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Niemand nennt es Geschäft

Im Fußball beginnt das Scouting nach neuen Talenten immer früher. Die Bundesligisten konkurrieren untereinander mit modernen Nachwuchsleistungszentren. Kinder werden zur Ware, kosten Ausbildungsentschädigungen im in fünfstelliger Höhe. Doch nur einem Spieler von Tausend gelingt über die Zentren der Einstieg in den Profifußball.

von Anne Armbrecht

Hier geht es noch um den Spaß am Fußball: Nachwuchskicker in einem Gelsenkirchener Fußballclub© Ivo Mayr / Correctiv

Nachwuchsförderung verkauft sich immer gut. Also hat der FC Bayern im vergangenen Sommer mit Blasmusik und großem Trara sein neues Nachwuchsgelände in Fröttmaning eröffnet. Das Schmuckstück ist 30 Hektar groß und hat gut 70 Millionen Euro gekostet. Es fasst unter anderem acht Rasenplätze, 35 Apartments, ein Stadion und eine eigene Bushaltestelle. „Vielleicht ist das die Antwort auf den Transferwahnsinn und die Gehaltsexplosionen“, sagte Vereinspräsident Uli Hoeneß. Das klingt charmant, korrespondiert aber nicht ganz mit der Wirklichkeit. Der letzte Bayern-Profi, der aus dem eigenen Nachwuchs den Durchbruch schaffte, war David Alaba. Acht Jahre ist das schon her.

Die Bundesliga erzielt seit Jahren immer neue Rekorde, wenn es darum geht, in den eigenen Nachwuchs zu investieren. Laut dem Jahresbericht der Deutschen Fußball-Liga (DFL) haben die 18 Bundesligaklubs in der Saison 2015/16 für den Posten Jugend/Amateure/Leistungszentrum 109,9 Millionen Euro ausgegeben. Im Jahr zuvor waren es noch 93,9 Millionen – und bei der Einführung der Nachwuchsleistungszentren (NLZ) vor 15 Jahren nicht einmal die Hälfte. Zahlen, hinter denen sich Erfolge verbergen, aber auch Tragödien. Ein paar wenige Nachwuchskicker schaffen es zu den Profis. Von denen, die scheitern, spricht niemand gern. Wie ergeht es den vielen, die auf der Strecke bleiben?

Scouting um die besten Talente

Ortsbesuch in Hamburg. Roger Stilz sitzt beim Italiener und braucht jetzt etwas, das er entschieden von sich schieben kann. Es erwischt die Espressotasse. „Es geht doch darum. Wie kann ich ruhig schlafen? Und ich könnte es halt nicht. Wenn ich einen U16-Spieler vor die Tür setze, dem ich vor einem Jahr noch das Paradies versprochen und quer durch das Land gekarrt habe. Ich könnte es nicht. Aber wenn andere das können, dann sollen sie es tun.“

Stilz wurde humanistisch erzogen. Freiheit und Verantwortung stehen bei ihm hoch im Kurs. Auch Verlässlichkeit. Doch dass ein Wort mitunter wenig gilt in der Branche, hat auch er lernen müssen in seinem ersten Jahr als Leiter des NLZ beim Fußball-Zweitligaklub St. Pauli. Dann etwa, wenn man einem Jungen die Fahrt in den nächsten Stadtteil nicht zumuten will, man ihn im Heimatklub belässt – und kurz später, trotz anderer Vereinbarung, die Konkurrenz aus 200 Kilometern Entfernung zuschlägt.

Nachwuchs und soziale Verantwortung – für Stilz ist das ein heikles Thema. Nicht etwa, weil es sich ausschließt. Vielmehr, weil es anderen an der Haltung zu fehlen scheint, die er selbst an den Tag legt. Für Stilz sind Hamburg und Umland das Einzugsgebiet. Das ist pragmatisch, weil nur fünf Scouts zur Verfügung stehen, und ringsherum mit dem HSV und Werder Bremen die höherklassige Konkurrenz lauert. Es ist aber auch der Glaube, dass alles andere in jungen Jahren noch nicht sinnvoll ist.

Ablösesummen für 12-Jährige

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat im Sommer 2012 eine „Vereinbarung zum Schutz der Leistungszentren“ verabschiedet und sich dafür ausgiebig feiern lassen. Gleich eingangs verweist das Dokument auf die „beträchtliche soziale Verantwortung des Fußballs.“ Unterzeichnende Vereine stimmen überein, dass es für die Entwicklung eines Spielers bis „einschließlich U15 nicht förderlich wäre, wenn er sein vertrautes privates, familiäres und schulisches Umfeld verlassen müsste.“ Die Realität sieht freilich anders aus. Eine genaue Zahl wird zwar nirgendwo dokumentiert. Doch Wechsel sind inzwischen selbst von Zwölf- und 13-Jährigen bundesweit gang und gäbe. 2016 wechselte der gerade elfjährige Youssoufa Moukoko aus Hamburg ins 350 Kilometer entfernte Dortmund. Wo also liegt das Problem?

Erstens ist die Erklärung nicht rechtlich bindend, sondern nur ein Gentlemen’s Agreement unter den Klubs. Zweitens sieht sie auch eine Ausbildungsentschädigung vor. Die wird fällig, wenn ein Spieler zwischen zwölf und 23 Jahren von einem NLZ in ein anderes wechselt. Die Summe ist festgeschrieben. Sie richtet sich etwa nach der Altersklasse und danach, wie lange der Spieler im NLZ ausgebildet wurde. Oben drauf kommt für Internatsschüler noch eine Pauschale für die Unterbringung. So kommen zwischen 2.500 Euro und 91.500 Euro für einen Wechsel zusammen. Beides führt dazu, dass die Klubs einfach früher verpflichten – dann nämlich, wenn noch keine Verträge gelten und keine oder nur eine geringe Entschädigungszahlung fällig wird: mit elf, zwölf oder 13 Jahren. Der „Kampf um Talente“ verschiebt sich so just in jene Jahrgänge, in denen das Einsammeln und Hin- und Herschieben von Kindern auf der Landkarte eigentlich vermieden werden sollte.

Eine DFB-Klausel, nach der Internate erst für 15-Jährige zulässig sind, umgehen Vereine immer häufiger mit Gastfamilien oder (steuerfinanzierten) kommunalen Einrichtungen. Zusätzlich dazu erweitern sie fleißig für Ältere ihre Internate. Im Ligavergleich hat noch RB Leipzig mit 80 Plätzen die Nase vorn: Gemessen am gesamten NLZ kommt fast ein Drittel der Spieler von außerhalb. Im Schnitt liegt der Anteil Auswärtiger etwa bei zehn Prozent.

Kinder ernähren die Familie

Die Vereine hätten in den kommunalen Einrichtungen die Erlaubnis, auch Zehnjährige unterzubringen. Verantwortungslos finden sie das nicht an sich. „Eltern schicken ihre Kinder ja auch in Knabenchöre“, sagt Dominik Drobisch und behauptet, das fände dann auch niemand pädagogisch zweifelhaft. Drobisch ist Leiter des NLZ der TSG Hoffenheim. Er holt Spieler selbst erst ab der U15 ins Internat. Und auch das erst seit diesem Jahr. Es sei ein Zugeständnis an die Entwicklung der Branche, gesteht er. Eigentlich sei ihm das zu früh. Doch man müsste über jüngere Jahrgänge nachdenken, wenn man merke, dass man sonst im Wettbewerbsnachteil sei. Ein Berater einer renommierten Agentur zeigt andersherum auch auf die Eltern: Manche begriffen heutzutage „schon Zwölfjährige als Ernährer der Familie“. Kein Wunder, wenn U16-Spieler in der Spitze im Monat 9.000 Euro nach Hause bringen.

Weil im so frühen Alter aber noch keine verlässliche Talent-Prognose möglich ist, beginnt nun das bekannte Spiel: in Masse verpflichten, dann aussortieren. Von Hamburg nach Wolfsburg nach Hamburg nach Dortmund und ins Ausland. Von Stuttgart nach Leipzig nach Kaiserslautern nach Aalen. Oder von Kiel nach Leipzig nach Braunschweig. Das sind nur einige Beispiele. Ein Nachwuchsleiter aus dem Osten berichtet, immer häufiger würden Jungen selbstbewusst die Heimat verlassen – und im Jahr darauf dann wieder weinend an die Tür klopfen. Eine Studie der TU Kaiserslautern zeigte schon im Jahr 2013, dass in Internaten und Nationalmannschaften jedes Jahr rund ein Viertel der Spieler ausgetauscht wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler nach drei Jahren noch dabei ist, liegt unter 50 Prozent.

Die Transfers an sich sind das Eine – gravierender ist das persönliche Risiko. Während der Nachwuchs in olympischen Sportarten wie Kanu und Rudern darauf vorbereitet wird, dass der Verdienst selbst für die Weltspitze oftmals nicht allein zum Leben reicht, wird den Kids beim Kicken nach wie vor der Traum vom Profifußball und dem großen Geld verkauft. Statistisch gesehen schafft es nicht einmal ein Spieler unter tausend tatsächlich dorthin.

Die biografische Falle

Die Mehrheit braucht eine Alternative. Doch mit dem Verein wechseln die Spieler auch alle paar Jahre die Schule. Es sollte also im Interesse der Vereine sein, ihre Spieler beim Schulabschluss bestmöglich zu unterstützen. Allzu oft funktioniert das nur in der Theorie. „Die Systeme Schule und Spitzensport stehen immer in Konkurrenz“, sagt ein Lehrer einer Fußball-Eliteschule in Nordrhein-Westfalen. „Diesen Konflikt muss letztlich der Jugendliche aushalten.“ Ein ehemaliger Spieler schildert aus Leverkusen, dass Bayer ihn zwar bis zum Realschulabschluss förderte. Alles darüber hinaus sei aber nur leidlich erwünscht gewesen. Am Ende gab er seinen Platz in der Regionalliga zugunsten des Studiums freiwillig auf.

Die NLZ sind seit 2003 fester Bestandteil des Lizenzierungsverfahrens im Profifußball. Seit der Saison 2007/08 werden sie durch die belgische Agentur Double Pass zusätzlich zertifiziert. Auch Dritt- und Viertligavereine bewerben sich um das Qualitätssiegel. Für die maximal drei Sterne gibt es vom DFB bis zu 400.000 Euro pro Saison. Wer selbst ausbildet, spart sich dazu teure Zugänge und nimmt womöglich Ablöse ein, wenn ein Spieler abgeworben wird.

Wer drei von drei Sternen ausweist, dem müssen Eltern glauben, dass sie hier eine rundum exzellente Wahl für ihr Kind vorfinden. Eine Rangliste, wer in der Zertifizierung wie gut abschneidet, gibt es offiziell nicht. Auch zum Prozedere selbst wollen sich weder DFB und DFL, noch die zuständige Agentur auf Anfrage äußern. In einem verbandsinternen Magazin bekommt man zumindest eine Vorstellung, was das Verfahren aus dem Jahr 2015 betrifft. Demnach erfolgt die Qualitätsprüfung über acht Dimensionen. Dem Segment „Unterstützung und Bildung“ – darunter zählen neben pädagogischen und schulischen Belangen auch medizinische – kommen lediglich neun Prozent zu.

Die Bewertung ist selbst für die Vereine kaum nachvollziehbar. „Es gibt sehr, sehr viele Punkte auf sehr, sehr langen Listen“, sagt der pädagogische Leiter eines Bundesligaklubs. Stapelweise Stellenbeschreibungen, Lebensläufe, Nachhilfepläne: formale Kriterien vor allem. Wer sie wie mit Leben füllt, ist eine andere Sache. Aus Leipzig berichten aussortierte Spieler, wie Zeugnisse am Anfang mal eingesammelt wurden. Aber irgendwann habe das niemanden mehr interessiert. Nachhilfe habe es nur mit anderen Jahrgängen gemeinsam gegeben, für eineinhalb Stunden pro Woche, eher eine bessere Hausaufgabenbetreuung. Es gab in Leipzig zwar Psychologen, aber Gespräche mit ihnen habe es nicht gegeben. Später ziehen Spieler und Eltern ihr Interview zurück. Sie hätten Angst vor den Konsequenzen, die den Jungs auf dem Transfermarkt drohten, sagen sie. Stellung nehmen will der Verein nicht dazu. Ein Gespräch zum Thema „soziale Verantwortung im Nachwuchsfußball“ kommt innerhalb von drei Monaten nicht zustande. Auch Bayern, Dortmund und Wolfsburg lehnen ab. Aus Zeitgründen, wie es heißt.

Nachschreibetermine und Freistellung für Kadermaßnahmen sind dafür perfekt organisiert. Letztlich geht es ums Funktionieren, meint ein Vater. Funktionieren für den Fußball. Die meisten Vereine können dabei auf die Kooperation sogenannter Eliteschulen des Fußballs setzen. Auch dafür gibt es Geld vom DFB: Dass die Schule spurt, wenn es um Fußball geht. Beobachter halten diese Form der Abhängigkeit für schwierig. „In der Wirtschaft hielte man solch eine Verquickung für anfällig für Korruption“, sagen sie. „Warum sollte das im Bildungssystem anders sein?“ Eine Erhebung zum Abschneiden der Fußballer bei Schulabschüssen gibt es von den Bundesländern nicht. Eine repräsentative Studie zu Leichtathleten an Elitesportschulen ergab 2017 allerdings im Vergleich zu den Eltern einen signifikanten Bildungsabstieg für die jungen Athleten.

Neue Unterrichts-Fächer nach einem Wechsel

Bei Fußballtransfers ist die Hürde noch höher: Wechsel zwischen Bundesländern verlaufen selten reibungslos. In Nordrhein-Westfalen gibt es an Wirtschaftskollegien Fächer, die es nirgendwo sonst gibt – wofür den Schülern mit Rechnungswesen wiederum Naturwissenschaften fehlen. Es kommt schon mal vor, dass ein Spieler, der von München nach Mainz wechselt, mit 17 komplett neu anfängt, Französisch zu lernen. Weil er keine zweite Fremdsprache hatte – die aber in Rheinland-Pfalz in der Oberstufe Pflicht ist. „Das ist dann teilweise schon brutal für die Spieler“, sagt Jonas Schuster, der pädagogische Leiter vom FSV Mainz 05.

In Mainz gilt deshalb auch: Wer anstelle des Trainings mal freiwillig lernt, dem soll das sportlich nicht schaden. „Dann darf sich der Trainer nicht vor die Mannschaft stellen und sagen: Du spielst heute nicht“, sagt Jonas Schuster. Und selbst wenn. Roger Stilz vom FC St. Pauli zuckt mit den Schultern. „Ich habe als Junge auch immer gedacht: Das nächste Spiel ist immer das wichtigste. Aber was ist denn ein Spiel in der U19? Solang es nicht zehn sind.“

Die Schule als Priorität – das gilt so nicht überall. Und vermutlich nirgends, wenn es um Abstiegskampf oder Titel geht. So bekommt mancher Spieler erst nach Saisonschluss gesagt: Wir planen nächstes Jahr nicht mehr mit dir. Dann bleiben kaum vier Wochen für die Suche nach einem neuen Verein – und einer neuen Schule. Meistens ist an den Klub auch der Schulplatz geknüpft. Die Klubs argumentieren, ein früherer Zeitpunkt sei zu riskant, weil der Junge dann in den letzten Spielen nicht mehr alles geben würde. Hauptsache, der Fokus liegt voll auf dem Fußball. Zeit für Fehler oder Krisen? Bleibt im System nicht mehr.

Wirtschaftliche Interessen und Verantwortung – schließt sich das aus? Nein, sagt Roger Stilz. „Es beißt sich doch auf keinen Fall. Natürlich nicht. Die machen es sich zu einfach.“ Aber es braucht die richtigen Leute. Menschen mit Mut und mit Haltung. Und die, das hat Stilz erkannt, sind selten geworden im Fußballbetrieb. Soziale Verantwortung. Am Ende ist es eben doch Geschäft. Nur nennt es niemand so, bei den Jüngsten. Die Eltern geben ihr Kind guten Gewissens in die Hände der Vereine. Es wird schon gut gehen, mit Profifußball und Schule. Sie haben es ja versprochen.


Diese Recherche ist eine Kooperation mit der Berliner Tageszeitung „Tagesspiegel“. Die Autorin arbeitet dort im Sport-Ressort und hat zuvor für zwei Monate in der Redaktion von CORRECTIV das Thema recherchiert.