Europa

EU-Lieferkettengesetz vor dem Aus: FDP und Wirtschaftslobby attackieren Kompromissentwurf

Kurz vor der finalen Abstimmung nehmen die Kampagnen der Lobbyverbände gegen das Gesetz scharfe Töne an – das zeigen unveröffentlichte Briefe, die CORRECTIV vorliegen. Zugleich stellt sich die FDP plötzlich gegen den Entwurf und sorgt in Brüssel für Befremden.

von Gabriela Keller

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Lieferketten umfassen manchmal mehrere Tausend Stufen. Bislang haben europäische Unternehmen wenig zu befürchten, wenn es zu Verstößen kommt. Foto: Rinson Chory / unsplash.com

Das EU-Lieferkettengesetz könnte in praktisch letzter Minute am Widerstand von Wirtschaftslobby und FDP scheitern: CORRECTIV liegen bisher unveröffentlichte Schreiben vor, die belegen, dass Industrie- und Branchenverbände die Ampelkoalition in den vergangenen Wochen zu einer Abkehr von den jüngsten Einigungen auf EU-Ebene auffordern. Gleichzeitig stellte sich die FDP in einer unerwarteten Kehrtwende gegen das Vorhaben.

„Mit Bestürzung und vollkommenem Unverständnis haben wir zur Kenntnis genommen, dass sich die Bundesregierung mittlerweile nicht mehr an” eine frühere Positionierung „gebunden fühlt“, schreibt der Verband Gesamtmetall an die Minister Hubertus Heil (SPD), Marco Buschmann (FDP) und Robert Habeck (Grüne), dies komme einem „Wortbruch“ gleich und „würde die „Glaubwürdigkeit der Bundesregierung untergraben.“

Damit bezieht sich der Verband auf eine Beschränkung der Haftungsrisiken für Unternehmen, die eine Zertifizierung oder Prüfsiegel verwenden. Diese Regelung ist auch bekannt als „Safe-Harbour“-Klausel. Aus Sicht von Fachleuten und NGOs würde eine solche Klausel ein Schlupfloch in dem geplanten Gesetz eröffnen und die Vorgaben somit zum Teil unwirksam machen.

Lobbyisten äußern „Irritationen“ und fordern Erleichterungen

Mit der Lieferketten-Richtlinie will die EU Unternehmen verpflichten, bei ihren Zulieferern auf die Einhaltung von Umweltschutz und Menschenrechten zu achten; bei Verstößen können Haftungsansprüche drohen. CORRECTIV hat mehrfach berichtet, wie Lobbyisten gezielt auf die Politik einwirken, um das Gesetz zu verwässern. Zuletzt sah es so aus, als würden am Ende vergleichsweise harte Regelungen herauskommen.

Zugleich aber nahmen hinter den Kulissen die Lobbykampagnen einen immer schärferen Ton an: Alarmiert reagierten auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). In einem gemeinsamen Schreiben mit weiteren Verbänden vom 7. Januar 2024 wandten sie sich an Bundesarbeitsminister Heil und äußerten „Irritationen“: „Wir appellieren daher dringend an die Vertreter der Bundesregierung, sich im Rat” der Europäischen Union für die „Safe-Harbour-Regelung einzusetzen und hiervon nicht abzurücken.“

Auffällig ist, dass die FDP nur wenige Wochen später ihre Kehrtwende in Bezug auf das Lieferkettengesetz vollzog und für viele überraschend bekannt gab, das Gesetz komplett abzulehnen: „EU-Lieferkettenrichtlinie stoppen, Bürokratie-Burnout verhindern“ lautet Titel des Präsidiumsbeschlusses der FDP vom 15. Januar 2024.

Zur Begründung heißt es in dem Papier, der EU-Entwurf würde für europäische Unternehmen „bürokratische Hürden“ und „Rechtsunsicherheit“ schaffen. Zu den zentralen Kritikpunkten zählt aus Sicht der FDP: das Fehlen einer Safe-Harbour-Regelung.

Grüne: Deutschland steht als extrem unzuverlässig da

Die Verhandlungen über das EU-Lieferkettengesetz ziehen sich in der EU seit zwei Jahren hin. Am 14. Dezember hatten EU-Rat und -Parlament ihren Kompromissentwurf vorgestellt, den auch progressive Abgeordnete und NGOs als „Meilenstein“ lobten. Damit galt das Gesetz politisch als beschlossene Sache. Einige Beobachter und Politiker reagierten nun mit Empörung auf die Abkehr der FDP von den Einigungen.

„Das bedeutet, dass wir als Deutschland als extrem unzuverlässig dastehen”, sagt die Grüne EU-Abgeordnete Anna Cavazzini. Das Nein der FDP könnte dazu führen, dass sich Deutschland bei der Abstimmung enthält, wie üblich bei Uneinigkeit in der Koalition. Dies kam schon so oft vor, dass sich dafür in der EU ein fester Begriff gebildet hat: German Vote. Möglich ist, dass damit das gesamte Vorhaben ins Wanken gerät, sagt Cavazzini: „Es kann schon sein, dass das ganze Ding kippt, und das wäre eine Katastrophe.“

Auch René Repasi, Abgeordneter von der SPD, befürchtet Image-Schäden für Deutschland: „Wir merken, dass sich die FDP von den Industrieverbänden in die Bäume jagen lässt”, sagt er. „Und das führt dazu, dass sich Deutschland bei einem hochpolitischen Dossier der Stimme enthalten muss.“ Dieses Hin und Her schwäche das Vertrauen in die Bundesregierung und damit die deutsche Position in Europa.

Andere Beobachter sprechen von einem „Affront“ gegen die Koalitionspartner und gegen die EU-Institutionen. „Die Wirtschaftsverbände haben sich in der FDP durchgesetzt“, meint Armin Paasch, Menschenrechtsexperte von der Organisation Misereor. Er geht von einem Manöver der FDP mit Blick auf den Wahlkampf für die Europawahl aus: „Die distanzieren sich jetzt komplett von dem, was ihr eigener Minister in der Bundesregierung die ganze Zeit mitverhandelt hat. Das ist völlig unglaubwürdig.“

Was das für das Gesetz bedeutet, ist aus seiner Sicht noch unklar. „Wenn Deutschland sich enthält, ist die Frage, ob andere Regierungen auch ins Zweifeln geraten“, sagt Paasch, „denn Deutschland ist eine der treibenden Kräfte für das Gesetz gewesen.“

Parallelen in den Lobbyschreiben und dem Beschluss der FDP

In den Lobbyschreiben und dem FDP-Beschluss stechen Parallelen hervor: Beide berufen sich bei ihrer Ablehnung der geplanten Richtlinie auf einen kritischen Punkt: Die Safe-Harbour-Regelung.

Die Klausel soll Unternehmen vor Schadenersatzansprüchen schützen: Wer sich einer Brancheninitiative oder einer Zertifizierung angeschlossen hat, müsste demnach nur eingeschränkt haften. So schreibt der Verband Gesamtmetall: „Rückt Deutschland nun von der Forderung nach einer Haftungsprivilegierung von Brancheninitiativen ab, entwertet die Bundesregierung damit das Engagement von Unternehmen und Verbänden.“

Der Brief ist auf den 14. November datiert, der Beschluss des FDP-Präsidiums wird zwei Monate später bekannt. Darin heißt es: „Bedauerlich ist, dass es nicht gelungen ist, die Haftungsregelungen durch eine Privilegierung (Safe Harbour) abzumildern.“

Volte der FDP sorgt für Unmut in Brüssel und Berlin

Auf Druck der FDP hatte Deutschland im EU-Rat 2022 vehement für die Safe-Harbour-Klausel eingesetzt; eine Recherche von CORRECTIV und dem ZDF-Magazin Frontal im Januar 2023 hatte hierbei Einflüsse der Lobbyverbände aufgedeckt.

Dem Entwurf des Rats fügte die Bundesregierung eine Protokollerklärung bei: Demnach werde Deutschland nur einem Text zustimmen, der eine Safe-Harbour-Klausel enthält. Zuletzt aber scheint die Bundesregierung nicht weiter auf diese Forderung gepocht zu haben – der Begriff spielte zuletzt praktisch keine Rolle mehr.

Für Unmut in Berlin und Brüssel sorgt nun, dass die FDP die Position der Ampelkoalition in Bezug auf das Lieferkettengesetz bis zuletzt mitgetragen hat: CORRECTIV liegen unveröffentlichte Dokumente der Bundesregierung vor, die zeigen, dass dies belegen.

So einigte sich das Kabinett auf der Klausurtagung Ende August in Bad Meseberg auf eine Haltung in Bezug auf das EU-Lieferkettengesetz: Festgehalten ist diese in einer „internen Grundlage“ für die deutsche Positionierung. Darin heißt es: „DEU unterstützt die Allgemeine Ausrichtung des Rates“. Zwar listet die Koalition einige „Anliegen“ auf, die „noch stärker Berücksichtigung“ finden sollen. Eine Safe Harbour-Klausel wird aber nicht genannt. Das FDP-geführte Bundesjustizministerium unter Marco Buschmann stimmte zu.

Schon im November setzte die FDP eine „Ausstiegsklausel“ durch

Auch eine „Weisung“ des Bundesarbeitsministeriums vom 15. November 2023 wurde mit dem Justizministerium abgestimmt. Bemerkenswert ist allerdings ein Absatz: Demnach soll die Zustimmung Deutschlands zum Lieferkettengesetz davon abhängen, ob die Richtlinie einerseits „wirksam“ sei und andererseits kleinere Unternehmen nicht überfordere: „Mittelstandsfreundlichkeit wird für uns ein besonderer Gradmesser sein.“

CORRECTIV liegen Belege vor, dass das Bundesjustizministerium diese Passage durchgesetzt hat – gegen den ausdrücklichen Willen des Arbeitsministeriums. Beobachter werten diese Sätze bereits als „Ausstiegsklausel“ für die FDP, also als Vorwand, um sich später komplett von dem Lieferkettengesetz zu verabschieden.

Wenige Wochen später verkündete die FDP ihr Nein – insbesondere nahm die Partei dabei Bezug auf die Interessen des Mittelstands.