Missbrauch in der katholischen Kirche

Papst schachmatt

Die Aufarbeitung des Missbrauchs an Kindern durch Priester erinnert an ein Schachspiel. Im Zentrum stand der König – in diesem Fall: das Oberhaupt der Katholiken, Benedikt XVI.. Unsere Recherche zeigt, wie umfassend die Bischöfe den Papst deckten.

von Marcus Bensmann

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Die katholische Kirche tat alles dafür, den Papst zu schützen. Am Ende wird sein Erbe auch mit dem Missbrauch in der Kirche verbunden sein, weil Benedikt XVI. und die Kirche bis zuletzt mauerten, welche Rolle er bei der Wiedereinsetzung eines berüchtigten Missbrauchspriesters hatte. Grafik: Nina Bender

Die Nachricht aus dem letzten Jahr war eine Sensation: Der ehemalige Papst Benedikt, Gottes ranghöchster Vertreter auf Erden, sollte sich vor einem deutschen Gericht verteidigen müssen. Ungewöhnlich in der 2000-jährigen Geschichte der katholischen Kirche. 

Hintergrund der Klage ist der Missbrauch an Minderjährigen durch Priester – geschützt von Bischöfen. In einem Fall lassen sich die Spuren, die der Missbrauchsskandal durch die Institution zog, konkret bis zu Benedikt XVI. zurückverfolgen.

Die jahrelangen Recherchen von CORRECTIV mit Medienpartnern – erst ZDF frontal, dann Bayerischer Rundfunk und Zeit –, zeigten die direkte Beteiligung Joseph Ratzingers an der Wiedereinsetzung eines wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Priesters in einer oberbayerischen Gemeinde. Den Beweis für die Verantwortung des ehemaligen Papstes, der damals noch als Kardinal Joseph Ratzinger bekannt war, lieferte ein Brief, der jahrzehntelang in den Kirchenakten versteckt lag – und der Ratzingers Unterschrift trug.    

Am heutigen Dienstag beginnt in der bayerischen Kleinstadt Traunstein der Prozess in jenem bedeutungsvollen Fall. Zwar ist Papst Benedikt XVI. mittlerweile verstorben. Doch die Tragweite der gerichtlichen Auseinandersetzung ist ungemindert groß. Denn sie setzt ein Zeichen: Erstmals ist der Täterschutz innerhalb der Kirche bis hoch hinauf zum Papst Verhandlungsgegenstand vor einem weltlichen Gericht. 

Die Recherchen der vergangenen Jahre zu dem Fall zeigen: Die kircheninterne Aufarbeitung des Missbrauchs an Kindern ähnelte mehr einem Schachspiel als einem echten Bemühen um Aufklärung. 

Bei dem Brettspiel dienen im Verteidigungsfall alle Figuren dem Ziel, den König zu schützen, und so handelten hier die Beteiligten in der Kirche – vom Kardinal über den Weihbischof bis hin zu Anwälten. Sie machten Spielzüge beim Schach: Sie vollziehen Finten, opferten Bauern und manchmal sogar sich selbst.

Die wichtigste Figur: Der Papst

Als Joseph Ratzinger 2005 ins Amt gewählt wurde, titelte die Bild-Zeitung: „Wir sind Papst“. Deutschlands Katholiken waren stolz, das wichtigste Amt für alle Anhänger der Glaubensgemeinschaft weltweit stellen zu dürfen. Die Welle der Sympathie ebbte allerdings schon bald ab.

Kritiker warfen Ratzinger bereits nach kurzer Zeit im Amt vor, einem Inquisitor ähnlich Andersdenkende zu bekämpfen. Sie nannten ihn den „Panzerkardinal“. Seine Bewunderer dagegen priesen ihn als wichtigsten Theologen der Neuzeit, seine Bücher über Jesus und den Glauben erreichten Millionenauflagen. 

Diese Bewertungen sind für die katholische Kirche belanglos. Sie denkt nicht im Moment, sondern in Jahrhunderten, und sie folgt dem Prinzip absoluter Monarchie: Jeder in der Organisation, vom einfachen Priester bis zum Bischof, ist dem Papst zu Gehorsam verpflichtet. Der Papst ist im katholischen Kosmos in Fragen zu Gott und Religion unfehlbar. Ein Angriff auf den Papst ist demnach ein Angriff den Katholizismus. 

Daraus folgt: Auf den Papst darf kein Schatten fallen.

Das Feld: Der Prozess in Traunstein

Im Traunsteiner Landgericht wird dieser Anspruch der katholischen Kirche nun herausgefordert. Es klagt der heute 39-jährige Andreas Perr, der als Kind von einem Priester missbraucht wurde. Er verklagt das Erzbistum München und Freising und die Erben des Papstes auf 350.000 Euro Schmerzensgeld

Perrs Vorwurf: Das Erzbistum und der verstorbene Papst Benedikt XVI. tragen die Verantwortung dafür, dass jene „pädophile“ Priester nach seiner Verurteilung als Sexualstraftäter erneut in der Gemeinde eingesetzt wurde, in der Andreas Perr als Kind lebte. Und somit dafür, dass der Priester den Kläger im Pfarrhaus missbrauchte.

Perr und sein Berliner Anwalt verklagten daher das Bistum und – zu dessen Lebzeiten – den ehemaligen Papst Benedikt. Vor Gericht wird der Stuhl dieses Angeklagten leer bleiben, weil sich für den mittlerweile verstorbenen Papst kein Rechtsnachfolger fand. Eine Cousine, die als mögliche Erbin Benedikts benannt wurde, schlug das Erbe aus – wegen des Verfahrens vor dem Landgericht Traunstein.

Der Prozess stellt post mortem das Vermächtnis von Benedikt XVI infrage. Auch nach der Abtrennung bleibt die Verantwortung Joseph Ratzingers für den Wiedereinsatz des Missbrauchspriesters die zentrale Frage des Verfahrens vor dem Landgericht Traunstein. Warum aber zählte er zu den Beklagten?

Der unberechenbare Springer

Zum Verhängnis wurde dem deutschen Papst der Priester Peter H.. Von 1973 bis 2010 wechselte dieser von Gemeinde zu Gemeinde, wirkte erst im Bistum Essen, danach im Erzbistum München und Freising. In all diesen Orten missbrauchte der Priester Jungen. Bisher sind 29 Opfer bekannt.

Das erste Mal fiel H. 1979 in Essen auf. Betroffene Eltern wandten sich damals an den Vorgesetzten, dieser wiederum ans Bistum. Die Mitarbeiter unter dem damaligen Kardinal Franz Hengsbach sorgten dafür, die Eltern von einer Anzeige abzuhalten.

Dabei hatte H. schon vorher, an seiner ersten Stelle in Bottrop, Jungen missbraucht. Das Bistum handelte, wie es damals in der Kirche üblich war: Der Priester sollte aus der Gemeinde verschwinden, am besten irgendwo anders eingesetzt werden.

Man fragte das Erzbistum München und Freising an: Es gebe hier einen „sehr begabten“ Priester, leider mit „einer Gefährdung“. Er benötige eine „Therapie“, könne aber eingesetzt werden. Am besten in „Mädchenschulen“. Ein Zeitzeuge aus damaliger Zeit sagt, dieser Transfer des Missbrauchspriesters sei von den beiden Bischöfen untereinander persönlich verhandelt worden, er spricht von einem „Deal der Kardinäle“. Das waren Bischof Kardinal Franz Hengsbach in Essen und Erzbischof Kardinal Ratzinger in München. 

Dieses Vorgehen war damals nichts Ungewöhnliches. Fiel ein Priester als Täter auf, vertuschten die Bischöfe den Missbrauch, so gut es ging, und versetzten den Priester in eine andere Gemeinde. Die Gläubigen erfuhren nichts. Erhielt der Vatikan die Information über den Missbrauch, so musste es geheim gehalten werden. Das fiel unter das päpstliche Geheimnis. Wer dagegen verstieß, dem drohte die Exkommunizierung, der Rauswurf aus der Kirche. 

Die Praxis des Verschweigens und Vertuschens bestätigen mittlerweile über ein Dutzend Gutachten in Deutschland. Immer fällt auf, dass die Bischöfe alles daran setzen, dass der Missbrauch nicht öffentlich wird. Und so geschah es auch mit dem Priester aus Essen.

Der spätere Papst war damals Erzbischof von München und Freising. Jene Sitzung in München im Januar 1980, in der die Überführung des Priesters H. beschlossen wurde, dürfte für Ratzinger Routine gewesen sein. 

Zwei Jahre später wechselte Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation nach Rom, er wurde zum obersten Moralhüter des Vatikans und zum mächtigsten Kardinal im Vatikan, nur der Papst zu Gehorsam verpflichtet.

H. wiederum wechselte in Bayern von Gemeinde zu Gemeinde und missbrauchte Kinder. Als er 1984 in dem kleinen Ort Grafing Priester war, geschah etwas Ungewöhnliches: Eltern der Opfer gingen zur Polizei. H. wurde daraufhin 1986 vom Amtsgericht Ebersberg wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Und trotzdem: Ein Jahr danach setzte das Erzbistum H. erneut ein. Diesmal in der Gemeinde Garching an der Alz. CORRECTIV hat den Priester im Laufe der Recherche immer wieder angefragt. Er wollte nicht sprechen.

Ratzinger wurde unterdessen 2005 Papst und Oberhaupt der katholischen Kirche.

Der erste Bauernzug

Wilfried Fesselmann war einer der Jungen, den H. am Anfang seiner geistlichen Karriere in Essen missbraucht hatte. Der Missbrauch warf ihn aus der Lebensbahn. Als Erwachsener kämpfte er mit Depressionen und Arbeitslosigkeit.

Lange verdrängte Fesselmann den Missbrauch. Erst 2006 konnte er sich einem Psychiater anvertrauen. Er suchte den Priester im Internet und fand ein Foto von ihm in der Zeitung, umrandet von einer Messdienerschar in Garching an der Alz.

Fesselmann schrieb zweimal an das Erzbistum München und Freising. Er forderte darin Schadenersatz für den erlittenen Missbrauch. Das Erzbistum führte zu dieser Zeit Kardinal Reinhard Marx. Auch er ist ein Bischof des Papstes. 

Die Reaktion des Erzbistums auf Fesselmanns Briefe war die: Es erstattete Anzeige gegen das Missbrauchsopfer, wegen Erpressung. Eine interne Reaktion gab es dennoch: H. wurde nach 20 Jahren in Garching an der Alz nach Bad Tölz versetzt.

Beide Gemeinden wurden damals nicht über die Gründe informiert. Weil der Priester H. in der Gemeinde, aus der er nun scheiden musste, verehrt wurde, verabschiedete die Gemeinde ihn mit einer großen Prozession.

Das erste Schach

2010 erreichte die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche Deutschland. Zuvor hatten Recherchen und Berichte die Kirche in den USA und Irland erschüttert. Lange zeigten sich die deutschen Bischöfe sicher, dass die Missbrauchsdebatte kein deutsches Problem sei. 

Dann brachen die ersten Skandale über Deutschland hinein. Ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin und des Aloisius-Kollegs in Bonn sprachen nun zum ersten Mal über systematischen Missbrauch, den sie erlebt hatten. Kirchliche Lehrer hatten dort, unter anderem, ihnen anvertraute Schüler missbraucht und in mindestens einem Fall sogar ein Aktfoto von einem Jungen in Fluren aufgehängt.

Und nun geschah etwas, das Benedikt XVI. direkt bedrohte: Die New York Times veröffentlichte eine Recherche über den damaligen Erzbischof in München. Es ging um jenen „Deal“, den er mit seinem Amtskollegen zum Fall H. geschlossen haben soll: dessen unbeschädigte Übergabe von einem Bistum ins andere. 

Der Bericht war aus Sicht der katholischen Kirche eine Katastrophe. Der Papst wurde in direktem Zusammenhang mit dem Fall eines Missbrauchspriesters genannt.

Die Verteidigungsstrategie: ein Bauernopfer

Die Bischöfe waren aufgeschreckt. Als erste Maßnahme nahm man den Springer aus dem Spiel. H. wurde vom Essener Bischof Franz-Josef Overbeck in den Ruhestand geschickt. 

Denn dieser erkannte damals die Dimension der Bedrohung. Overbeck schrieb einen Brief an Erzbischof Marx: „Du weißt, wie ich, dass der Fall Peter H. von vielen Medienvertreter leider auch mit unserem Heiligen Vater, Papst Benedikt XVI., in Verbindung gebracht wird.“ Man müsse sich dieser Angelegenheit daher besonders annehmen.

Das Erzbistum München und Freising gab eine Presseerklärung heraus, die die Verteidigungslinie zeigte. Das Erzbistum nannte den Wiedereinsatz H.s in die Gemeindearbeit einen schweren Fehler, aber der damalige Erzbischof Ratzinger habe damit nichts zu tun. Er habe nur zugestimmt, dass H. eine Therapie erhalten solle. 

Es wurde ein Bauernopfer gesucht und gefunden: Der Generalvikar Gerhard Gruber habe eigenmächtig den Priester erneut in die Gemeindearbeit eingesetzt und übernehme dafür die alleinige Verantwortung. 

Gruber, immerhin der zweitmächtigste Mann im Erzbistum, warf sich vor den Papst.  Das Erzbistum gestand immerhin ein, Ratzinger habe von H.s Übergriffen in Essen gewusst. 

Die Finte

Damit stand die Verteidigungsstrategie. Der Papst hatte mit dem Fall H. nichts zu tun. Was genau Ratzinger wusste, und was er genau beschlossen hatte, bleibt im Ungefähren. 

Die Aufklärung in der Kirche, aber auch in der Öffentlichkeit, konzentrierte sich dabei auf Ratzingers Zeit als Erzbischof in München. Seine Verantwortung für H. ab der Zeit als Chef der Glaubenskongregation im Vatikan blieb dagegen im Dunklen. 

Zudem baute man Ratzinger als den eigentlichen Kämpfer gegen den klerikalen Kindesmissbrauch auf, verwies auf Aufklärungserfolge. Eine PR-Strategie, die zunächst aufzugehen schien.

Und wieder ein Bauer

In einer Presseerklärung des Erzbistums nach dem New York Times-Artikel hieß es, in Garching an der Alz seien keine weiteren Opfer des Priesters aus Essen bekannt. Das Kalkül dieses Satzes liegt auf der Hand: Wenn H. tatsächlich in Garching an der Alz keine Kinder mehr missbraucht haben sollte, dann müssten weder das Erzbistum noch der Papst Vorwürfe für dessen Wiedereinsetzung fürchten. 

Kurz nach dieser Pressemitteilung allerdings zeigte Andreas Perr den Missbrauch an, den er als Kind erlitten hatte. Jener Mann, der jetzt für den Prozess in Traunstein verantwortlich ist.

H. hatte Perr als knapp 12-jährigen im Pfarrhaus missbraucht. Der Junge wandte sich direkt nach dem Missbrauch an seine Mutter, doch die glaubte ihrem Sohn zunächst nicht. Zu hoch war das Ansehen des Pfarrers in der Gemeinde. Das ist das Erfolgsgeheimnis der klerikalen Täter: Sie müssen kraft ihres Ansehens keine Strafen und Verfolgung fürchten.

Als sie 2010 über die Recherche der New York Times in der Zeitung las, erinnerte sich Perrs Mutter wieder an das, was ihr Sohn ihr damals erzählt hatte. Sie ermutigte Andreas, den Missbrauch nun zur Anzeige zu bringen. 

Die Staatsanwaltschaft teilte dem Erzbistum jedoch mit, die Anzeige werde wegen Verjährung eingestellt, die Wege zwischen Kirche und Staat waren kurz. Doch die Tat selbst war nicht abzustreiten, denn H. hatte auch einen weiteren Jungen missbraucht. 

Ein Kirchenurteil und ein Befreiungsschlag von ungeahnter Seite

2016 wurde H. verurteilt. Allerdings: nur kirchenintern.

In einem geheimen kirchlichen Gerichtsverfahren wurde er wegen des Missbrauchs von sieben Jungen zu einer Geldstrafe und zum Verbot, das Priesteramt auszuführen, verurteilt. 

Die katholische Kirche hat in Deutschland das Privileg einer eigenen Rechtsprechung. Trotz der Verurteilung wurde H. nicht aus dem Priesteramt entlassen. Während ein Pfarrer eine Gemeinde leitet, bedeutet Priester, dass das per Priesterweihe abgelegte Gelübde weiter gilt. Das Urteil war milde.

2018 fand das Urteil den Weg in die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auf einer gesamten Zeitungsseite beschrieb ein FAZ-Journalist das Urteil. 

Der Artikel nennt keine Namen auch nicht der betreffenden Bistümer und so findet die Rolle Ratzingers in dessen Position als Erzbischof von München und Freising 1980 bei der Versetzung des Priesters aus Essen keine Erwähnung. Ein Absatz entlastet den deutschen Papst und lobt die deutsche Kirche im Umgang mit dem Missbrauch: 

„Der neue Papst, Benedikt XVI., dem schon in seiner früheren Funktion weniger am Schutz der Institution Kirche gelegen war und der sich deshalb im Lauf der Jahre immer mehr Feinde machen sollte, hatte sich vor kurzem sogar mit Missbrauchsopfern getroffen und die Übergriffe als das bezeichnet, was sie sind: Verbrechen. In Deutschland wiederum hatte sich die katholische Kirche als erste Institution überhaupt Leitlinien für den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs gegeben.“ 

Wie kam das Dekret in die Zeitung? Könnte es bewusst durchgestochen worden sein, um unter die Causa des Missbrauchspriesters aus Essen einen Schlussstrich zu ziehen? Das wissen wir nicht. Allerdings: Als CORRECTIV zu Beginn der Recherche den Pressesprecher des Bistums Essen zu H. befragte, sagte dieser, es sei doch schon alles bekannt, und verwies auf diesen Artikel.

2022 berichtete die Zeit erneut über das geheime Urteil und brachte ein wichtiges Detail: Der Kirchenrichter habe festgestellt, Ratzinger habe von der Vorgeschichte des Priesters aus Essen gewusst und eine Pflicht verletzt, diesen als Erzbischof nicht bestraft zu haben, „diese Pflicht wurde nicht eingefordert“. Daher könne das Gericht 36 Jahre später H. nicht mehr für alle Fälle erneut bestrafen. Dieser juristische Kniff erklärte die milde Verurteilung.

CORRECTIV liegt das Dekret vor. Die Beschuldigung in dem geheimen Urteil gegen Ratzinger führte dazu, dass viele Missbrauchstaten dem Priester nicht mehr zugerechnet wurden. Der Kirchenrichter hatte während des Verfahrens vor der Rache des Priesters gewarnt, er könne „den Papst nach einer autoritativen Entscheidung persönlich angehen“. Und H. hatte die Glaubenskongregation im Vatikan darauf hingewiesen, dass er Priester bleiben wolle und noch „nie mit der Presse geredet” habe. Eine Drohung?

Das geheime Kirchenurteil wirkt wie ein Deal, den König des Spiels, den Papst zu schützen, selbst wenn diesem in Geheimunterlagen dafür ein Vorwurf gemacht werden musste.



Die Dame und die versuchte Heiligsprechung

Danach geschah etwas Ungeheuerliches. Papst Benedikt XVI. wollte nicht mehr Papst sein. 

Ein Rücktritt aus dem Amt ist in der katholischen Kirche eigentlich nicht vorgesehen. Dennoch zieht sich Benedikt 2013 zurück.

Über die Beweggründe lässt sich viel spekulieren. Fest steht: Das Papstgewand blieb auf diese Weise unbefleckt.

Doch auch das Ansehen des emeritierten Papstes galt es zu schützen. Diese Rolle kam nun Erzbischof Georg Gänswein zu, dem Privatsekretär Benedikts. Dabei störte die Missbrauchsdebatte. Ähnlich, wie die Dame im Schach das Spiel dominiert und diagonal und gerade über das ganze Feld ziehen kann, schützte Gänswein den ehemaligen Papst. 

Seit Jahren organisiert Gänswein Presserunden im Vatikan, offenbar mit Erfolg. In Deutschland formte sich von Benedikt das Bild eines vergeistigten Theologen, der fern weltlicher Machtintrigen wandele. Der ehemalige Journalist Peter Seewald erhielt exklusiven Zugang zu Benedikt und veröffentlichte eine mehr als 1000-seitige Biografie über den deutschen Papst. 

Seewald versuchte in dem Wälzer, Benedikt von jedem Vorwurf freizusprechen. Im Kapitel „Der Skandal des Missbrauchs” hielt Seewald Kurs. Joseph Ratzinger habe als erster Kirchenmann den klerikalen Missbrauch ernsthaft bekämpft; bei dem Einsatz von H. habe Ratzinger nichts von dessen Vorgeschichte gewusst. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte zum Buch, Seewald habe „eine Hagiographie“, eine Heiligenerzählung, geschrieben.

Der gefährliche Zug des Springers

2019 konnte CORRECTIV das Protokoll zu jener kircheninternen Sitzung einsehen, in der beschlossen worden war, H. aus dem aktiven Kirchendienst auszuschließen.

Aus dem Protokoll geht hervor, dass H. bei den Geheimgesprächen eine neue, noch nie berichtete Verbindung zu Ratzinger offenlegen: Er habe Ratzinger mehr zufällig bei dessen Besuch eines erkrankten Weihbischofs in Garching getroffen.  Das war im Januar 2000.

2010 waren die deutschen Bischöfe damit beschäftigt, die Distanz zwischen H. und dem Papst so groß wie möglich erscheinen zu lassen – und dennoch kam es sogar zu einem Treffen, wie H. behauptete? 

Dieses Protokoll ging intern lange Wege. Erst nach München, dann zum Vatikan, danach zum Kirchengericht. Die Aussage über Ratzingers Besuch in Garching wurde weder widersprochen noch kommentiert. 

CORRECTIV berichtete 2020 erstmals über den Inhalt des brisanten Protokolls. Erzbischof Gänswein bestätigte damals zwar auf Anfrage den Besuch in Garching an der Alz. Er dementierte aber, dass es dabei zu einem Treffen zwischen Ratzinger und dem Priester aus Essen gekommen sei. 

Er erklärte den Widerspruch so: Es sei bekannt gewesen, dass H. sich zum fraglichen Zeitpunkt in Garching an der Alz aufgehalten habe. Aber Ratzinger habe sich nur mit dem Weihbischof getroffen: dem Weihbischof Heinrich von Soden-Fraunhofen.

Die Verteidigungsstrategie bekam damals dennoch erste Risse. 



Der Weihbischof, der treue Läufer Ratzingers

Um die Rolle von Weihbischof Heinrich von Soden-Fraunhofen in diesem Spiel zu verstehen, muss man ein paar Jahre zurückblenden, in die 1990er Jahre. Priester H. wirkt damals in Garching. Es ist die Zeit, in der er auch den Messdiener Stefan missbraucht.

Im Sommer 1994 findet in Garching ein Pfarrfest statt, am nächsten Morgen prangt auf dem Boden des Kirchplatzes ein Graffiti. Dort stehen zwei Namen, der des Jungen Stefan und der des Pfarrers, ein Ist-gleich-Zeichen, das Wort „schwul“ und ein Fragezeichen.

Die Aufregung im Ort ist groß. Das ist die Stunde des Weihbischofs von Soden-Fraunhofen: Er stellt sich damals demonstrativ auf den Kirchplatz, nutzt seine ganze Autorität als Bischof, um die geschriebenen Worte auf dem Asphalt als böse Verleumdung abzutun.

Was machte dieser Bischof damals in der kleinen Gemeinde Garching und warum besuchte Ratzinger diesen Mann? 

Von Soden-Fraunhofen ist sieben Jahre älter als Joseph Ratzinger, aber beide kennen sich gut. Beide haben zusammen das Priesterseminar besucht und gemeinsam die Priesterweihe empfangen. Von Soden war auch Bischof, als Ratzinger das Erzbistum leitete. 1993 zog er nach Engelsberg. Das Bilderbuchdorf mit barockem Zwiebelturm bildet mit Garching an der Alz einen Gemeindeverband, in dem H. seit 1987 als Priester tätig ist. 

Wieso wählt der Spross einer Adelsfamilie ausgerechnet Engelsberg als Ruhesitz? In der lokalen Presse findet sich eine Erklärung: Von Soden habe sich wegen einer Krankheit in Pension versetzen lassen und sei dem Wunsch seiner Haushälterin gefolgt. Die Erklärung ist aber eine Tarnung.

Von Soden war bestens über die Gefährlichkeit von H. informiert. Ihn hatte ein Psychiater gewarnt. Als H. 1985 strafrechtlich verurteilt wurde, verfolgte von Soden den Prozess eng – und schlug kirchenintern vor, ab jetzt auf H. aufzupassen, wie aus einem späteren Gutachten hervorging. Was bedeutete, ebenfalls in die Gemeinde zu ziehen. 

Von 1993 bis 2000 leiteten von Soden und H. gemeinsam die Gemeinde in Engelsberg und Garching an der Alz. Von Soden hinderte aber H. nicht daran, sich erneut mit Messdienern zu umgeben. 

Trotz des Versprechens des Weihbischofs kam es zum Missbrauch unter anderem an Andreas Perr. Doch von Soden schützte nicht die Kinder, sondern den Priester. In einer Notiz an das Bistum Essen schwärmte von Soden über H. „als das absolute Rennpferd, mit vielen Talenten und halt auch seiner Lebensnot“.

Lebensnot – wollte er damit das pädokriminelle Verhalten H.s tarnen? Und schützte er die Kirche im Auftrag Roms? Die Rolle des Weihbischofs ist bis heute ungeklärt.

An der Kirche von Engelsberg findet sich eine Marmortafel. Darauf sind von Soden und H. bis heute in goldenen Lettern verewigt. 

Der falsche Skandal bei der Aufklärung, und die Verteidigung

Derweil flüchteten sich die deutschen Bistümer von einem Aufklärungsgutachten in das nächste. 

Weltweit Beachtung fand damals die Untersuchung des klerikalen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising der Münchner Kanzlei Westphal Spilker. Denn sie untersuchte auch die Verantwortung des deutschen Papstes für den Missbrauchspriester aus Essen, also die zentrale Frage, die schon 2010 für weltweites Aufsehen gesorgt hatte.

2022 folgte dann der Skandal: Die Bild-Zeitung titelte: „Du sollst nicht lügen!“.

Es ging darum: Die Kanzlei WSW untersuchte damals, schon zum zweiten Mal, im Auftrag des Erzbistums München und Freising den klerikalen Missbrauch. Das erste Gutachten bleibt bis heute verschlossen. 

Die Gutachter schickten dem Papst damals einen Fragebogen, den er zusammen mit seinen Helfern unter der Leitung von Gänswein beantwortete. Unter anderem schrieb er im Fragebogen dies: Er habe gar nicht an jener Sitzung im Jahr 1980 teilgenommen, auf der beschlossen wurde, H. könne von Essen nach München wechseln.  

Das war neu und widersprach allem, was der Vatikan und das Erzbistum von sich aus zugegeben hatten. Die Anwesenheit von Ratzinger hatte bisher nie infrage gestanden, sondern nur, was genau er wusste und was beschlossen wurde.

Der Anwalt Ulrich Wastl von der WSW-Kanzlei zitierte die Aussage des Papstes emeritus auf der Pressekonferenz und widerlegte sie anhand des Protokolls. Die Bild-Zeitung zog daraus das Extrakt: Der Ex-Papst hat gelogen.

Bei der gesamten Aufregung ging jedoch unter, dass das Gutachten den Papst emeritus eigentlich entlastete. Während die Anwälte anderen Beteiligten des Erzbistums wie bei Ratzingers Nachfolger im Amt des Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter, konkret „Beihilfe zum sexuellen Missbrauch“ vorwarfen, sahen sie bei Ratzinger eine moralische Verantwortung und überließen das abschließende Urteil den anderen.  

Die Ratgeber des Papstes um Erzbischof Gänswein schlossen die Verteidigungslinie. Sie gaben zwar einen Fehler beim Ausfüllen des Fragebogens zu, doch den habe nicht der Papst emeritus begangen, sondern einer seiner Berater. 

Ratzinger habe an der Sitzung in München 1980 als Erzbischof teilgenommen, aber von den Taten des Priesters im Bistum Essen nichts gewusst. Nach der Aufregung war man wieder an dem Punkt von vor zwölf Jahren, nach der Veröffentlichung der New York Times. Die Öffentlichkeit schaute auf die Verantwortung Ratzingers als Erzbischof, und kaum einer blickte nach Garching und damit darauf, was Ratzinger in seiner Zeit im Vatikan verantwortete. 

Der Bauer wird zum Turm

Nach dem Gutachten reichte der Rechtsanwalt Andreas Schulz im Auftrag seines Mandanten Andreas Perr im Juni 2022 Klage gegen den Priester, das Erzbistum München und Freising, den Papst Emeritus Benedikt XVI. und den ehemaligen Erzbischof Friedrich Wetter ein. 

Es ist jene Klage, die nun im Prozess in Traunstein gipfelt. Es geht dort nun um nicht weniger als die Frage, ob das Papstamt unbefleckt bleibt. Eine Frage, die auf die gesamte Institution der katholischen Kirche ausstrahlt. 

Und es sieht nicht gut aus für diese Institution. Die Klage hat sich zuletzt immer enger um die Verteidigung gezogen. Das Erzbistum verzichtet nun auf die Verjährung, erkennt grundsätzlich eine Haftung an – und zu alldem schlägt nun auch noch eine Cousine des Papstes ihr Erbe aus, weil sie nicht in dessen Namen vor Gericht stehen will.

Aus Perr ist mithilfe seines Anwalts ein Turm geworden.

Ein verborgen gehaltenes Dokument reißt die Lücke

In diesem Februar gelingt CORRECTIV ein Fund, der endgültige Klarheit bringt. Es ist ein Brief aus dem Jahr 1986.

Drei Jahre nach dem Weggang aus München und wenige Monate nach der Verurteilung H.s im Juni 1986 beweist ein Briefverkehr zwischen dem Erzbistum München und Freising und Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation im Vatikan, dass ihm die Informationen über die Sexualstraftaten H.s an Minderjährigen sowie zu dem Attest, das dem Priester aus Essen eine „Pädophilie“ bescheinigte, vorlagen. 

Aber Ratzinger schritt nicht etwa ein, sondern ermöglichte dem Priester mit einer von ihm unterschriebenen Erlaubnis, dass er die Messfeier mit Traubensaft statt Wein zelebrieren könnte. Die Verantwortlichen im Erzbistum waren offenbar überzeugt, man müsse H. den Alkohol verbieten und sicherstellen, dass er jeden Tag ein Medikament einnehme, um das Risiko zu minimieren, dass er weiter Kinder missbrauche.

Dieser Briefwechsel war nicht versteckt, sondern lag der Personalakte des Priesters bei. Er lag den Mitarbeitern des Erzbistums München und Freising und der Kanzlei vor, die das Gutachten erstellt hatte. Aber der Briefwechsel blieb all die Jahre verborgen.

Der Briefwechsel wirft Fragen an die WSW-Kanzlei auf, die auf diesen Briefwechsel im Gutachten nicht konkret einging, sondern im Allgemeinen von einer „zuständigen Behörde in Rom“ sprach, die diese Erlaubnis erteilt habe. Während die Weltpresse rätselte, was der Papst emeritus von H. gewusst habe, lag die Antwort den Anwälten vor.

Die Anwälte der Münchner Kanzlei verweisen auf den Gutachterauftrag, der sich nur auf Ratzingers Zeit als Erzbischof bezogen habe. 

Der Klägeranwalt wirft der Kanzlei nun vor, dass sie im Grunde in Ihrem Gutachten den ehemaligen Papst geschützt habe. „Es ist festzustellen, dass der behauptete Verdacht jeglicher Grundlager entbehrt“, schreibt Ulrich Wastl von der Münchner Kanzlei dazu. Die Freunde des deutschen Papstes sagen, er habe als Kardinal Ratzinger das entsprechende Bittgesuch des Erzbistum nicht gelesen.




Schachmatt

Ob sich der Kläger Andreas Perr vor dem Landgericht Traunstein mit der Schmerzensgeldforderung durchsetzt, wird das Gerichtsverfahren zeigen. In einem ähnlichen Fall wurden dem Missbrauchsopfer Georg Menne in Köln kürzlich 300.000 Euro zugesprochen.

Die Summe muss das Erzbistum Köln wegen des Falls eines verstorbenen Priesters zahlen, der den Kläger über Jahre in den 1970er Jahren missbraucht hatte. Ursprünglich hatte Menne 800.000 Euro gefordert, aber das vom Gericht verfügte Schmerzensgeld übersteigt um ein Weites die bisherigen Summen zur Wiedergutmachung des sexuellen Missbrauchs. Bisher hatten die deutschen Bistümer versucht, die Summen für Missbrauch in Eigenregie festzulegen. Diese Praxis ist seit Köln zu Ende.

Unabhängig von dem Ausgang des Verfahrens zeigt dieser Fall: Die kircheninterne Aufklärung ist gescheitert. Den Aufklärern ging es weniger um die Wahrheit, sondern um den Schutz des Papstes. Sie handelten damit nicht wesentlich anders als die Bischöfe.

Über 13 Jahre wandten die kirchlichen Aufklärer und Bischöfe Tricks und Kniffe an, um die Mitverantwortung Joseph Ratzingers für den Missbrauch in Garching zu verleugnen. 

Doch die Verteidigung scheiterte: Das Leben von Joseph Ratzinger als Erzbischof, als Präfekt und als Papst wird mit dem Missbrauchstäter verbunden sein, ohne dass er seine Verantwortung anerkannt hat. 

Der König ist gefallen.


Redaktion: Anette Dowideit, Justus von Daniels

Illustrationen: Nina Bender 

Kommunikation: Valentin Zick