OMR: Reizüberflutung statt Inklusion – so bringt das Festival Betroffene an ihre Grenzen
„Laut, grell, überfordernd“ – so beschreiben uns neurodivergente Besucherinnen und Besucher das OMR-Festival. Dabei positioniert sich das Event gern als Vorreiter in Sachen Awareness und Diversität. Die Kritik wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie ernst ist es den Veranstaltern wirklich mit Inklusion, wenn sie unsichtbare Einschränkungen nicht ausreichend mitdenken?

Es ist ein Leuchtturm-Event der Digitalbranche: Jedes Jahr zieht das Festival OMR („Online Marketing Rockstars“) fast 70.000 Besucherinnen und Besucher an, außerdem über 800 Speaker und prominente Gäste wie Kim Kardashian, Quentin Tarantino und Ryan Reynolds. Auf dem Karriereportal Linkedin dominiert Hochstimmung während der Veranstaltung: Selfies, Erfahrungsberichte und Live-Kommentare überschwemmen die Timeline.
OMR inszeniert sich gern als Plattform für Vielfalt und Awareness – mit Initiativen wie „5050“, sowie Keynotes, Panels und Interviews zu Diversity, Equality und Inclusion (DEI, auf Deutsch: Diversität, Gleichheit und Inklusion) auf den Hauptbühnen. Das unterstrich auch Geschäftsführerin Isabelle Gardt im Februar im Gespräch mit „Hamburg Business“.
Doch ausgerechnet diese Zielgruppe fühlt sich übersehen: neurodivergente Menschen. Dazu zählen etwa Autistinnen und Autisten, Menschen mit ADHS, Hochsensibilität, Dyskalkulie, Tourette-Syndrom, Legasthenie oder posttraumatischer Belastungsstörung. Laut „Hochschulforum Digitalisierung“ sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung neurodivergent – statistisch also jede fünfte Person.
CORRECTIV hat mit fünf Betroffenen gesprochen, die sich öffentlich auf Linkedin dazu äußerten. Ihre Aussagen werfen Fragen auf: Wie inklusiv ist die OMR tatsächlich?
Von „Reizhölle“ bis zu „nicht machbar“
Die Betroffenen beschrieben die meisten Großevents, so auch die OMR, als eine „Reizhölle“, sie seien voller Lärm, grellem Licht und Menschenmassen. „Die meisten Mega-Events sind so, wie sie gerade ablaufen, nicht machbar“, sagt etwa Social-Media-Managerin und Aktivistin Nala Wahle. „Ich habe mich schon oft in Mengen wiedergefunden, in denen gedrückt, geschubst und gestoßen wird.“ Zwar werben viele Veranstalter mit Inklusion, sagt Wahle. Doch das betreffe meist nur Menschen mit sichtbaren Behinderungen.
Sarah Eichler, Speakerin für Neurodivergenz, beschreibt: „Ich habe mich schon auf Parkdecks oder neben Müllcontainern in Hinterhöfen zurückgezogen, weil es keine geeigneten Ruheräume gab.“ Auf einem Panel im Januar habe sie eine Networking-Session abgebrochen: „Keine Pausen zwischen den Slots. Null Rücksicht auf Reizverarbeitung. Begrüßung mit Umarmung war selbstverständlich. Ich war also völlig reizüberflutet und kurz vor einer Panikattacke.“
Jasmin Benn-Maksimovic, Co-Host des Podcasts „Unverschämt & Unbequem“, meide Events wie OMR aus Selbstschutz gleich ganz: „Für mich ist vor allem die Reizüberflutung ein Problem.“
„Chaos Computer Club“-Kongress zeigt: Es geht auch anders
DEIB-Berater*in Daniela Schubert nennt den Kongress „Chaos Computer Club“ als positives Beispiel. Dort habe es ausgeschilderte Ruheräume gegeben, große Awareness-Teams auf dem Gelände und sogar die Möglichkeit, Vorträge im Ruheraum per Stream zu verfolgen. Schuberts Forderungen an Großveranstaltungen: Luftfilter, Ampelsystem-Sticker für Begrüßungen, Sunflower-Lanyards, Sensibilisierung. „Auch [Long] COVID verschärft neurodivergente Symptome – das muss man bei der Eventplanung mitdenken.“
„Sunflower-Lanyards“ sind seit 2016 gängig und bezeichnen grüne Schlüsselbänder mit Sonnenblumenmuster, die als diskretes Zeichen für nicht sichtbare Behinderungen dienen. Sie sollen es Trägern ermöglichen, darauf hinzuweisen, dass sie möglicherweise zusätzliche Unterstützung, Verständnis oder mehr Zeit benötigen.
Die Reaktion der OMR: bemüht, aber begrenzt
CORRECTIV hat das Großevent OMR mit der Kritik und den Forderungen konfrontiert. Eine Sprecherin nimmt das Feedback „sehr ernst“. Seit 2023 gebe es ein Awareness-Konzept, das laufend weiterentwickelt werde, erklärt sie. Die OMR schreibe sich jedoch nicht „Inklusion“ zu: „Wir sprechen bewusst von ,Awareness‘ und schreiben uns nicht auf die Fahne, dass das OMR Festival inklusiv ist.“
Genannt werden als Maßnahme unter anderem zwei abgedunkelte Rückzugsräume auf dem Indoor-Gelände, ausgestattet mit Couch, Kissen und ausleihbaren Noise-Cancelling-Kopfhörern: Zwei Stück in den Safer Spaces, erklärt die Sprecherin.
Auf Nachfrage von CORRECTIV sollen die Ruheräume 14 und 20 Quadratmeter haben. Gemessen an der potenziellen Zahl neurodivergenter Menschen in der Gesellschaft – rein rechnerisch zwischen 10.500 und 14.000 bei 70.000 Besuchern – erscheint das ausgesprochen wenig. Selbst bei vier Ruheräumen würde das bis zu 0,04 Ruheräume pro 100 neurodivergente Personen bedeuten.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich also: Viele der von CORRECTIV recherchierten Forderungen bleiben unerfüllt. OMR verweist zudem auf eine Awareness-Landingpage. Dort werden jedoch keine Angaben zur Ausstattung der Rückzugsräume gemacht. Auf die Forderungen nach „Sunflower Lanyards“ schreibt die Sprecherin: „Das war mir bisher nicht bekannt“. Sie führt aus: „Die eigene unsichtbare Behinderung sichtbar zu machen, sei eine persönliche Entscheidung.“ Betroffene könnten dies laut der Sprecherin gerne selbstbestimmt auf der OMR umsetzen.
Auf die Frage nach Apps zur Reiznavigation („Wo ist es gerade leer/leise?“) schreibt die Sprecherin: „Die Idee wurde aus sicherheitsrelevanten Aspekten verworfen.“ Bei der Frage nach CO2-Messung, Luftfilterung und Frischluftzufuhr zur Minimierung von Gesundheitsrisiken heißt es: „Das Messegelände umfasst einen großzügigen Außenraum.“ Frei nach dem Motto: Frischluft gibt es auch draußen. Die Hallen seien aber belüftet und FFP2-Masken sollen kostenlos beim Awareness-Team besorgt werden können.
Die OMR verweist zudem auf ein geschultes Awareness-Team in lila Westen, erreichbar per Telefon oder Codewort „Ist SOFIA da?
Ein Anfang – aber reicht das?
Die OMR hat Schritte unternommen, die über den Branchendurchschnitt hinausgehen. Doch viele der recherchierten Forderungen bleiben bislang unerfüllt. Die Reaktionen auf konkrete Vorschläge zeigen, wie groß der Handlungsbedarf ist – vor allem, wenn Inklusion und Diversität mehr sein soll als gute Absicht und Namen im Timetable. Wenn laut Statistik jede fünfte Person in Deutschland neurodivergent ist, stellt sich eine entscheidende Frage: Wer fühlt sich wirklich eingeladen?