Kind im Brunnen: Unfreie Träger
Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Unfreie Träger (VIII)
Einen der Jugendhilfe-Unternehmer darf ich treffen, er bleibt anonym, ich habe es ihm versprochen. Nach dem Studium wurde B. Sozialarbeiter, hat mit Jugendlichen gearbeitet in städtischen Projekten. Nach etlichen Dienstjahren hat er sich aus dem öffentlichen Dienst verabschiedet, war bei einem freien Träger tätig. Irgendwann hat er eine eigene Firma gestartet, die zunächst mit Honorarkräften arbeitete. Familienhelfern, die das nebenbei machten, Freiberufler, die sich selbst versicherten, nicht „Full-Time“ arbeiten wollten, sondern vielleicht noch Musik, Kunst machen wollten.
Die junge Firma hatte wenig Mitarbeiter, geringe Fixkosten, konnte maximal flexibel reagieren. Je nachdem wie viele Klienten ihnen das Jugendamt zusprach. Sie waren frei. Während es einige der Jugendämter bis heute nicht interessiert, wie sich ein kleiner Anbieter organisiert und wer bei ihm die Hilfen zur Erziehung ausführt, pochten andere eine Stadtgrenze weiter auf strengere Vorschriften: nur noch ausgebildete Sozialpädagogen, Festangestellte. Ein Korsett mit Folgen.
Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“
Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.
B. und seine Firma müssen umsetzen, was das Jugendamt als Monopolist verlangt. Meinungsverschiedenheiten mit dem Auftraggeber gefährden das Unternehmen, und zwar einseitig. Besonders für kleinere Sozialdienstleister sind Jugendämter ein komplizierter Auftraggeber. Für sie erscheint die Jugendamtslandschaft an Rhein und Ruhr wie ein Flickenteppich mit wenig Gemeinsamkeiten, auch nicht in den eigentlichen Inhalten der Arbeit, den Hilfekonzepten.
B. berichtet von den Unterschieden zwischen Ämtern, ja selbst innerhalb von Jugendämtern. So würden die Stundensätze für sozialpädagogische Familienhilfen allein im Großraum Ruhrgebiets je nach Stadt zwischen 46 und 76 Euro schwanken. Entscheidend für die Hilfsmaßnahme sind vor Ort der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) des Jugendamts und deren Mitarbeiter, die als Case-Manager die Hilfen beauftragen und koordinieren.
Im ASD wirken Entscheider mit disparaten Konzepten, sagt B. – das kann ein ehemaliger Bundeswehrausbilder sein und gleich nebenan eine reformpädagogisch geprägte Frau mit einem Faible für sanftere Konzepte. Wer auf diesem Markt bestehen will, brauche Fingerspitzengefühl und ein gutes Netzwerk. Oder als Organisation eine Größe, die es mit Stadtverwaltungen aufnehmen kann.
Politische Regieanweisung
Freie Träger haben Wohlfahrtsgeschichte in Deutschland geschrieben. Bevor der Staat sich um die Fürsorge seiner Untertanen sorgte, begannen konfessionell geprägte Vereinigungen die sozialen Verwerfungen durch Industrialisierung und Verstädterung zu lindern. Aus einer Mischung von katholischer Soziallehre und liberalem Gedankengut schälte sich schließlich ein so genanntes „Subsidiaritätsprinzip“ heraus. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde es zu einer politischen Regieanweisung im Reich.
Das Engagement der gemeinnützigen Verbände, wie der zur Massenorganisation ausgewachsene Caritas-Verband, wurde geschützt und gefördert. Statt staatliche Einrichtungen aufzubauen wurde bei Waisenheimen oder Krankenhäusern auf die Angebote der „subsidiären“, sprich: der untergeordneten Verbände zugegriffen. Umgekehrt standen die Sozialverbände als Nicht-Regierungs-Organisationen loyal zum Staat. Die Stabilität des Kaiserreichs bis in den Ersten Weltkrieg hinein beruhte auch auf diesem Korporatismus, und der nicht zuletzt auf wirtschaftlichen Verflechtungen.
In der Weimarer Republik war Subsidiarität ein Grundprinzip einer zerklüfteten Gesellschaft mit einem entsprechend ausufernden Verbandswesen aller Konfessionen und Weltanschauungen. Nach der Gleichschaltung in den Führer-Staat Nazi-Deutschlands ließ die Bundesrepublik das Subsidiaritätsprinzip wieder aufleben. Doch nicht ohne Konflikte. In der Jugendhilfe bauten Kommunen auch auf eigene Angebote, wollten dieses Feld nicht allein den freien Trägern überlassen.
Ein beeindruckendes Comeback erlebte das „Subsidiaritätsprinzip“ dann ab den 1980er Jahren. Das Outsourcing in der Wirtschaft machte es vor. Der Trend ging zur Privatisierung von Staatsbetrieben und von kommunalen Einrichtungen, erst recht nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Unter der christlich-liberalen Bundesregierung wurde „Privat vor Staat“ und auch die Subsidiarität zum Kerngedanken einer neuen Sozialgesetzgebung: Der Staat sollte sich, nicht zuletzt aus fiskalischen Gründen, verschlanken. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das 1990 in Kraft trat, schreibt vor, die „Hilfen zur Erziehung“ von freien Trägern erfüllen zu lassen.
Und so ringen die riesige Caritas und die kleinen Beraterbüros wie das von B. seither auf einem wachsenden Markt der öffentlichen Mittel. Ein Sparkurs wurde es nicht.
„Die Caritas kann natürlich bessere Tarife machen als wir“, meint B.: Ein großer Verband sei freier in seinen Entscheidungen, unabhängiger von den Jugendämtern. Trotzdem hat sich auch das Unternehmen von B. gut entwickelt, in wenigen Jahren wurde die Millionenmarke im Umsatz übersprungen – mit mehr als einem Dutzend fester Mitarbeiter.
Das übliche Programm
Das Risiko sei sehr groß, die Arbeit mit den problematischen Familien belastend. Was auf der Strecke bleibe, sei die Freiheit in der praktischen Arbeit. „Die ASDler gehen ja nicht raus.“ Nach einer Meldung auf Kindeswohlgefährdung würden zwei Jugendamtsmitarbeiter die Familie begutachten, nach einer kurzen Inaugenscheinnahme würde im Amt entschieden, welche Hilfen angemessen sind, mit welchen Zielen, in welchem Umfang und von welchem Träger.
„Vier Wochenstunden, Laufzeit sechs Monate“ sei das übliche Programm, sagt B. – jede Woche müssten sie dem Amt über den Hilfeverlauf berichten. Schließlich finde ein Hilfeplangespräch aller Beteiligten statt, um über die Fortdauer der Hilfen, andere Interventionen oder das Ende der Maßnahme zu beraten. Zu kurz komme, ob Helfer und Familie miteinander auskommen. Eine Probezeit gebe es nicht.
„Wir machen das intern, sehen die erste Woche als Schnupperphase und beenden die Maßnahme von uns aus, wenn es nicht passt“, sagt B.. Aus Bordmitteln. Umgekehrt führten ökonomische Zwängen zu seltsamen Entwicklungen. Wenn die Stabilisierung in einer Familie schnell gelinge, wenn wieder Rhythmus in den Tagesablauf komme oder das Schulschwänzen aufhörte, „kann das Amt die Hilfe vorzeitig einstellen“. Dann zu Lasten des freien Trägers. Der habe daran natürlich wenig Interesse. Vom Kind aus, von seiner Entwicklung und den Beziehungen zu Eltern, Geschwistern werde wenig gedacht, sagt B. enttäuscht. Das Jugendamt greife zum Mittel der Sozialpädagogischen Familienhilfe nach einem Hinweis auf Kindeswohlgefährdung nicht zuletzt aus Selbstschutz, „die wollen dokumentieren, dass sie etwas getan haben“.
Die andere Seite des Schreibtisches kennt Werner Fiedler, der frisch pensionierte Abteilungsleiter aus Gladbeck. Seit vielen Jahren herrsche unter den freien Trägern eine Art „Goldgräberstimmung“, der Fantasie seien keine Grenzen gesetzt. Die Kommunen bräuchten die Angebote für die ständig steigende Zahl von zu betreuenden Kinder- Jugendlichen und Familien. Und die in Rechnung gestellten Fallkosten würden „nicht selten in astronomische Höhen gehen und das bei häufig ernüchternden Ergebnissen“, meint Fiedler. Allein das Jugendamt Gladbeck beauftrage 150 unterschiedliche freie Träger: „Wer soll die alle kontrollieren?“
Die Hilfen zur Erziehung und ganz allgemein die Kinder- und Jugendhilfe sind auch ein Spielplatz für neue Ideen und Konzepte. Seit 1990 das Jugendhilfegesetz, das Sozialgesetzbuch VIII verabschiedet wurde, hat sich die Palette ausgeweitet. Zu den stationären Hilfen kamen individualpädagogische Ansätze, beispielsweise „Boot-Camps“ oder Daueraufenthalte für Jugendliche im Ausland, um den Jungen und Mädchen in einer fremden Umgebung einen neuen Start zu ermöglichen.
Neben dem Gebot der Subsidiarität halfen auch haushalterische Taschenspielertricks dem Neuen auf den Weg: Die berechneten Tagessätze für Heimerziehung in kommunalen Einrichtungen beinhalten auch beträchtliche Ausgaben für den kommunalen Verwaltungsapparat in der Jugendhilfe. Laufende Kosten, die nicht verschwinden, auch dann nicht, wenn ein Kinderheim geschlossen wird. „Da werden Äpfel mit Birnen verglichen“, sagt Fiedler. Freie Träger rechneten geschickter, ihr Apparat sei weniger groß. Trotzdem: „Erfahrungen Ende der 1990er Jahre haben mir gezeigt, dass die Kommune Angebote günstiger vorhalten kann, wenn sie selbst Anbieterin ist.“ Doch nicht nur dieses Kind ist längst in den Brunnen gefallen.
In der Messe Düsseldorf, Halle 3, entfaltet sich das ganze Spektrum der Hilfen, Kletterkurse, Kanufreizeiten bis zu Individualmaßnahmen im Urwald Nicaraguas. Besonders viel Fantasie haben die Jugendhelfer aus Bayern mitgebracht. Wie eine Trachtengruppe zeigt sich die viele Dutzend starke Gruppe in Dirndl oder Lederhose. Mit Handzetteln laden die engagierten Sozialarbeiter ein zur „Guerillaparty“ an ihren Messestand. Der ist auch einer größten beim Jugendhilfetag: ein Biergarten mit Biertischen und Brezeln. Die Szenerie ist umstellt von Bauzäunen mit Stacheldraht, lebensgroßen Fotografien von Flüchtenden, darüber auf schwarzem Tuch das Motto der Jugendhilfe Oberbayern: „Uns geht es ja gut.“