Gestörte Dortmunder Kreise
Am 6. Oktober wird ein gläserner LKW in der Dortmunder Mallinckrodtstraße vor dem geschlossenen Kiosk von Mehmet Kubaşık halten. Auf der Ladefläche werden Menschen sitzen und auf das Haus sehen. Sie werden ein Hörspiel von Jean Peters vom Peng!-Kollektiv und von Joel Vogel hören. Und was die Menschen hören werden, wird sie erschrecken. Sie werden es kaum glauben. Das besondere daran: die Erzählung basiert auf wahren Gegebenheiten.
Mehmet Kubaşık wurde vom Nationalsozialistischen Untergrund, von der Nazi-Terrorbande rund um Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt und Beate Zschäpe ermordet.
Eine Zeugin hatte die Mörder nach der Tat gesehen. Sie beschrieb der Polizei zwei Männer, die böse gewesen seien. Sie hätten wie Junkies oder wie Nazis ausgesehen. Die Zeugin konnte eine Phantombild beschreiben.
Zwei Spuren waren damit gelegt. Zwei Richtungen, in die Ermittler hätte gehen können.
In die Drogenszene und in den Naziuntergrund.
Die Polizei hat sich schnell entschieden, wohin die Reise gehen soll. Sie gingen dem Verdacht nach, dass Mehmet Kubaşık selbst ein Täter war. Ein Drogenhändler. Sie schickten Drogenhunde in seine Wohnung. Stigmatisierten ihn und seine Familie. Die Opfer.
Die Spur in den Naziuntergrund verfolgten die Ermittler nicht.
Ob es Absicht war oder Blindheit, wissen wir nicht.
Nun liefern Jean Peters und Joel Vogel in ihrem kurzen Hörspiel eine Erklärung dafür, warum die Polizei in Dortmund möglicherweise blind war. Absichtlich blind. Das Hörspiel wurde in Kooperation mit dem Schauspiel Dortmund erstellt.
Ein Kreis des Schweigens
Jean Peters und Joel Vogel beschreiben den Dortmunder Kreis: Hier trafen sich jahrelang Polizisten und Journalisten. Sie verabredeten Strategien, wie mit den vielen Nazis in der Stadt umgegangen werden sollte. Sie diskutierten eine Politik der Verschwiegenheit. Anstatt über die Nazis aufzuklären, wollten Presse und Polizei aggressiv wegschauen. Eine Politik der heruntergelassenen Jalousien.
Die Nazis sollten sich bei ihren Demos in der Gemeinde leerlaufen. Sie sollten kein Publikum kriegen: für ihre Taten keine Sendeminute im Fernsehen oder Radio, keine Zeile in den Zeitungen. Damals gab es noch kein großes, breit aufgestelltes funktionierendes Internet mit Sozialen Medien. Deshalb konnte eine verabredete Nachrichtensperre funktionieren. Nur wenige Menschen, die Informationen über alternative Medien bezogen wussten von der steigenden und immer brutaler werdenden Naziszene in Dortmund. Der normale Bürger, der eine normale Zeitung las und normales Fernsehen sah, erfuhr wenig – bis nichts. Zu den Runden des Dortmunder Kreises wurde nicht jeder eingeladen. Selektiv wurden die großen Medien am Ort mit der Polizei zusammengebracht. Wer von außen dazu kommen wollte, wurde abgewiesen. Eine geschlossene Gesellschaft.
Im Sinne der Nachrichtensperre war es: Nichts zu sehen. Die Idee offenbar dahinter: Wenn man lange genug den Kopf in den Sand steckt, sind die Nazis ob der ausbleibenden Aufmerksamkeit enttäuscht und verschwinden von alleine.
Der Dortmunder Oberbürgermeister, Ulrich Sierau (SPD), sagte mal: In Dortmund gebe es kein Nazi-Problem. Dass dort immer mal wieder viele Nazis seien, liege daran, dass Dortmund verkehrsgünstig liege und deswegen von außerhalb Nazi-Gewalttäter anreisen würden. Das ignorieren des Problems hatte System.
„Viele wussten davon, aber kaum jemand redete über den Dortmunder Kreis. Es gab keine echten Beweise“, sagt Jean Peters. Er habe recherchiert und schließlich den Pressesprecher der Polizei konfrontiert. Diese habe „zwischen den Zeilen“ den Dortmunder Kreis bestätigt. Allerdings soll er nicht immer funktioniert haben. Der Pressesprecher sagte laut Jean Peters, dass immer mal wieder Reporter „nicht funktioniert“ hätten. Sie hätten trotz verabredeter Nachrichtensperre über Nazis geschrieben.
Aus der Dortmunder Medienszene werden die Treffen bestätigt. Als Gedankenaustausch über Medienethische Gesichtspunkte. „Wieviel Raum wollen wir den Rechten in der Berichterstattung geben?“ Aber natürlich hätten die Zeitungen über jede relevante Tat berichtet. Und auch über die Entwicklungen ausreichend reportiert. Allerdings habe es in den Redaktionen immer wieder Diskussionen gegeben, ob man den Rechten zu viel und nicht angemessenen Raum gebe.
Nur wegen der lange anhaltenden Strategie des organisierten Wegsehens war es möglich, dass Dortmunder davon überrascht werden konnten, dass 2009 hunderte Nazis die DGB-Demonstration zum 1. Mai überfielen. Sowohl Polizei als auch Medien hatten das Problem zu lange versucht klein zu halten.
Nur so war es möglich, Spuren nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in den rechten Raum zu übersehen. Wären die Polizisten schon 2006 sensibilisiert gewesen auf Hinweise auf Terror aus der rechten Szene, hätten sie im Mordfall an Mehmet Kubaşık anders ermitteln müssen. Jean Peters und Joel Vogel geben dem organisierten Wegsehen einen Namen: Dortmunder Kreis.
„Ich erwarte, dass Journalisten und Polizisten ihre Rollen wahrnehmen und nicht in Kumpanei versinken. Journalisten müssen über Fehlentwicklungen transparent berichten. Nur so kann die Gesellschaft reagieren. Sie dürfen nicht Öffentlichkeits-Instrumente der Ermittler werden.“
Die LKW Tour gehört zu den Truck Tracks Ruhr. Das Projekt wird kuratiert von Rimini Protokoll und produziert von Urbane Künste Ruhr.