Klimawandel

Abriss von Wohnraum erzielt Millionengewinn

In vielen Fällen reißen kommunale Wohnungsgesellschaften billige Wohnungen ab und errichten neue. Für die Mieterinnen und Mieter wird das teuer, denn für sie werden diese Wohnungen nicht gebaut. Das zeigen Beispiele aus dem Abriss-Atlas.

von Sofie Czilwik

Teilabriss Karlingersiedlung München
Häuser werden abgerissen in der Karlingersiedlung in München. Credits: J. Jordan

Es ist heiß an diesem Nachmittag, doch Nihal Hussein Haki zeigt kein Verständnis. In ihrem Hinterhof baden halbnackte Bauarbeiter in einem Container. Sie hat ein Video davon und zeigt es ein paar Wochen später auf ihrem Smartphone. Sie verdreht die Augen. Seit über 30 Jahren wohnt sie mit ihrem Mann in der kleinen Wohnung in der Karlingersiedlung. Ihre beiden Kinder sind hier aufgewachsen, hier wollte sie mit ihrem Mann alt werden – in Ruhe. Doch seit die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Münchner Wohnen GmbH die Karlingersiedlung in fünf Bauabschnitte eingeteilt hat, ist die Ruhe vorbei. Im Dezember 2021 rückten die Bagger an, um das erste Wohnhaus abzureißen.

Die Karlingersiedlung wurde in den 1940er-Jahren für Angestellte der BMW-Werke erbaut. Meister wohnten hier und Ingenieure. 14 Häuser waren damals ordentlich aufgereiht, mit großzügigen Rasenflächen zwischen den Gebäuden, auf denen die Mieter noch heute ihre Wäsche trocknen. Viele sind es nicht mehr, die noch geblieben sind. Fünf Gebäude sind bereits verschwunden. Ersetzt werden sie durch Neubauten, ein Rohbau ragt hinter dem Bauzaun und den Plakaten der Baufirma hervor, das Hämmern und Bohren der Bauarbeiter ist bis in die kleine Wohnung von Nihal Hussein Haki und ihrem Mann Tzemal Ali zu hören. 2030 soll die neue Siedlung an der Karlingerstraße fertig sein.

Detailansicht: Ein Haus in der Karlingersiedlung, das zur Hälfte abgerissen ist. Credits: J. Jordan

Kommunale, landeseigene oder städtische Wohnungsunternehmen wie die Münchner Wohnen GmbH sind Unternehmen, die sich ganz oder überwiegend in öffentlicher Hand befinden. Das heißt, sie wirtschaften wie ein privates Unternehmen, sind aber dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Eigentümerin des Unternehmens ist die Stadt, die Kommune oder das Land. 29 Millionen Euro Gewinn erwirtschaftete die Münchner Wohnen im Jahr 2021, 2022 waren es 19 Millionen Euro, sie gehört mit ihren etwa 70.000 Wohnungen zu den größeren kommunalen Wohnungsunternehmen in Deutschland.

Zweck der Münchner Wohnen ist „eine sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung der breiten Schichten der Münchner Bevölkerung (gemeinnütziger Zweck)“. So steht es in ihrer Satzung. Auch das größte kommunale Wohnungsunternehmen, die SAGA aus Hamburg, verpflichtet sich eigenen Angaben zufolge zu Wohnungen mit „angemessenen Preisen“ für „breite Schichten der Bevölkerung“. Genauso wie die Berliner Degewo, deren Ziel es ist, auch Wohnungen für „geringe Einkommen“ zur Verfügung zu stellen. Doch tatsächlich kosten Wohnungen, die neu vermietet werden, mittlerweile mehr als 20 Euro pro Quadratmeter warm – für Geringverdienende ist das viel zu teuer.

Knapp 16.500 Wohnungen wurden 2022 in Deutschland umgewidmet oder abgerissen, meist um sie durch neue Wohnhäuser zu ersetzen. Erhoben werden allerdings nur solche Abrisse, die von den Behörden genehmigt werden müssen. Wie viel Wohnraum insgesamt im Jahr zerstört wird, ist unklar. Der Abriss-Atlas, den CORRECTIV gemeinsam mit Architects for Future, dem Bund deutscher Architektinnen und Architekten, der Deutschen Umwelthilfe und weiteren Partnern ins Leben gerufen hat, soll diese Datenlücke schließen und die Geschichten hinter den Abrissen sammeln.

Die Einträge im Abriss-Atlas zeigen: Viele Siedlungen in Deutschland sind vom Abriss bedroht, nicht nur in München. In der Essener Siedlung Litterode kämpfen die Bewohnerinnen und Bewohner darum, ihre Arbeiterhäuser aus den 1930er-Jahren zu erhalten. Die kommunale Essener Wohnungsbaugesellschaft Allbau GmbH möchte diese abreißen lassen und durch Neubauten ersetzen. Auch im baden-württembergischen Esslingen sollen alte Häuser mit kleinen Mietergärten einem neuen Quartier weichen. In Schönebeck nahe Magdeburg sollen neue Wohnblöcke entstehen; dabei wurden die bestehenden Gebäude vor nicht allzu langer Zeit mit neuen Bädern ausgestattet.

Der Abriss-Atlas macht das Ausmaß der Abrisse in Deutschland deutlich. Denn bisher gibt es nur Statistiken über genehmigungspflichtige Abrisse. Viele Häuser, Kirchen, Schulen oder größere Gebäude werden jedoch abgerissen, ohne dass sie irgendwo erfasst werden.

Wenn Sie von einem Gebäude wissen, dass abgerissen werden soll, freuen wir uns auf Ihren Eintrag im Abriss-Atlas. Wir werden jedem einzelnen davon nachgehen. Gerne können Sie uns auf diesem Weg auch vertrauliche Mitteilungen zukommen lassen, auf Wunsch auch anonym.

Der Abriss-Atlas Deutschland wird getragen von Architects for Future, dem Bund Deutscher Architektinnen und Architekten BDA, der Deutschen Umwelthilfe (DUH), dem Denkmalnetz Bayern , dem KulturerbeNetz Berlin, der Initiative Abrissmoratorium, der Leibniz Universität Hannover und Theatrum e.V. mit CORRECTIV als Medienpartner. Unterstützt wird das Projekt von der Toni Piëch Foundation.

Für die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Siedlungen ist das eine Katastrophe. Sie wohnen mitunter schon Jahrzehnte in ihren Wohnungen, zahlen wenig Miete, sind in ihren Vierteln verwurzelt und haben ihre Wohnungen teilweise selbst renoviert. Hevres Becker wohnt seit 37 Jahren in der Essener Litterode und hat in ihrem Haus erst vor kurzem das Bad komplett saniert. Anfang des Jahres kam die Kündigung von der Allbau GmbH. Begründung: Auch hier soll die komplette Siedlung abgerissen werden und einer neuen weichen.

36 Parteien wohnten hier einmal, mittlerweile sind es keine 20 mehr. „Wir wollen hier auf jeden Fall bleiben“, sagt Hevres Becker. Ihre beiden Kinder gehen hier zur Schule, in der Nähe befinden sich die Ärzte ihrer Eltern. Hevres Beckers Gehalt reicht gerade für die günstige Miete und die Heizkosten in der Litterode. Eine neue Wohnung, schätzt sie, würde 1000 Euro mehr im Monat kosten, das kann sie sich nicht leisten. Zumal ihre Eltern bei ihr wohnen. Ihr Vater ist pflegebedürftig, sie kümmert sich um ihn. Eine vergleichbare, bezahlbare Wohnung für die Drei-Generationen-Familie ist in Essen schwer zu finden. Zum 31. Oktober wurde ihnen gekündigt. „Nervlich sind wir alle am Ende“, sagt Hevres Becker.

In den Häuserblöcken in der Karlingersiedlung in München wohnten laut Cumhur Ali, dem Sohn von Nihal Hussein Haki und Tsemal Ali, in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen mit unteren oder mittleren Einkommen. Auch seine Eltern zahlten ihre Miete ohne Unterstützung der Stadt. Der Abriss dieses bezahlbaren Wohnraums sei notwendig, so ein Sprecher der Münchner Wohnen. „In diesem Fall lag der technische Aufwand für eine energetische Sanierung in keinem Verhältnis zu einem Abbruch und einem Neubau“, sagt er. Zudem entstünden laut Münchner Wohnen in den ersten drei Bauabschnitten ​​53 zusätzliche Wohnungen.

Wer neu mietet, zahlt deutlich mehr

Alle neuen Wohnungen in der Karlingersiedlung werden allerdings gefördert vermietet. Das heißt, die Mieterinnen und Mieter benötigen eine bestimmte Berechtigung; ihr Einkommen darf eine festgesetzte Grenze nicht überschreiten. All das wird in einem Prozess überprüft, der circa vier Monate dauert. Bei Neuvermietungen, egal ob im Alt- oder Neubau, bestehe die Möglichkeit, sich bei den Mieten, so der Sprecher, an den ortsüblichen Vergleichsmieten zu orientieren. Doch selbst dann würden sie alle paar Jahre teurer werden. Zuletzt stieg die Vergleichsmiete um über 24 Prozent, etwa 15 Euro pro Quadratmeter kalt im Vergleich zu 2019.

Neue Häuser werden gebaut in der Karlingersiedlung
Neue Häuser werden gebaut in der Karlingersiedlung. Credits: Sofie Czilwik

Klar ist: Durch Neuvermietungen nimmt die Münchner Wohnen mehr ein. Günstigen Wohnraum abreißen zu lassen und den Mietern teureren Ersatzwohnraum anzubieten, lohnt sich für die Münchner Wohnen. Zuletzt erhöhte sich bei der Gewofag Holding GmbH die Einnahmen aus Mieten um 9,3 Millionen Euro, bei der GWG Städtische Wohnungsgesellschaft München mbH um 10,2 Millionen Euro. Beide Unternehmen sind seit diesem Jahr zur Münchner Wohnen fusioniert. Die Erhöhung, so steht es im Jahresabschluss der Stadt München, ist insbesondere durch Erstbezüge in Neubauten und durch höhere Mieten nach Mieterwechseln in den Beständen zu erklären.

Wie gut die Münchner Wohnen ihre Bestände pflegt, damit sie länger bewohnbar bleiben, ist dabei fraglich. Nihal Hussein Haki und Tzemal Ali aus der Münchner Karlingersiedlung sagen, dass die GWG München, das Vorgängerunternehmen der Münchner Wohnen, über die Jahre kaum etwas an den Wohnhäusern gemacht hätten. Auch Hevres Becker aus Essen berichtet, dass vor allem die Mieterinnen und Mieter im Laufe der Zeit die undichten Dächer und kaputten Türen repariert hätten. Ein Sprecher der Münchner Wohnen teilte CORRECTIV auf Anfrage mit, dass sie „ständig den Zustand“ ihrer Immobilien untersuchten; die alten Gebäude seien an ihr Lebensende gekommen.

Alternative Wohnungen waren teurer, kleiner oder in schlechtem Zustand

Die Mitarbeiter der Münchner Wohnen haben den Mieterinnen und Mietern Ersatzwohnungen angeboten. Ein „Konzept zur verträglichen Umsetzung der Mieter*innen“, nennt es das Unternehmen. Doch als verträglich haben Nihal Hussein Haki und Tzemal Ali die Wohnungsangebote der GWG München und später der Münchner Wohnen nicht empfunden. Die Angebote waren kleiner als ihre jetzige 57 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung. Einmal schauten sie sich eine Wohnung an, die sie zwar hätten bezahlen können. Doch sie war noch unsaniert und im Bad gab es nur eine Badewanne. Tzemal Ali leidet unter Arthrose und kann seine Beine kaum heben. In eine Badewanne zu steigen, schafft er nicht. Eine Dusche hätte die Münchner Wohnen für ihn nicht eingebaut. Das hätte er selbst übernehmen müssen und dafür einen Antrag gebraucht.

Aktuell zahlen Nihal Hussein Haki und Tzemal Ali inklusive Strom- und Heizkosten etwa 650 Euro. Die Ersatzwohnungen, die sie angeboten bekamen, kosteten mitunter 1.000 Euro im Monat oder bestanden nur aus einem Zimmer. In ein paar Monaten geht Tzemal Ali voraussichtlich in Rente, seine Frau Nihal Hussein Haki reinigt die Treppenhäuser in einer benachbarten Siedlung. Zusammen werden sie dann auf rund 2.400 Euro kommen, sagt Cumhur Ali, der seine Eltern bei der Wohnungssuche unterstützt. Mehr als 800 Euro könnten sie im Monat für eine Wohnung nicht zahlen. Doch ob sie Anspruch auf eine Sozialwohnung haben, ist nicht sicher. Laut Cumhur Ali können sie sich wahrscheinlich erst im Dezember auf eine Sozialwohnung bewerben. Doch ob der Antrag dann bewilligt wird und die Zeit ausreicht, eine neue Wohnung zu finden, wissen sie nicht.

Auch in der Essener Siedlung Litterode haben nicht alle gekündigten Mieterinnen und Mieter Anspruch auf einen Wohnungsberechtigungsschein, über den sie Zugang zu bezuschussten Wohnungen hätten. Zugleich verdienen einige nicht gut genug, um vergleichbare Wohnungen in Essen auf dem freien Markt zu bezahlen.

Kritik vom Denkmalschutz-Netzwerk und Architektinnen und Architekten

Kritik am Abriss der Karlingersiedlung kommt vom Denkmalnetz Bayern, einem Netzwerk von Vereinen, Bürgerinitiativen und Einzelpersonen, das sich für den Erhalt gefährdeter Häuser in ganz Bayern einsetzt. Für sie sind nicht nur denkmalgeschützte Villen oder historische Bauten erhaltenswert, sondern auch solche, die das Stadtbild über Jahrzehnte geprägt haben und die viele Jahre das Zuhause ganz unterschiedlicher Menschen waren. Sprecherin Elke Wendrich sagt: „Wir waren schockiert, als wir von dem Abriss der Karlingersiedlung erfahren haben“. Die Häuser seien zwar einfach, aber aus hochwertigen Materialien gebaut, handwerklich gut gearbeitet und robust. Die Geländer seien aus Eichenholz gefertigt, im Eingang verlegte man Platten aus Naturstein und die Eingänge sind von Stein eingerahmt.

Treppenhaus in der Karlingersiedlung in München
Ein Treppenhaus mit Holzgeländer in der Karlingersiedlung in München. Credits: Sofie Czilwik

In den neueren Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaft soll es hingegen schimmeln, der Putz bröckelt ab und in der Fassade nisten Spechte. Die Münchner Wohnen plant zwar 53 zusätzliche Wohnungen. Doch aus Sicht von Elke Wendrich steht das Plus in keinem Verhältnis zu der Tatsache, dass durch die Neubaupläne der Siedlung Wohnungen über Jahre leer stehen oder durch Abriss bis zum Neubau erst gar nicht existieren.

Wohnungsbestand abreißen und durch neuen zu ersetzen, diese Strategie hinterfragt Tim Rieniets grundsätzlich. Der Architekt ist Professor für Stadt- und Raumentwicklung an der Leibniz Universität Hannover. Erhalt und Sanierung müssten Priorität vor Neubau haben, fordert er. Er hat sich die Litteroder Siedlung in Essen genauer angeschaut und kommt zu dem Schluss, dass nicht nur die alten Gebäude erhalten, sondern sogar neue hinzugefügt werden könnten. „Nachverdichtung“ heißt das in der Fachsprache. Mit ihr hätten beide Ziele erreicht werden können: mehr Wohnraum und Sozialverträglichkeit für die Mieterinnen und Mieter. Doch die Eigentümerin Allbau GmbH habe, so Tim Rieniets, eine Alternative zum Abriss gar nicht in Erwägung gezogen. Auf eine Anfrage von CORRECTIV antwortete die Allbau GmbH bis zum Redaktionsschluss nicht.

Studie belegt: Sanierung kann ökologischer und günstiger sein als Abriss

Viele Architektinnen und Architekten halten es mittlerweile für klimaschädlich, bestehende Gebäude abzureißen und neue zu bauen. Selbst wenn die neuen Gebäude gut isoliert sind und den neuesten Standards entsprechen, entsteht durch den Abriss viel Müll. Neubauten verschlingen zudem frische Ressourcen und Energie. Eine Untersuchung des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie belegt, dass eine Sanierung von alten Wohngebäuden ökologischer und günstiger sein kann. Denn Energie und Ressourcen wurden für sie bereits verbraucht – Fachleute sprechen von grauer Energie, die in den Gebäuden gebunden ist. Die Architects for Future fordern schon länger die Baubranche dazu auf, Abrisse kritisch zu hinterfragen. „Wenn sich Wohnungsbauunternehmen dazu entscheiden, zu sanieren statt neu bauen, wird die graue Energie eingespart und die hohen Emissionen, die in der Baubranche momentan entstehen, können drastisch reduziert werden“, sagt die Architektin Anna-Maria Mayerhofer von Architects for Future.

Die Münchner Wohnen indes hat sich entschieden. Das Haus von Nihal Hussein Haki und Tzemal Ali wird, wenn alles nach den Plänen der Münchner Wohnen geht, im nächsten Jahr abgerissen und durch Häuser ersetzt, die dem jetzigen zum Verwechseln ähnlich sehen – allerdings energetisch saniert, mit Balkonen versehen und über Fahrstühle erreichbar. Nihal Hussein Haki und Tzemal Ali werden davon nicht profitieren. Die Münchner Wohnen hat ihnen Mitte September die Wohnung gekündigt, sagt ihr Sohn, bis Ende Mai 2025 sollen sie umziehen. Wohin, das wissen sie nicht.

 

Text & Recherche: Sofie Czilwik
Redaktion: Marc Engelhardt
Faktencheck: Sven Niederhäuser
Bildredaktion: Ivo Mayr
Kommunikation: Valentin Zick