Häusliche Gewalt
Ein nationales Problem, lokal recherchiert
Es ist eine neuartige Kooperationsform: 31 Lokalmedien recherchieren zusammen mit CORRECTIV.Lokal zum Thema Häusliche Gewalt. In ihren Geschichten dokumentieren sie an unterschiedlichen Orten, woran der Kampf gegen Häusliche Gewalt scheitert. Sie blicken in überlastete Frauenhäuser, berichten über digitale Gewalt, Femizide und die Not von Kindern. Sechs der Journalistinnen und Journalisten geben Einblick in ihre Lokalrecherchen.
von André Ricci und Pia Siber
Erkrankte Opfer, Versteckte GPS-Sender, Überforderte Jugendämter
Stefan Simon schreibt für die Frankfurter Rundschau und hat dort eine Artikelserie zum Thema Häusliche Gewalt ins Leben gerufen, die sich bereits über mehrere Wochen erstreckt. Die CORRECTIV-Daten zu überlasteten Frauenhäusern in Hessen boten Anregung und Einstieg für weitere Themen. Der Fokus der Berichterstattung liegt aber nicht allein auf den Frauenhäusern. „Wir wollten das Thema breiter fassen“, sagt Stefan Simon.
So geht es in einem Beitrag um posttraumatische Belastungsstörungen infolge von Vergewaltigungen und in einem anderen Artikel um digitale Gewalt, darunter Geschichten von Tätern, die GPS-Sender im Kinderwagen ihrer Frauen angebracht haben, um ihren Standort zu erfassen. In einem weiteren Artikel erzählt Journalist Simon die Geschichte einer Frau, die als Kind viel Gewalt durch ihren Stiefvater in der Familie erlebte. Darin reflektiert sie, warum es ihrer Mutter nur schwer gelang, sich aus der Beziehung zu lösen. Am Internationalen Frauentag wird eine Mitarbeiterin der Opferschutzorganisation Weißer Ring porträtiert und in einem weiteren Artikel wird es um Femizide gehen. In Planung ist zudem ein Beitrag über die Arbeit der hessischen Jugendämter unter Corona-Bedingungen.
Zu den Artikel von Stefan Simon und seiner Kollegin in der Frankfurter Rundschau
Nach Berichterstattung kündigt Gesundheitsministerin neue Anlaufstellen für Opfer an
Gesa Steeger hat für die Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ) schon im vergangenen Jahr über Gewalt gegen Frauen geschrieben, es ging es um Femizide im Land Brandenburg. „Da passte das CORRECTIV-Thema Häusliche Gewalt sehr gut zu“, sagt sie. Sie nahm Kontakt zu Frauenhäusern auf und sprach mit einer Bewohnerin darüber, was es ganz konkret bedeutet, Gewalt in den eigenen vier Wänden ausgesetzt zu sein und ins Frauenhaus zu gehen. Entstanden ist ein lebendiger Text, eine Nahaufnahme – ergänzt durch den Datenhintergrund der CORRECTIV-Recherche.
Ihr Text sorgte in Brandenburg für Diskussion: Die Nachrichtenagentur dpa übernahm den Nachrichtenkern der Geschichte und berichtete unter Verweis auf die MAZ, dass im Land Brandenburg Schutzplätze für gewaltbetroffene Frauen fehlen. In dieser Woche kündigte Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) an, Traumaambulanzen für Opfer von Gewalttaten in sechs Brandenburger Landkreisen zu eröffnen. Journalistin Steeger will am Thema dranbleiben und als Nächstes zu Hasskommentaren im Internet recherchieren, die sich gegen weibliche Landtagsabgeordnete richten.
Innovatives Bürgerradio: Auf einen Beitrag folgt Themenwoche
Ulf Engelmayer gehört zum Team von Radio Leinewelle in Göttingen. Hervorgegangen aus dem Bürgerfunk, möchte das Internet-Lokalradio die Region Südniedersachsen nicht nur mit guter Musik, sondern auch mit gut recherchierten journalistischen Inhalten versorgen. Ein Textbeitrag mit den CORRECTIV-Daten zu den Frauenhäusern ist bereits erschienen, Radiobeiträge könnten folgen.
„Das Thema ist ja nicht ganz einfach“, sagt Engelmayer. „Die Daten sind hervorragendes Material, um ins Thema zu kommen.“ Das Radio-Team hat sich vorgenommen, in Vernetzung mit lokalen Initiativen einen Themenschwerpunkt zu Häuslicher Gewalt zu initiieren. „Wir konnten über unsere Social-Media-Kanäle sehr viele Kontakte einsammeln“, berichtet der Radiomacher. „Ich denke wir stehen da am Anfang einer sehr interessanten Kooperation. Das Start-up Radio Leinewelle ist für uns auch ein Experiment der Entwicklung eines crossmedialen lokalen Medienprojekts.“ Dieses Projekt wurde schnell größer und entwickelte eine Eigendynamik. Aus einem geplanten Thementag wurde eine ganze Themenwoche. Sie soll mit dem Internationalen Frauentag am Montag eingeläutet werden.
Kommunaler Flickenteppich: Ein Frauenhaus kann Studentinnen ohne finanzielle Mittel nicht aufnehmen
Edina Hojas, Lehrerin und freie Journalistin, hat in Münster für den Blog Die Wiedertäufer recherchiert. „CORRECTIV hat mir dabei viel Recherchearbeit abgenommen. Informationen wurden mir wie Legosteine angeboten, auf die ich dann aufbauen konnte“, sagt Hojas. Mit dem Material hat sie vor Ort weiter recherchiert. Hojas Fokus lag dabei auf der prekären Finanzierung von Frauenhäusern. Ihre Ergebnisse passten zum Gesamtbild: Nicht nur deutschlandweit ist die Finanzierung ein Flickenteppich, selbst die beiden Frauenhäuser in der Region Münster sind unterschiedlich finanziert.
Durch die kommunale Trägerschaft finanziert sich das Frauenhaus in Münster über die einzelnen Fälle. Die Frauen zahlen einen eigenen Beitrag, um aufgenommen zu werden. Bei Frauen, die nicht die nötigen finanziellen Mittel haben, wird dieser Anteil häufig über das Arbeitslosengeld II abgerechnet. Das Problem dabei: Einige fallen dadurch aus dem System. Darunter Studentinnen, die sich nicht arbeitslos melden können. Diese Frauen kann ein Frauenhaus nur schwer aufnehmen. Bei ihren Recherchen erfuhr Hojas, dass das Frauenhaus in Münster sich seit Jahren bislang erfolglos um eine Landesfinanzierung bemüht. Rund 30 Kilometer weiter wird das Frauenhaus in Telgte bereits vom Land finanziert.
Komplizierte Suche und sensibler Umgang mit Betroffenen
Lisa Pausch veröffentlichte gemeinsam mit zwei Kolleginnen mehrere Artikel in der Augsburger Allgemeinen. In einer Themenwoche stellten sie zentrale Statistiken zu Häuslicher Gewalt zusammen, interviewten eine Juristin und eine Historikerin. Pausch und ihre Kolleginnen Christina Heller-Beschnitt und Sandra Liermann fragten sich, warum es auf dem Land so wenig Frauenhäuser gibt.
Viele Landkreise in Bayern haben kein eigenes Frauenhaus, weshalb betroffene Frauen teilweise in ein weit entferntes Haus weitervermittelt werden. Sie erfuhren, dass es Frauen auf dem Land schwerer fällt, Hilfe zu suchen, da sie tendenziell von ihrem sozialen Umfeld stärker kontrolliert werden.
Trotzdem fand Pausch eine Betroffene, mit der sie sprechen konnte. „Für mich war klar, dass ich sie sehen muss: Ihre Wohnung, ihr Gesicht und ihre Körpersprache“, sagt Pausch. Sie trafen sich in der Wohnung der Frau. Während des Gesprächs trugen beide Masken. „Das war bei diesem persönlichen Thema sehr komisch.“ Mehrere Wochen vor dem Gespräch nahm sie an einem Workshop von CORRECTIV.Lokal zum „Journalistischen Umgang mit traumatisierten Menschen“ teil. Eine Traumatherapeutin und investigative Journalistin gaben ihre Erfahrungen weiter. Das habe ihr sehr geholfen.
Mit einer betroffenen Frau zu sprechen war für das Augsburger Team schon schwierig gewesen. „Bei Männern war es mega schwer“, sagt Journalistin Heller-Beschnitt. Allein Verbände oder Organisationen waren schwer zu finden, die sich um von Gewalt betroffene Männer kümmern. Am Ende tauschte sie sich mit einem Vertreter einer Fachstelle aus, die betroffenen Männern hilft.
Zu den Artikeln von Lisa Pausch und ihren Kolleginnen in der Augsburger Allgemeinen
Eine Datenauswertung bringt Zeit für lokale Recherchen
Nora Burgard-Arp steht in der Digitalredaktion der NOZ-Medien in Hamburg immer wieder vor der Herausforderung, Themen für drei unterschiedliche Lokalzeitungen aufzubereiten. Für die Schweriner Volkszeitung, der Neuen Osnabrücker Zeitung und den Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag. „Bei der Recherche waren für alle Verbreitungsgebiete Daten und Umfrageergebnisse vorhanden“, sagt Burgard-Arp. Daher fiel es ihr leicht, die Texte für die einzelnen Lokalzeitungen spezifisch aufzuschreiben und gleichzeitig in einen überregionalen Kontext zu setzen.
Und sie recherchierte selbst weiter. Über das Netzwerk von CORRECTIV.Lokal bekam sie den Kontakt zu einem Frauenhaus in Neumünster vermittelt und telefonierte mit einer Mitarbeiterin. „Meine Reportage wäre vermutlich noch besser geworden, wenn ich das Frauenhaus besucht hätte“, sagt Burgard-Arp. Ein Gespräch am Telefon sei sehr rational und besonders bei diesem sensiblen Thema wäre sie lieber vor Ort gewesen. Der Lockdown ließ das nicht zu. In ihrer Geschichte berichtet sie, dass die Mitarbeiterin im Frauenhaus davon ausgeht, dass es während des Lockdowns zu deutlich mehr Gewalttaten kommt. Mit den Lockerungen der Corona-Maßnahmen könnten sich die Anfragen erhöhen. Schon jetzt müssten sie täglich Frauen aufgrund von Platzmangel absagen. Burgard-Arp möchte das beobachten und kündigt an, mit der Mitarbeiterin in Kontakt zu bleiben.
Zum Artikel von Nora Burgard-Arp in der NOZ
Diese Recherche ist Teil einer neuartigen Kooperation zum Thema Häusliche Gewalt. Erstmals haben sich unter der Leitung von CORRECTIV.Lokal bundesweit Lokaljournalistinnen und -journalisten zusammengeschlossen. In den letzten Monaten teilten sie Rechercheergebnisse miteinander, werteten Daten aus und vermittelten Kontakte für Gespräche. Mehr als 100 Mitglieder des Netzwerkes nahmen an einer Fortbildung von CORRECTIV.Lokal zum Umgang mit traumatisierten Menschen teil. Die Ergebnisse sämtlicher Recherchen werden ab dem 10. Februar schrittweise veröffentlicht.