Faktencheck

Nein, Geflüchtete aus der Ukraine erhalten Sozialleistungen nicht ohne Ausweis

Auf Tiktok behauptete ein Nutzer, ukrainische Geflüchtete hätten in Deutschland „unglaubliche Rechte“. Um sich als Flüchtling zu registrieren, müssten sie keinen Ausweis besitzen und für den Bezug von sozialen Leistungen, wie etwa Kindergeld, würden eine Meldebescheinigung und ein deutsches Konto reichen. Ob es die Kinder wirklich gäbe, werde nicht geprüft. Doch diese Behauptungen sind größtenteils falsch.

von Paulina Thom

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Ein Tiktok-Nutzer behauptete unter anderem, Geflüchtete aus der Ukraine würden für soziale Leistungen, wie Kindergeld oder Hartz IV, keinen Pass benötigen. Doch das stimmt nicht. (Quelle: Marcus Brandt / DPA / Picture Alliance)
Behauptung
Jede Person, die Ukrainisch spreche, könne sich in Deutschland ohne Ausweis als Flüchtling registrieren. Um eine Meldebescheinigung zu erhalten, sei ebenfalls kein Ausweis notwendig. Eine Meldebescheinigung reiche anschließend aus, um ein Konto zu eröffnen und Hartz IV, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Elterngeld und Wohngeld zu beziehen. Es sei zudem möglich, Kindergeld für nicht existente Kinder zu erschleichen.
Bewertung
Größtenteils falsch
Über diese Bewertung
Größtenteils falsch. Zwar sind Geflüchtete aus der Ukraine bis zum 31. Mai 2023 von der Passpflicht befreit, das bedeutet aber nicht, dass bei der Registrierung ihre Identität nicht geprüft wird. Ukrainisch zu sprechen, reicht dafür nicht aus, es erfolgt eine biometrische Erfassung über Fingerabdrücke und Foto. Wer keinen Ausweis besitzt, muss seine Identität über andere Dokumente nachweisen. Für eine Meldebescheinigung wird ein Ausweis oder eine biometrische Registrierung benötigt. Auch für die Kontoeröffnung benötigen Geflüchtete aus der Ukraine ein Passdokument. Wer soziale Leistungen in Anspruch nehmen möchte, muss eine Aufenthaltserlaubnis nachweisen. Voraussetzung für die Aufenthaltserlaubnis ist ein Pass oder Passersatz. Beim Kindergeld prüfen Behörden in Deutschland mittels Geburtsurkunde und Steueridentifikationsnummer, ob ein Kind wirklich existiert.

„Ukrainische Flüchtlinge haben in Deutschland unglaubliche Rechte“, hieß es in einem Video auf Tiktok, das mehr als 300.000 Aufrufe hatte und mittlerweile gelöscht ist. Darin behauptete ein Nutzer, dass sich in Deutschland jede Person, die Ukrainisch spreche, ohne einen Ausweis als Flüchtling registrieren könne. Auch für eine Meldebescheinigung bräuchten Geflüchtete aus der Ukraine keinen Ausweis. Anschließend könnten sie mit der Meldebescheinigung ein Konto eröffnen und verschiedene Sozialleistungen, wie Hartz IV, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Elterngeld und Wohngeld beziehen. Im Falle des Kindergeldes werde nicht geprüft, ob die Kinder wirklich existieren, behauptete der Nutzer weiter.

Wir haben uns die angeblichen Sonderprivilegien aus der Ukraine geflüchteter Menschen genauer angeschaut. Das Ergebnis: Zwar sind sie vorerst bis zum 31. Mai 2023 von der Passpflicht befreit, bei ihrer Registrierung findet aber eine Identitätsprüfung statt. Für eine Meldebescheinigung müssen sich Geflüchtete aus der Ukraine ausweisen oder biometrisch registrieren lassen. Der Erhalt sozialer Leistungen ist an eine Aufenthaltserlaubnis gebunden. Diese wird nur erteilt, wenn ein Pass- oder Passersatzdokument vorliegt. Auch für die Eröffnung eines Kontos ist ein solches Dokument notwendig. Anders als der Nutzer behauptet, prüfen die deutschen Behörden bei einem Kindergeldantrag anhand der Geburtsurkunde und Steueridentifikationsnummer, ob ein Kind wirklich existiert.

Screenshot des Tiktok-Videos
Das Tiktok-Video, in dem ein Nutzer falsche Behauptungen zu angeblichen Privilegien Geflüchteter aus der Ukraine aufstellte, hatte mehr als 300.000 Klicks (Quelle: Tiktok; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Bei der Registrierung einer geflüchteten Person aus der Ukraine erfolgt eine biometrische Erfassung

Zu Beginn des Videos auf Tiktok behauptet der Nutzer, ein ukrainischer Flüchtling brauche in Deutschland keinen Ausweis oder Reisepass, um sich zu registrieren. Was stimmt: Seit der russischen Invasion in die Ukraine gelten für Geflüchtete aus der Ukraine Sonderregelungen. 

Laut einem Schreiben des Bundesministeriums des Innern (BMI) sind Geflüchtete aus der Ukraine seit dem 18. März 2022 von der Passpflicht befreit. Folglich sind „die Einreise und der Aufenthalt ohne einen gültigen und anerkannten Pass oder Passersatz […] nicht als unerlaubt anzusehen“. Geflüchtete aus der Ukraine dürfen visumfrei nach Deutschland einreisen und sich hier für 90 Tage aufhalten. Diese Regelung gilt nach der Webseite des Auswärtigen Amtes vorerst bis zum 31. Mai 2023.

Registrieren müssen sich Geflüchtete aus der Ukraine erst, wenn sie Sozialleistungen benötigen, wenn sie arbeiten wollen und wenn sie länger als 90 Tage in Deutschland bleiben möchten. Zusätzlich wird hierfür eine Aufenthaltserlaubnis benötigt. Anders als der Nutzer behauptet, reicht die Registrierung nicht aus, um Sozialleistungen zu beziehen. Auch erhalten Geflüchtete bei der Registrierung nicht direkt einen Passersatz.

Die Registrierung kann laut Bundesministerium für Flüchtlinge und Migration (BAMF) zum Beispiel bei einer Aufnahmeeinrichtung oder der Polizei erfolgen. Dabei handelt es sich laut BMI um eine biometrische Registrierung, bei der Fotos und Fingerabdrücke der Person aufgenommen werden. Die Daten werden abgeglichen, um etwa Mehrfachanträge zu vermeiden, und im Ausländerzentralregister gespeichert. Auf dieses Register können Ausländer- und Sozialbehörden zugreifen, wie uns das BMI auf Nachfrage mitteilte. 

Für die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis ist ein Passdokument notwendig 

Eine Aufenthaltserlaubnis müssen Geflüchtete aus der Ukraine bei einer Ausländerbehörde oder online über das Portal Germany4Ukraine des BMI beantragen. Die Aufenthaltserlaubnis gilt zunächst für zwei Jahre. Bis zu ihrer Ausstellung erhalten Geflüchtete mit der sogenannten „Fiktionsbescheinigung“ ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht. 

Für die Beantragung der Aufenthaltserlaubnis wird laut Online-Portal ein „Nachweis über die Staatsangehörigkeit“ zum Beispiel in Form eines Reisepasses oder ein ukrainisches Personaldokument verlangt. Wer über kein Dokument verfügt, muss sich vor Ort an eine Ausländerbehörde wenden. 

Wir haben in mehreren Bundesländern nachgefragt, wie der Ablauf ist, wenn geflüchtete Personen aus der Ukraine über keinen Pass verfügen. Aus Sachsen-Anhalt und Bayern teilte man uns mit, dass der Nachweis der ukrainischen Staatsangehörigkeit auch über andere mitgeführte Unterlagen – wie zum Beispiel einen Führerschein oder eine Geburtsurkunde – möglich sei. Verfügt eine Person über gar keine Dokumente für den Identitätsnachweis, werde sie an die ukrainische Botschaft verwiesen, um dort Ersatzpapiere zu beantragen, hieß es aus Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt. 

Wie uns das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BAMS) mitteilte, prüfen die Ausländerbehörden „nach den Umständen des Einzelfalls, ob es für den Betroffenen zumutbar ist, von den Auslandsvertretungen seines Heimatstaates einen Pass zu erhalten“. Sei dies nicht zumutbar, komme die Aus­stellung eines deutschen Passersatzes (der sogenannte „Reiseausweis für Ausländer“, Anm. d. Redaktion) in Betracht. Dabei finde eine „Identitätsfeststellung des Betroffenen“ statt, bei der dieser eine Mitwirkungspflicht habe. Die geflüchtete Person müsse durch Urkunden oder sonstige Unterlagen ihre Identität und Staatsangehörigkeit nachweisen. 

Für eine Meldebescheinigung wird ein Ausweis oder eine Registrierung bei der Ausländerbehörde benötigt 

Dem Nutzer auf Tiktok zufolge können Geflüchtete aus der Ukraine ohne Ausweis eine Meldebescheinigung erhalten. Das BMI schickte uns auf Anfrage ein PDF-Dokument, das den Vorgang erläutert. 

Demnach müssen Geflüchtete aus der Ukraine unter anderem einen biometrischen Reisepass oder andere Identitätsdokumente für alle Familienangehörigen zur Anmeldung eines Wohnsitzes vorlegen. Personen, die nicht über solche Dokumente verfügen, müssen „vor der Anmeldung bei der Meldebehörde zuerst die Registrierung bei der Aufnahmeeinrichtung / Ausländerbehörde durchführen“. Wie bereits erklärt, beinhaltet diese Registrierung eine biometrische Erfassung der Person. 

Geflüchtete aus der Ukraine benötigen für die Eröffnung eines Kontos ein Ausweisdokument

Der Tiktok-Nutzer behauptete weiter, Geflüchtete aus der Ukraine benötigten nur eine Meldebescheinigung, um ein Konto in Deutschland zu eröffnen. Ein Ausweis sei nicht erforderlich. Das ist jedoch falsch. 

Jacqueline Juknat, Leiterin der Kommunikationsstelle der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), verwies uns auf Anfrage auf eine Mitteilung der Behörde vom 7. April 2022. Darin heißt es, dass Geflüchtete aus der Ukraine für die Eröffnung eines Basiskontos ein ukrainisches Ausweisdokument und zusätzlich ein Dokument einer deutschen Behörde (zum Beispiel eine Meldebescheinigung) vorzulegen haben. 

Wir haben zusätzlich die Sparkasse und die Deutsche Bank gefragt, welche Unterlagen Geflüchtete aus der Ukraine benötigen, um ein Konto zu eröffnen. Stefan Marotzke, Pressesprecher vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband, schrieb uns, dass eine Meldebescheinigung nicht für eine Kontoeröffnung ausreiche, sondern ein Ausweisdokument nötig sei. „Ohne die Vorlage eines anerkannten Ausweisdokuments dürfen Kreditinstitute auch Basiskonten nicht eröffnen. Die Bank wäre dann gesetzlich verpflichtet, die Kontoeröffnung abzulehnen.“ Ein Sprecher der Deutschen Bank erklärte dasselbe.

Geflüchtete aus der Ukraine benötigen eine Aufenthaltserlaubnis, um Anspruch auf Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld zu haben

Im Tiktok-Video heißt es anschließend, dass „angekommene ukrainische Geflüchtete sofort das Recht auf Hartz IV, auf Kindergeld, auf Elterngeld und auch Unterhaltsvorschuss“ sowie Wohngeld hätten. 

Der Nutzer liefert dafür auch ein konkretes Beispiel: „Ich könnte mich also theoretisch zum Beispiel als Pole, der Ukrainisch sprechen kann, ohne irgendeinen Ausweis als ukrainischer Flüchtling in Deutschland registrieren und damit dann direkt Ersatzdokumente bekommen. Ich könnte bei der Registrierung angeben, dass ich vier Kinder habe, die mit ihrer Mutter gemeinsam in Polen leben und auf mich warten. Dann gehe ich mit der Meldebescheinigung zur Bank, eröffne ein Konto, lasse mir monatlich 449 Euro Hartz IV auszahlen und kassiere zudem noch für meine vier nicht realen Kinder das Kindergeld monatlich.” 

Wir haben bei den zuständigen Behörden nachgefragt, ob das ein realistisches Szenario wäre. Ist es jedoch nicht. Zum einen stimmt es nicht, dass Geflüchtete bei der Registrierung direkt einen Passersatz erhalten. Wie uns das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mitteilte, müsse eine geflüchtete Person aus der Ukraine zudem für das Beziehen von Hartz IV (ab Januar 2023 Bürgergeld, Anm. d. Red.) zusätzlich zu den üblichen Antragsunterlagen eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Fiktionsbescheinigung vorlegen. Bereits hier erfolge die Identitätsfeststellung anhand der Ausweispapiere, so das BMAS. Bei der Bearbeitung des Antrags erfolge eine weitere Identitätsfeststellung anhand eines Passes oder Passersatzes. „Auch hier müssen die Antragstellenden also ihre Identität nachweisen.“

Das Portal Germany4Ukraine schreibt ebenfalls, dass für den Erhalt von Grundsicherung Voraussetzung ist, dass Geflüchtete aus der Ukraine „erkennungsdienstlich behandelt worden sind“ und über einen Aufenthaltstitel oder eine Fiktionsbescheinigung verfügen. 

Kindergeld, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss sind ebenfalls an eine Aufenthaltserlaubnis gebunden

Auch für den Erhalt von Kindergeld benötigen Geflüchtete aus der Ukraine eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Fiktionsbescheinigung. Dies schrieben uns das BMAS und die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage. Anders als vom Tiktok-Nutzer behauptet, werde geprüft, ob ein Kind, für das ein Antrag gestellt wurde, wirklich existiere: „Beim Kindergeld […] wird ein Kind grundsätzlich nur dann berücksichtigt, wenn es identifiziert werden kann. Dies geschieht mit Hilfe der steuerlichen Identifikationsnummer“. 

In einem Merkblatt der Familienkasse für Geflüchtete aus der Ukraine (PDF, S. 2) findet sich eine Liste mit Dokumenten, die bei der Beantragung von Kindergeld eingereicht werden müssen. Neben der steuerlichen Identifikationsnummer stehen hier zusätzlich eine Geburtsurkunde oder ein Aufenthaltstitel für jedes Kind sowie ein „Nachweis darüber, wo sich [das] Kind aufhält (zum Beispiel die Registrierung bei der Ausländerbehörde)“. Für erfundene Kinder im Ausland Kindergeld zu beziehen, ist also nicht möglich.

Auch für den Erhalt von Elterngeld oder einem Unterhaltsvorschuss ist neben den übrigen Voraussetzungen laut Bundesfamilienministerium „eine Aufenthaltserlaubnis notwendig, die eine Arbeitserlaubnis für sechs Monate umfasst“. 

Wohngeld erhalten Geflüchtete aus der Ukraine nur, wenn sie arbeiten und eine Aufenthaltserlaubnis haben

Geflüchtete aus der Ukraine, die in Deutschland arbeiten und einen Teil der Miete nicht zahlen können, können Wohngeld erhalten. Zuständig für die Anträge sind die die jeweiligen Bundesländer. Wir haben in Bayern und Niedersachsen nachgefragt. Anders als in dem Tiktok-Video suggeriert, reicht es nicht aus, ein Konto zu eröffnen und eine Meldebescheinigung vorzulegen.

Das bayerische Bauministerium schrieb uns auf Anfrage, dass bei einem Wohngeldantrag Nachweise zur Anzahl der Haushaltsmitglieder und zur Höhe des Einkommens und der Miete eingereicht werden müssten. „Geflüchtete aus der Ukraine müssen darüber hinaus über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügen“, heißt es weiter. Zudem müsse der Wohnraum, für den Wohngeld beantragt wird, den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen darstellen. Auch beim zuständigen Ministerium in Niedersachsen erklärte man uns, dass die Voraussetzungen für einen Wohngeldantrag für ukrainische Geflüchtete dieselben seien wie für Deutsche. Dazu gehöre auch die Vorlage eines Ausweises. 

Fazit: Geflüchtete Menschen aus der Ukraine benötigen für die Einreise und die ersten 90 Tage ihres Aufenthalts in Deutschland nicht zwingend einen Ausweis. Sobald sie sich in Deutschland registrieren und eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, findet eine Identitätsprüfung statt. Personen, die über keinen Ausweis verfügen, müssen ihre Identität anderweitig nachweisen oder einen Passersatz bei der ukrainischen Botschaft beantragen. Jegliche soziale Leistungen sind an eine Aufenthaltserlaubnis gebunden. 

Redigatur: Steffen Kutzner, Uschi Jonas

Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Schreiben des Bundesministeriums des Innern und für Heimat, 18. März 2022: Link (PDF)
  • Hinweise zur melderechtlichen Anmeldung bei Bezug einer Wohnung in Deutschland bzw. Abmeldung einer Wohnung bei Wegzug in das Ausland: Link (PDF)
  • Mitteilung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 7. April 2022: Link 
  • Merkblatt der Familienkasse zum Kindergeld für Geflüchtete aus der Ukraine: Link (PDF)