Faktencheck

Erfundene Aussagen über „Selbstmordkapseln“ für ältere Menschen nähren Verschwörungen rund um WEF

Im Netz werden ein Tweet und angebliche Aussagen eines Wissenschaftlers als Beleg angeführt, dass das Weltwirtschaftsforum (WEF) aktive Sterbehilfe und den Suizid von älteren Menschen befürworte. Doch der Tweet ist gefälscht und ein Zitat erfunden.

von Max Bernhard

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Das World Economic Forum ist oft Zielscheibe von Verschwörungstheorien (Foto: Photoshot / Picture Alliance)
Behauptung
Yusuke Narita, ein Ökonom des World Economic Forum, habe gesagt: „Es ist unsere moralische Pflicht, Senioren in Selbstmordkapseln zu zwingen.“ In einem englischsprachigen Twitter-Beitrag des Weltwirtschaftsforum stehe zudem: „Das Euthanasieren älterer Menschen löst viele Herausforderungen, vor denen wir stehen.“
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Frei erfunden
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Frei erfunden. Narita äußerte sich in der Vergangenheit zwar kontrovers zum Thema Sterbhehilfe, für das angebliche Zitat über „Selbstmordkapseln“ gibt es jedoch keine Belege, der Wissenschaftler selbst bestreitet die Aussage. Er ist auch kein Ökonom des Weltwirtschaftsforums. Der vermeintliche Tweet der Organisation ist gefälscht.

Hinweis: In diesem Beitrag geht es um Suizid. Wenn Sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen oder mit jemandem reden möchten, finden Sie hier Hilfe: Die Seelsorge per Telefon ist anonym und kostenlos unter 0800 1110111 erreichbar. 

Im Netz kursieren immer wieder Behauptungen, die sich um die Verschwörungstheorie drehen, dass eine globale Elite eine „Entvölkerung“ plane – oft ist in diesem Zusammenhang das Weltwirtschaftsforum (WEF) Ziel von Falschinformationen. Aktuell wird behauptet, ein WEF-Ökonom namens Yusuke Narita habe gesagt, man solle „Senioren in Selbstmordkapseln zwingen“. Es gebe zu viele nutzlose Menschen auf der Welt, die Lösung sei „ein erzwungener ‘Massenselbstmord’ der Alten“.

Die Behauptung verbreitet sich auf Facebook, Telegram und Twitter, auch international. Ursprung scheint die englischsprachige Webseite Newspunch. Sie ist für Falschinformationen ebenso bekannt wie Uncut News, die eine deutsche Übersetzung des Artikels veröffentlichte. Für das Zitat haben wir keine Belege gefunden, der Wissenschaftler bestreitet es. Seine Rolle beim WEF werde auch falsch dargestellt, erklärte er uns auf Nachfrage. Der vermeintliche WEF-Tweet ist zudem gefälscht.

Screenshot von einem Tweet mit der Falschbehauptung
Auch auf Twitter verbreitet sich die falsche Behauptung über das Weltwirtschaftsforum (Quelle: Twitter; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Narita hat kontroverse Aussagen zur Sterbehilfe gemacht, doch das Zitat ist erfunden 

Yusuke Narita ist ein japanischer Wissenschaftler und Unternehmer. Wir konnten keine Belege für seine angebliche Aussage mit den „Selbstmordkapseln“ finden, weder in deutscher, noch in englischer oder japanischer Sprache. Die einzigen Suchergebnisse waren Beiträge, die sich wiederum auf den Newspunch-Artikel beziehen. Auch ein Text der New York Times, den die Webseite als Quelle verlinkt, enthält diese Aussage nicht. Narita bestreitet sie. Er schrieb uns auf Anfrage über den Newspunch-Artikel: Für die Behauptungen im Text, gebe es „keine Beweise oder sachliche Grundlage“.

Der Begriff „Euthanasie“ oder „euthanasia“ bedeutet im Englischen „Sterbehilfe“, also „die Handlung oder Praxis, hoffnungslos kranke oder verletzte Individuen (wie Menschen oder Haustiere) aus Gründen der Barmherzigkeit auf relativ schmerzlose Weise zu töten oder ihren Tod zuzulassen.“ In Deutschland wird der Begriff hingegen in Zusammenhang mit Verbrechen während des Nationalsozialismus verwendet.

Der Begriff „Euthanasie“ in Deutschland

In Deutschland steht „Euthanasie“ in Zusammenhang mit einem Verbrechen während des Nationalsozialismus: hunderttausende kranke und alte Menschen, und Menschen mit Behinderung, darunter auch Kinder, wurden auf staatlichen Befehl hin getötet, weil die Nazis ihr Leben als „unwert“ betrachteten.

Es wird in Deutschland außerdem zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, sowie assistiertem Suizid unterschieden. Der Bundestag will die gesetzlichen Grundlagen zur Sterbehilfe 2023 neu regeln.

Richtig ist, dass Narita in Bezug auf Japans alternde Gesellschaft mehrfach kontroverse Aussagen gemacht hat. Laut dem New York Times-Artikel vom 12. Februar 2023 sagte er beispielsweise in einem Interview, die Möglichkeit, Euthanasie in Zukunft verpflichtend zu machen, werde „zur Sprache kommen“. Auf Anfrage der Zeitung erklärte Narita, dass Euthanasie, freiwillig oder unfreiwillig, ein komplexes Thema sei. „Ich befürworte ihre Einführung nicht. Ich sage voraus, dass es künftig breiter diskutiert wird.“

Laut dem Artikel hat er zudem 2021 gesagt, dass die Lösung für Japan „klar“ sei: „Ist es am Ende nicht Massenselbstmord und Massenseppuku älterer Menschen?“. Seppuku bezeichnet eine Form der rituellen Selbsttötung, die von Samurai praktiziert wurde. Narita sagt, er habe diese Aussage als „abstrakte Metapher“ über ältere Menschen, die Führungspositionen besetzen, gemeint. Der Bericht der US-Zeitung wurde auch von deutschsprachigen Medien aufgegriffen.

In einer weiteren Aussage, welche sowohl die New York Times als auch Newspunch zitieren, geht es um den Suizid von älteren Menschen. „Ob das eine gute Sache ist oder nicht, ist eine schwierige Frage“, sagte er über die Szene in einem Horrorfilm, bei dem ein schwedischer Kult eines seiner ältesten Mitglieder in den Tod schickt.

Fest steht: Naritas Aussagen sind höchst umstritten. Das von Newspunch verbreitete Zitat, Senioren in „Selbstmordkapseln“ zu zwingen, ist jedoch erfunden.

Narita ist Teil des WEF-Programms „Young Global Leaders“, aber kein Ökonom oder Mitwirkender der Organisation

Laut der Webseite der Yale Universität ist Narita dort ein „Assistant Professor“ in Ökonomie, was in etwa einer Juniorprofessur in Deutschland entspricht. Außerdem ist er Mitbegründer eines datenwissenschaftlichen Start-ups. Dass Narita ein „WEF-Ökonom“ oder „Mitwirkender“ sei, wie Newspunch behauptet, stimmt nicht.

Erst im März 2023 nahm das WEF den Wissenschaftler in das „Young Global Leaders“-Programm zur Förderung von Führungskräften auf. Er habe aber noch nie für die Organisation gearbeitet, wie er uns auf Nachfrage erklärte: „Meine einzige Beziehung zum Weltwirtschaftsforum besteht darin, dass ich als Young Global Leader ausgewählt wurde. Ich habe nie irgendwelche WEF-bezogenen Arbeiten gemacht.“ Sucht man auf der WEF-Webseite nach seinem Namen, findet man tatsächlich nur die Bekanntmachung der Teilnehmer des Förderprogramms.

Screenshot der E-Mail-Antwort von Yusuke Narita
In einer E-Mail bestreitet Yusuke Narita die Behauptungen von Newspunch. (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Newspunch hat WEF-Tweet gefälscht

Der Newspunch-Artikel und ein dazugehöriges Video verwenden zudem ein Bild, in dem ein angeblicher englischsprachiger Tweet des WEF zu sehen ist. Der soll lauten: „Das Euthanasieren älterer Menschen löst viele der Herausforderungen, vor denen wir stehen.“

Doch eine Twitter-Suche nach diesem Satz liefert keine Ergebnisse. Auch in archivierten Versionen des Twitter-Profils vom Januar und Februar finden wir den Tweet nicht. Dass der Tweet gefälscht ist, zeigt auch die Schriftart des angeblichen Beitrags – sie unterscheidet sich sichtbar von der Schriftart echter Twitter-Beiträge.

Es ist nicht das erste Mal, dass Newspunch einen Fake-Tweet verwendet. Schon mehrmals hat die Seite gefälschte Tweets gezeigt, um Falschinformationen über das WEF zu verbreiten.

Keine Hinweise auf solche Äußerungen des Weltwirtschaftsforums

Auch sonst gibt es keine Hinweise, dass sich das WEF so oder ähnlich geäußert hat. Die Webseite des WEF erwähnt den englischen Begriff für „Euthanasie“ nur wenige Male:

Ein Hinweis auf eine Diskussionsrunde im Januar 2009 zum Thema Sterbehilfe und assistiertem Suizid erwähnt das Wort.

In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2010, ist im Zusammenhang mit einem fiktivem Zukunftsszenario für das Jahr 2030 von „einem starken Anstieg von sozialer Isolation, Depressionen, Selbstmord und ‘freiwilliger Euthanasie’ unter älteren Menschen“ die Rede. Dabei beschreibt der Text ein Zukunftsszenario, das von andauernden globalen Krisen und dem Versagen von bestehenden sozialen Sicherungssystemen geprägt ist – das Szenario wird jedoch nicht als wünschenswert dargestellt. Laut den Autorinnen und Autoren stellte der Bericht „provokative Erzählungen über die Zukunft“ vor und sei kein Versuch, die Zukunft vorherzusagen.

In einem Beitrag von 2018, argumentiert eine Wissenschaftlerin dafür, dass Schulen in Großbritannien Kinder besser über den Tod aufklären sollten. Unter dem Text schreibt das WEF: „Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und nicht die des Weltwirtschaftsforums.“

Zwei Beiträge erwähnen außerdem eine Theorie des Ökonomen John Maynard Keynes über die „Euthanasie des Rentiers“ – das Konzept hat jedoch nichts mit Sterbehilfe zu tun, sondern beschreibt einen Zusammenhang zwischen hohen Zinssätzen und Arbeitslosigkeit (PDF).

Redigatur: Viktor Marinov, Sophie Timmermann

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