. So teilte die AfD Diepholz die Behauptung schon 2018 auf Twitter.

Mit den Zahlen soll Stimmung gegen Geflüchtete gemacht werden. Doch die Behauptung greift heute wie damals zu kurz, denn die Angaben stimmen so nicht und es fehlt wesentlicher Kontext zur Erhebung. 

Diese Behauptung kursiert seit Jahren in Sozialen Netzwerken (Quelle: Facebook; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Hohe Mieten „zentraler Grund“ für Wohnungslosigkeit 

In der Behauptung ist von „Deutschen ohne Wohnung und festen Mietvertrag“ die Rede. In diesen Fällen spricht man laut der Diakonie Deutschland übergreifend von „wohnungslosen Menschen“. Die Diakonie nennt als Gründe für Wohnungslosigkeit unter anderem wirtschaftliche Notlagen, Krankheit oder Haftentlassung. Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) erklärte uns gegenüber, dass „das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum ein ganz zentraler Grund für Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit“ sei. Die BAG W ist ein Verein von Organisationen und Einrichtungen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten.

Richtig ist, dass es in Deutschland einen Wohnraummangel gibt, wie etwa das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen auf seiner Webseite erklärt. Das ist laut dem Ministerium vor allem in Großstädten und Ballungsräumen ein Problem. Eine Studie des Pestel-Instituts und des Bauforschungsinstituts ARGE von Januar 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass momentan etwa 700.000 Wohnungen fehlen, ganz besonders Sozialwohnungen.

Focus-Artikel von 2017 mutmaßlicher Ausgangspunkt für die Behauptung – Zahl wohnungsloser Deutschen deutlich niedriger

Sucht man bei Google nach „400.000 Deutsche ohne Wohnung und festen Mietvertrag“, findet sich ein Artikel des Focus aus dem Jahr 2017. Mutmaßlich ist er Ausgangspunkt der Behauptung, die seit mehreren Jahren kursiert. „Mehr als 400.000 Deutsche leben ohne Wohnung und Mietvertrag“, heißt es im Titel. Der Artikel bezieht sich auf Daten des BAG W. Bei genauerem Lesen wird jedoch klar, dass die Zahlen sich auf „Menschen in Deutschland“ beziehen, nicht nur auf Deutsche: 2016 besaßen demnach rund 422.000 Menschen in Deutschland weder einen Mietvertrag noch Wohneigentum. 

Die aktuellste Schätzung des BAG W von 2020 gibt die Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland mit etwa 417.000 an und liefert wichtige Aspekte zur Erhebung. Denn davon sind laut Schätzung knapp 161.000 anerkannte Geflüchtete – die demnach in Gemeinschaftsunterkünften leben oder dezentral unterkommen. Und knapp 80.000 Menschen oder rund 30 Prozent der 256.000 erfassten wohnungslosen Menschen hatten nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Das heißt: Rund 176.000 Deutsche waren 2020 laut dieser Statistik wohnungslos. Bei dieser Zahl handelt es sich um die sogenannte Jahresgesamtzahl, die auch wohnungslose Menschen erfasst, die nicht zum Stichtag, sondern irgendwann in dem betreffenden Jahr wohnungslos waren. Sie ist laut BAG W „immer deutlicher höher“ als die Stichtagszahl.

Zum Vergleich: Laut der aktuellsten Schätzung der BAG W gab es zum Stichtag 30. Juni 2020 158.000 Wohnungslose (anerkannte Geflüchtete ausgenommen) beziehungsweise 306.000 wohnungslose Menschen (anerkannte Geflüchtete mit einbezogen).

Schätzungen gehen leicht auseinander

Der Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gibt zum Stichtag 31. Januar 2022 etwas andere Zahlen an. Demnach gab es 262.600 Wohnungslose in Deutschland. Etwa 37.400 davon lebten auf der Straße oder in Behelfsunterkünften, der Rest kommt bei Bekannten oder im System der Wohnungsnotfallhilfe unter, wie es in dem Bericht heißt (Seite 10). Allerdings hätten 29 Prozent davon nicht die deutsche Staatsbürgerschaft (Seite 29). Demzufolge wären etwa 186.500 Deutsche wohnungslos. Der Großteil der nichtdeutschen Wohnungslosen komme aus anderen EU-Staaten. 

Tabelle aus dem Wohnungslosenbericht des Sozialministeriums (Seite 56) (Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales / Wohnungslosenbericht 2022; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Differenz der Angaben kann durch verschiedene Erhebungsmethodiken entstehen. Und das BAG W bezieht sich auf 2020, das Ministerium dagegen auf 2022. Das Schätzmodell der BAG W wurde seit 2018 zudem überarbeitet, wie es in einer Pressemitteilung der BAG W von 2019 heißt.

Weder die Schätzung des Ministeriums (186.500) noch die der BAG W (176.000) kommt auch nur annähernd auf 400.000 wohnungslose Deutsche. 

Familienzusammenführung Teil des Koalitionsvertrags in 2018

Die Familien von Geflüchteten, die über den Familiennachzug nach Deutschland kommen, haben zunächst keine deutsche Staatsbürgerschaft. Die Familienzusammenführung kann im Normalfall nur dann beantragt werden, wenn der in Deutschland lebende Geflüchtete den Lebensunterhalt für sich und seine Angehörigen sichern kann, was bei wohnungslosen Personen im Normalfall nicht vorliegen dürfte.

Familienzusammenführungen waren Teil des Koalitionsvertrags zwischen SPD und CDU von 2018, wie die SPD-Fraktion uns auf Anfrage erklärte. Als Teil des sogenannten Asylpakets 2 setzte die Koalition den Familiennachzug 2016 für zweieinhalb Jahre aus. Geflüchtete, die nicht „unmittelbar persönlich verfolgt“ wurden, durften keine Familienangehörigen nachholen. Im zweiten Halbjahr 2018 wurden konkrete Maximalgrenzen für den Familiennachzug festgelegt. Diese Kontingente von 1000 Menschen pro Monat gelten bis heute, wie uns von Seiten der SPD-Fraktion bestätigt wird. 

Redigatur: Viktor Marinov, Sophie Timmermann