Minister Jäger wirbt für Blitzmarathon mit falschen Zahlen
Als im Jahr 2012 der Blitzmarathon gestartet wurde, war das erklärte Ziel, die Zahl der Verkehrstoten abzusenken. Nach einem Abgleich der Daten kommt der unvoreingenommene Betrachter allerdings zum Schluss: das Ziel wurde kaum erreicht. Der Blitzmarathon blieb über die vergangenen Jahre nahezu wirkungslos. Mehr noch: Das NRW-Innenministerium arbeitete in der Public Relation an einer zentralen Stelle mit einer falschen Zahl.
Der erste Blitzmarathon fand im Februar 2012 statt. Damals sagte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), mit der Aktion sollten Todesfälle im Verkehr verhindert und Verletzte vermieden werden. „Wir nehmen die vielen Toten und Verletzten nicht hin“, sagte Jäger. Der Blitzmarathon war Teil der Kampagne „Brems Dich — rette Leben!“
Der erste Blitzmarathon war vor allem ein großer Public-Relation-Erfolg. Einen Tag lang wurden tausende Polizisten an über 1000 Kontrollstellen eingesetzt, um Blitzanlagen entlang möglichst vieler Stellen zu bedienen, und Raser zu blitzen. Minister Jäger sagte: „Die Menschen erkennen an, dass es hier nicht um Knöllchen geht, sondern um mehr Sicherheit im Straßenverkehr.“
In der Folge wurde der Blitzmarathon regelmäßig wiederholt, in anderen Bundesländern übernommen und auf das Bundesgebiet ausgedehnt. Ja, es gab sogar mindesten einen Europaweiten Blitzmarathon. Bei jeder Aktion konnten sich die beteiligten Innenminister öffentlichkeitswirksam im Bild als Kämpfer für Recht und Ordnung im Dienst einer guten Sache präsentieren.
Nach fast fünf Jahren ist es Zeit, eine Bilanz zu ziehen: Hat der Blitzmarathon etwas gebracht?
Die Zahl der Menschen, die aufgrund erhöhter Geschwindigkeit im Straßenverkehr gestorben sind, lag 2012 – dem Jahr des ersten Blitzmarathons – nach Angaben des Innenministeriums von Ralf Jäger (SPD) bei 159 Toten. Im Jahr 2015 – dem derzeit letzten Jahr, für das Zahlen vorliegen, bei 158 Toten. Im Jahr 2011, vor dem Blitzmarathon, habe die Zahl der Opfer bei 235 Toten gelegen, behauptet das Ministerium. Die Reduktion der Zahl der Toten sei unter anderem auf den Blitzmarathon zurückzuführen.
Fazit auf Basis dieser vom Ministerium vorgelegten Daten: Auf den ersten Blick könnte sich im ersten Blitzmarathon-Jahr etwas getan haben. Danach kaum noch.
Falsche Zahlen
Doch richtig spannend wird es erst, wenn man tiefer in die Materie eintaucht:
Das Innenministerium NRW veröffentlicht falsche Zahlen.
Nach Angaben des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste starben im Jahr 2012 genau 163 Menschen im Straßenverkehr aufgrund zu hoher Geschwindigkeit. Und im Jahr 2015 lag die Zahl bei 159 Toten.
Die offizielle Grafik des Landesamtes:
Im Februar 2016 verkaufte Innenminister Jäger im Rahmen einer Pressekonferenz seinen Blitzmarathon als großen Erfolg. Mit falschen Zahlen.
So legte Jäger Unterlagen vor, nach denen im Jahr 2013 genau 173 Toten aufgrund zu hoher Geschwindigkeit im Straßenverkehr gestorben seien. Eine Zahl, die sich im Jahr 2014 laut Jäger wiederholte, um dann im Jahr 2015 rapide auf 158 abzusinken.
Nach Angaben des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste starben im Jahr 2013 jedoch nur 148 Menschen im Straßenverkehr aufgrund zu hoher Geschwindigkeit, um im Jahr 2014 auf 174 Opfer anzusteigen und im nächsten Jahr auf 159 Tote zu sinken. (siehe Grafik des Landesamtes oben)
Wir haben das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste auf die abweichenden Zahlen hingewiesen. Ein Sprecher sagte, die Zahl für das Jahr 2013 sei durch einen Fehler im Ministerium falsch verbreitet worden. Die richtige Zahl sei nicht die vom Ministerium veröffentlichte, sondern die eigene. Die Opferzahl liege bei 148.
Bei den anderen falschen Zahlen handele es sich um statistische Änderungen, die im Verlauf der Jahre nachgetragen – aber noch nicht vom Innenministerium übernommen worden wären. Die Daten stammen von 2013.
Im Klartext: Das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste sagt, Innenminister Jäger hat im Jahr 2016 seinen Blitzmarathon auf einer offiziellen Pressekonferenz mit falschen Zahlen als Erfolg verkauft.
Es geht weiter: Aufgeweckt von den falschen Daten wäre es nun beispielsweise interessant, die Zahlen der Toten im Jahr 2013 mit älteren Daten zu vergleichen. Also: mit der Zahl der tödlichen Unfallopfer aus den Jahren 2007, 2008, 2009 oder 2010 beispielsweise. Doch das ist nicht ohne weiteres möglich. Das Ministerium hat eine Grafik für die Jahre 2007 bis 2011 aus der Verkehrsunfallstatistik aus dem Internet gelöscht, die hier zu finden war.
Screenshot Polizei.NRW
Screenshot Polizei.NRW
Auf Nachfrage teilt das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste mit, dass Daten vor 2011 nicht verfügbar seien, weil sie nicht vergleichbar wären. Zu viel habe sich geändert.
Als letzte verfügbare Zahl nennt das Ministerium also die Zahl von 235 Opfern im Jahr 2011. Von diesem hohen Sockel aus habe sich die Zahl der Verkehrstoten auf die schon genannten rund 160 Toten im Jahr reduziert. Dies sei nicht nur – aber auch – auf den Blitzmarathon zurückzuführen.
Veränderte Angaben
Das ist nicht die letzte Merkwürdigkeit.
Im Verlauf dieser Recherche haben sich Angaben des Ministeriums verändert. So wurde die falsche Zahl von 173 Toten im Jahr 2013 in der Grafik – während dieser Artikel geschrieben wurde – durch die fast korrekte Zahl von 150 Toten ersetzt. Allerdings hat das Ministerium die Kurve nicht der Zahl angepasst. Statt eines Absinkens der Zahl zeigt die Kurve einen Anstieg der Linie.
An anderer Stelle behauptet das Ministerium der Blitzmarathon werde seit 2010 durchgeführt. Tatsächlich gibt es ihn – wie gesagt – seit Februar 2012.
Innenminister Jäger jedenfalls ist vom Blitzmarathon weiter überzeugt. Im Februar 2016 sagte er: „Der Blitzmarathon wirkt.“
Ob Zahlen und Angaben bewusste gefälscht wurden – oder ob das Innenministerium schlampt, wissen wir hier nicht. Auffallend ist allerdings, dass aus dem Innenministerium auch das Parlament vor wenigen Tagen falsch informiert wurde. Es ging dabei um einen angeblich starken Anstieg von Angriffen auf Polizeibeamte. Tatsächlich beruhte auch diese Angabe auf einer falschen Zahl.
+++ Update: Mittlerweile hat das Innenministerium erneut seine Angaben verändert. Nun ist eine Grafik mit fast richtigen Zahlen online. Zumindest zeigt die Kurve jetzt in die richtige Richtung +++
+++ Update 2: @Stepanito hat im Webarchiv eine alte Tabelle aus der Verkehrsunfallstatistik gefunden. Demnach ist die Zahl der Unfälle aufgrund hoher Geschwindigkeit schon deutlich vor dem Blitzmarathon zurückgegangen. +++
Unsere Wertung: vier von fünf Pinocchios für das Innenministerium von Ralf Jäger (SPD)
Mit Pinocchios bewerten wir den Wahrheitsgehalt einer offiziellen Aussage. Fünf Pinocchios stehen für das Maximum einer bewusste Falschmeldung. Ein Pinocchio bezeichnet eine leichtgewichtige Falschmeldung, die Menschen versehentlich in die Irre leitet. Drei Pinocchios stehen für eine grobe unwahre Aussage, die mehr oder weniger fahrlässig über offizielle Kanäle oder in Interviews wiederholt verbreitet wurde.