Die Unsichtbaren

Neue Initiative fordert medizinische Versorgung für „Unsichtbare“

von Benedict Wermter , Florian Bickmeyer

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Mit einer überraschenden Änderung im Programm hat Gerhard Trabert am Freitag während des Kongresses „Armut und Gesundheit“ in Berlin die Gründung einer bundesweiten Initiative eingeleitet, die zukünftig Druck auf „ignorante politische Entscheider und Verantwortliche“ ausüben will. Zuvor wurden auf mehr als 100 Veranstaltungen Lösungen gesucht, um sozial bedingte Ungleichheiten im Gesundheitssystem zu beseitigen. Trabert ist Vorsitzender des ausrichtenden Vereins und wollte in einem der Hörsäle der TU Berlin eigentlich nur die Vorstellung von zahlreichen Initiativen und Vereinen moderieren, die benachteiligten Menschen medizinische Versorgung und Hilfe anbieten. Beim Blick ins Publikum erkannte Trabert die Möglichkeit, „endlich einmal mit einer Stimme sprechen zu können“. Dutzende schlossen sich ihm an.

Die Vorstellungsrunde erklärte Trabert kurzerhand zur Gründungsveranstaltung. Das neue Netzwerk, das sich seinen Namen erst noch geben wird, arbeitete unmittelbar einen Forderungskatalog aus:

  1. eine Krankenversicherungskarte für alle – auch für Menschen, die ohne Papiere leben,
  2. die Möglichkeit eines anonymen Krankenscheins,
  3. eine bundesweite Clearingstelle zur Koordinierung,
  4. einen Gesundheitsfonds, aus dem etwa Kosten für Krankenhausaufenthalte und die medizinische Versorgung von Menschen übernommen werden soll, deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist,
  5. die Aufklärung der Betroffenen über ihre Rechte in einfacher Sprache.

Letztlich ginge es um „Gesundheit für alle“, sagte Trabert – „oder einfach um die Anwendung der Menschenrechte“.

Trabert erzählte kurz die Anekdote eines Menschen, der papierlos – und damit auch nicht krankenversichert – in Deutschland lebte: „In einem Krankenhaus habe ich einen Patienten erlebt, der hatte ein Bronchialkarzinom. Da hieß es: Den entlassen wir jetzt, weil er keine Krankenversicherung hat – und das in einem kirchlichen Haus!“

Politik ohne Armutskonzept

Das Problem liege im System, sagte Trabert. „Wir brauchen einen Mechanismus für solche Fälle.“ Bisher könnte deren Versorgung nur über Spenden gesichert werden und durch das Engagement von Ehrenamtlichen, Ärzten und Helfern, die sich auch hinsichtlich der Haftung während der medizinischen Behandlung stets in einer Grauzone bewegten. Trabert nennt es einen „Skandal“, dass „politische Entscheider und Verantwortliche bis jetzt kein Armutskonzept vorlegen konnten“.

Um dafür Lösungen zu entwickeln und von der Politik einzufordern, hofft Trabert, dass sich der Initiative auch die Unterstützer der aus dem Gesundheitssystem Ausgegrenzten anschließen, die nicht an der Veranstaltung in Berlin teilgenommen haben. Die bisherigen Unterzeichner tragen die Forderungen nun ins Land hinaus.

Es sind nicht nur die Unsichtbaren, die Papierlosen, die nicht oder nur unzureichend krankenversichert sind. Das Patientenbild ist vielfältig: EU-Bürger, Papierlose oder Asylbewerber gehören genau so zur betroffenen Klientel wie Wohnungslose oder Privatversicherte aus dem Mittelstand, die ihre Beiträge nicht mehr zahlen können.

„Verstoß gegen die Menschenrechte“

„Bis zu 800.000 Menschen sind betroffen. Das ist ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland“, sagte Uwe Denker, Sprecher der Praxen ohne Grenzen aus Norddeutschland. Das Forschungsprojekt „Clandestino“ nannte vor einigen Jahren die Zahl von bis zu einer halben Million Menschen, die papierlos in Deutschland lebten. Genauere Zahlen dazu gibt es nicht. Wir wollen Licht in dieses Dunkel bringen und recherchieren mit unserem Projekt „Die Unsichtbaren“ über Menschen, die ohne Papiere unter uns leben. Wir wollen wissen, wie sie leben, welche Probleme sie haben, wo sie ausgenutzt und ausgebeutet werden. Dazu haben wir etwa einen Fragebogen entwickelt, der anonym ausgefüllt werden kann. Den Fragebogen gibt es in mehreren Sprachen hier: https://correctiv.github.io/theinvisibles/de/

„Dass so viele Menschen keinen Zugang zur medizinischen Versorgung haben, empfinden wir als Verstoß gegen die Menschenrechte. Unser Ziel muss es sein, dass es unsere Organisation eines Tages nicht mehr gibt, sondern dass jeder zu einem Arzt gehen kann. Dazu müssen wir zunächst die Existenz von Betroffenen sichern, damit diese sich selber helfen können. Wir müssen nachhaltig Strukturen verändern, wenn wir etwas erreichen wollen“, sagte Gerhard Trabert, der Initiator des neuen Netzwerks, weiter.

Bisher bleibt die medizinische Versorgung von Menschen, die nicht oder nur unzureichend krankenversichert sind, beinahe ausschließlich Ehrenamtlichen überlassen. Krankenhausaufenthalte und Medikamente werden meist über Spenden finanziert. Auch die Begleitung von Schwangeren ist häufig ein Problem.

Trabert erklärte schließlich, dass sich politische Entscheider konträr zur Stimmung in der Bevölkerung verhielten. So habe eine repräsentative Untersuchung der Caritas ergeben, dass 67 Prozent aller Befragten eine medizinische Grundversorgung für jeden Menschen befürworten. Die Hälfte aller Befragten würde dafür auch einen monatlichen Beitrag von vier Euro zahlen.


Update, 11. Mai, 15 Uhr: In einer früheren Version dieses Textes hieß es: „Das Forschungsprojekt „Clandestino“ nannte vor einigen Jahren allerdings schon die Zahl von bis zu einer Million Menschen, die papierlos in Deutschland lebten. Dann wären noch deutlich mehr Menschen betroffen. Genauere Zahlen dazu gibt es nicht.

Die Angabe von bis zu einer Million Menschen war jedoch veraltet. Die Migrationsforscherin Dita Vogel bezifferte die Zahl der Unsichtbaren in Deutschland für „Clancestino“ auf 200 000 bis 460 000. Ihr Interview mit CORRECTIV lest Ihr hier: „Hunderttausende sind Unsichtbar“.