Corona CrowdProjekt

Was uns das Virus lehrt

12 Monate, 1,7 Millionen Tote. 11 Lektionen aus der Pandemie-Krise – die Langfassung.

von Cordt Schnibben , Esther Göbel

Virus 3

Da sind die Zahlen, die uns jeden Morgen sagen, ob das Virus wieder für neue Rekorde gesorgt hat, wo es auf der Welt gerade besonders ansteckend ist, in welchen Krankenhäusern es Ärzte und Pflegerinnen verzweifeln lässt. Und da sind diese Nachrichten, die uns zeigen, dass das Virus mehr bringt als Krankheit und Tod.

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU erklärt im Bundestag, autoritäre Staaten kämen mit dem Virus besser klar als demokratische Staaten.

Ein Großteil der französischen Weinproduktion des letzten Jahres wird in diesen Wochen in jenen Industriealkohol verwandelt, mit dem sich die Restaurantgäste dann im kommenden Jahr die Hände desinfizieren sollen – wenn sie dürfen.

In Berlin machen gefälschte Meldungen der Polizei die Runde, in denen von einem „Schussbefehl“ der Bundesregierung gegen Corona-Demonstranten berichtet wird.

Im thüringischen Kreis Hildburghausen, mit 602 Infizierten pro hunderttausend Einwohnern der Hotspot der Republik, zogen abends 400 Menschen ohne Maske und Abstand durch die Straßen, „Oh, wie ist das schön“ singend.

Eine Truppe von Corona-Leugnern plante, die demokratische Gouverneurin von Michigan aus Protest gegen deren Pandemie-Maßnahmen zu kidnappen, das FBI durchkreuzte den Plan.

Die Fluglinie Qantas will auf Interkontinental-Flügen nur noch Passagiere befördern, die gegen Corona geimpft sind.

Der Chef der Impfstoff-Firma Biontech rechnet mit der „Rückkehr zur Normalität“ zu Weihnachten – zum Fest 2021.

Die Kanzlerin warnt in einem Videochat mit Polizistinnen und Polizisten vor einer dritten Corona-Welle im neuen Jahr.

Viele EU-Staaten kappen die Flüge nach Großbritannien, um zu verhindern, dass der gerade erst entdeckte und hoch ansteckende Virusstamm B.1.1.7 mit gleich acht genetischen Mutationen im Spike-Protein die Bürger ihrer Länder infiziert.

Spanische Behörden wollen ein Register mit den Namen von Menschen anlegen, die eine Impfung gegen das Coronavirus ablehnen.

Der Historiker Yuval Noah Harari befürchtet, dass die Pandemie sich später als der Beginn der totalen Überwachung der Menschheit erweisen kann.

Auf rund 700.000 Viren wird die Zahl der Tierviren geschätzt, die auf den Menschen überspringen könnten, 260 ist es bereits gelungen – Polio, Aids, Masern zeugen davon.

Zwölf Nachrichten, die zeigen, dass etwas passiert in der Welt, was unser Leben verändert wie nichts davor. Viren zwingen die Menschheit in einen Zweikampf, den wir in seiner ganzen Tragweite noch nicht verstehen und annehmen. Wir starren seit Anfang des Jahres auf das Auf und Ab von Zahlen, debattieren über ihre Bedeutung, aber dem Drama hinter den Zahlen schenken wir zu wenig Beachtung. Die schlimmste Zahl: Über sieben Milliarden Menschen sind noch nicht infiziert von SARS-CoV-2. Die schlimmste Erkenntnis: Je demokratischer eine Gesellschaft, desto anfälliger ist sie für das Virus. Kann es sein, dass der Regierende in der Demokratie glaubt, den Regierten wirksame Maßnahmen gegen das Virus erst zumuten zu können, wenn die Wirklichkeit beweist, dass sie zu spät kommen? Brauchen die Regierten erst die Eskalation der Bedrohung, um zu spät das zu befolgen, was ihnen die Eskalation erspart hätte?

Erstens. Wir unterschätzen SARS-CoV-2, machen es dem Virus zu leicht

„Viren“, so sagt der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Joshua Lederberg, „sind unsere einzigen Rivalen um die Herrschaft auf diesem Planeten“.

Deshalb ist es ganz einfach: Wir müssen es dem Virus so schwer wie möglich machen, wir müssen schlauer sein, aber ein Teil der Menschheit macht es dem Virus zu einfach. So einfach, dass man daran zweifeln muss, ob jeder Mensch wirklich mehr Hirn hat als diese Kette von Genmaterial in Form eines gewickelten Strangs Ribonukleinsäure, die nicht mal ein richtiges Lebewesen ist. Denn genau darum handelt es sich bei SARS-CoV-2.

Eigentlich war das Virus schon länger da. Bloß hat es niemand bemerkt. Wann und wo es vom Tier, wahrscheinlich von einer Fledermaus, direkt auf den Menschen übersprang, und ob es ein weiteres Tier als Zwischenwirt genutzt hat, ist noch nicht klar. Wahrscheinlich brauchte es mehrere Anläufe für den erfolgreichen Wechsel auf den Menschen, also mehrere Infektionen unabhängig voneinander. Es passte sich an, so dass es von Mensch zu Mensch weiterreisen konnte. Später werden Wissenschaftler feststellen, dass das Virus schon in Frankreich und Italien aufgetaucht war, bevor es in China identifiziert wurde.

In der globalisierten Welt, in der wir leben, wird dieses Virus nicht das letzte gewesen sein, das uns besucht. Wir wissen, dass Viren die Erde länger bevölkern als wir es tun. Und dass wir es ihnen durch unsere mobile Lebensweise heute leichter machen als noch vor fünfzig Jahren. Wir dringen in die Welt der Viren ein, nicht sie in unsere. Weil sich der Mensch immer weiter in Lebensräume vorwagt, in denen er nichts zu suchen hat. Und damit der Natur immer weniger Raum lässt.

Besser, wir lassen uns zukünftig nicht wieder überrumpeln. Besser, wir sind so neugierig und so entschlossen wie dieser junge chinesische Arzt aus Wuhan, der sich im Dezember 2019 wunderte ob einer mysteriösen Lungenkrankheit und so half, das unentdeckte Virus ans Licht zu zerren.

Der Augenarzt Li Wenliang setzt am späten Nachmittag des 30. Dezember eine kurze Nachricht auf WeChat ab. Er ist 34 Jahre alt, hat eine feste Stelle im Zentralkrankenhaus von Wuhan, Lis Nachricht geht an etwa 150 Teilnehmer, ehemalige Studienkameraden, zumeist Ärzte also, sie lautet: „Sieben Fälle bestätigt auf dem Huanan Seafood Markt, sie wurden in Quarantäne in die Notaufnahme unseres Houhu-Krankenhauses gebracht“. Und, etwa eine Stunde später: „Coronavirus-Analyse bestätigt, behaltet das für Euch, aber unsere Familien und Nächsten müssen sich schützen“.

Wie hat Li von diesen sieben Fällen erfahren? Die Chefin der Notaufnahme ist die Ärztin Ai Fen, ihr ist in den vergangenen Tagen etwas aufgefallen: eine Häufung von Patienten mit merkwürdigen Lungen- und Atembeschwerden. Sie greift zu einem roten Stift, umkringelt die Worte „SARS Coronaviren“ und schickt ein Foto davon an eine Kollegin und Freundin, außerdem, als Warnung, an die Message-Gruppe ihrer Abteilung. Und sie reicht diese Information auch nach oben weiter, an die Abteilung für Infektionskrankheiten im Haus und an das Gesundheitszentrum von Wuhan.

„SARS Coronaviren“ ist ein bedrohlicher Hinweis, zwei Worte, die so laut tönen wie eine heulende Alarmsirene. SARS, das ist das „Schwere Akute Respiratorische Syndrom“, das 2002 von einem Coronavirus ausgelöst wurde und 800 Menschen das Leben kostete. Von Wissenschaftlern und Regierungen wurde die SARS-Pandemie als Warnung verstanden, Pandemie-Pläne und Impfstoffe gegen Coronaviren zu entwickeln, um bei ähnlichen Viren-Attacken besser gerüstet zu sein. In den 16 Jahren bis zu diesem Dezember 2019 wurden solche Warnungen immer und immer wieder erhoben.

Was erstaunt: Wie wenig die Regierenden dieser Welt getan haben, um ihre Völker zu schützen vor dieser Gefahr. Darum muss man – mit Blick auf zukünftige Pandemien – der Frage nachgehen, warum Regierende zum dritten Mal – nach der Klimakrise und der Migrationskrise – scheitern an der Aufgabe, aus Studien und Warnungen eine vorausschauende Politik zu entwickeln.

Zweitens. Auch nachdem klar ist, wie ansteckend und gefährlich das neue Virus ist, versagen viele Länder dabei, ihre Einwohner zu schützen

Das Virus kopiert sich immer wieder selbst, in rasender Frequenz: bis zu hunderttausend Mal pro Tag. Und schaffte so den Sprung von Rachen zu Rachen, über Ländergrenzen, Meere, Kontinente. Heimlich, mit maximaler Effizienz – wenn SARS-CoV-2 nicht solch bedrohliche Folgen für die Menschheit hätte, man könnte demütig vor diesem Virus stehen. Staunen über dessen Durchschlagskraft und die Perfektion, mit der die Evolution das Virus ausgestattet hat.

Als Li Freunden und Kollegen seine Warnung über viele, neue und mysteriöse Virus-Erkrankte zukommen lässt, ist diese Information schon längst eingespeist in den Gesundheitsapparat des Staates. Man weiß schon seit Mitte November von solchen Kranken, der erste Patient datiert wahrscheinlich auf den 17. November. Nicht nur Ai Fen, auch andere Ärzte haben die Gesundheitsämter benachrichtigt.

Die Macht dieses Virus speist sich nur aus der Dummheit unserer Spezies, es braucht unsere Mobilität und die Kontakte zwischen uns, und es braucht unsere Nachlässigkeit, um sich zu vermehren. Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wagt im Februar einen Vergleich, der in den folgenden Monaten immer wieder nachhallen wird: „An Grippe sterben in Deutschland bis zu 20.000 Patienten im Jahr. Ich will jetzt nur mal darauf hinweisen, dass auch das eben ein Risiko ist, das wir jeden Tag haben.” Im Vergleich dazu sei der Verlauf des Coronavirus „sogar deutlich milder”.

Der Gesundheitsminister stützt sich vor allem auf Berichte des Robert Koch-Instituts (RKI), einer Bundesbehörde mit 1.100 Beschäftigten, rund 450 davon sind Wissenschaftler und Medizinerinnen. In seinen Berichten an Spahn bezieht sich das RKI auch auf Berichte der WHO und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). RKI, WHO und ECDC sind sich einig: Das Risiko für Reisende wird als „gering“ eingeschätzt, ebenso die Eintrittswahrscheinlichkeit in die EU. RKI-Chef Lothar Wieler: „Insgesamt gehen wir davon aus dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt ausbreitet.“ Und: Die wenigen Fälle in China würden gut behandelt.

In den folgenden zwölf Monaten infiziert das Virus mit dem sperrigen Namen SARS-CoV-2 nachweislich 80 Millionen Menschen, wahrscheinlich sind es in Wirklichkeit annähernd 240 Millionen, mehr als eine Million Erdbewohner haben das nicht überlebt. Das Virus hat 191 Länder infiziert, nicht nur deren Bewohner. Es greift die Gesundheit von Millionen Menschen an, ja, vor allem aber zwingt es Milliarden Menschen anders zu leben, zu arbeiten, zu wirtschaften, zu reisen, zu lernen, zu lieben, zu sterben. Kein Ding, kein Ereignis, keine Bewegung seit dem 2. Weltkrieg hat die Welt so verändert wie dieses winzige, 150 Nanometer große Ding.

Viren sind die Mietnomaden der Evolution. Sie machen es sich bequem in ihren Wirtsorganismen, koexistieren oftmals friedlich mit ihnen. Doch manchmal, selten, reisen sie weiter, um sich zu vermehren; sie wechseln von einer zur anderen Spezies – auch zum Menschen. So wie SARS-CoV-2 es getan hat. Dabei reist das Virus nur mit dem nötigsten biologischen Gepäck: seinem Erbgut in einer Schutzhülle.

Am Anfang, in China, versuchen die Behörden das Virus totzuschweigen, das wird in vielen Ländern dem Virus helfen, sich unbemerkt auszubreiten. Das Gesundheitsamt in Wuhan stellt am Abend des 30. Dezember immerhin eine Mitteilung ins Netz, in der die Krankenhäuser aufgefordert werden, weitere Fälle von „Lungenentzündung unbekannter Herkunft“ zu melden. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Verbreitung möglicherweise verhindert, sicherlich stärker eingedämmt werden können. Einer internationalen Studie zufolge wäre die Zahl der Infizierten um 66 Prozent niedriger, hätte man die Stadt Wuhan nur eine Woche früher stillgelegt. Hätte man die Maßnahmen Anfang Januar ergriffen, läge die Zahl der Infizierten wahrscheinlich um 95 Prozent niedriger.

Die Zensurmechanismen greifen: Auf WeChat und auf dem chinesischen Livestream-Portal YY werden Schlüsselworte markiert, deren Benutzung zensiert wird. Die Bevölkerung soll nicht informiert, Unruhe oder unangenehme Nachfragen vermieden werden.

So gibt man dem Virus drei tödliche Wochen.

Drittens. Ein kleiner Teil der Menschheit ist zu schlau für das Virus

Niemals zuvor war die Menge an Datenmaterial in den Anfängen einer Pandemie so schnell so groß. Und noch nie wurde so schnell ein Impfstoff entwickelt, der ein Virus im Kampf um die Herrschaft auf dem Planeten in die Schranken weisen soll. Das Wissen über SARS-CoV-2, das in so kurzer Zeit weltumspannend zusammengetragen wurde, zeugt von der überlegenen Lernfähigkeit der menschlichen Spezies. Virologen, Epidemiologen und Ärzte aus über hundert Ländern tragen seit Monaten jeden Tag zusammen, was das Virus anrichtet und wie es bekämpft werden kann. Woche für Woche wächst das Wissen.

Da ist zum Beispiel Opfert Landt. Kurz nach Silvester 2019 hält das Virus Einzug in das Leben von Landt, 54 Jahre alt, Biochemiker. Schon als Student machte er sich selbstständig, gründete die kleine Firma TIB Molbiol und richtete Laborräume in einem alten roten Backsteinhaus in Berlin-Tempelhof ein. Das ist jetzt 30 Jahre her. Seitdem verschickt er Test-Kits zum Nachweis von Krankheitserregern in die Welt. Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS oder Alkhurma, ein exotisches Virus, das es nur in Saudi-Arabien gibt – Landt interessiert sich für alles, was krank macht. Sobald er von einem neuen Virus erfährt, fängt er an zu recherchieren. Landt arbeitet schnell und gründlich, genauso wie sein Team. Meist sind sie mit die Ersten, die einen Test für ein neues Virus herausbringen. Das war bei der SARS-Pandemie 2003 so, bei der Geflügelpest 2006 und auch bei der Schweinegrippe 2009. Dabei arbeitet er auch immer wieder mit Virologen zusammen, etwa mit Christian Drosten, dem Direktor des Instituts für Virologie der Berliner Charité.

Da ist zum Beispiel Christian Drosten. Er hat schon zwischen Weihnachten und Neujahr von Forschern in China informelle Informationen über das Virus bekommen. Noch ist nicht klar, um was für einen Erreger es sich handelt. Aber Drosten ist ein erfahrener Virologe, ein renommierter Experte für Coronaviren. Genau damit, spekuliert er, haben es die Menschen in China jetzt wahrscheinlich auch zu tun: mit einem neuartigen Coronavirus. Er schaut im Computer der Charité nach. Wichtige Daten über die Genomstruktur anderer Coronaviren sind hier gespeichert. Diese Sequenzdaten benutzen Drosten und sein Team, um erste Entwürfe für einen Test zu entwickeln, virtuell, und nur mit den wenigen Informationen, die sie über das Virus haben.

Der Eindringling ist so klein, dass er selbst durch ein Lichtmikroskop noch unsichtbar bleibt, gerade einmal 150 Nanometer groß, was ungefähr einem Hundertstel bis Tausendstel einer normalen Körperzelle entspricht. Das Virus ist eine lange Kette wandelndes Genmaterial, gespeichert in Form eines aufgewickelten Einzelstrangs Ribonukleinsäure. Umschlossen von einer Lipid-Membran, auf der spezifische Eiweiße sitzen, die zackenartig aus der Virushülle herausragen.

Im Elektronenmikroskop sieht das Virus fast niedlich aus: Wie ein Kreis, in den jemand ringsherum kleine kurze Stäbe gesteckt hat. Wie wenn Kinder eine Sonne malen.

Das Virus kann nichts und doch alles. Nichts, weil ein Virus anders als beispielsweise ein Bakterium über keinen eigenen Stoffwechsel verfügt, über keine eigenen Zellbestandteile, auch nicht über die Fähigkeit zur selbstständigen Eiweißsynthese. Alles, weil es maximal effizient mit Hilfe des Wirts die eigenen Erbanlagen weitergibt und seine Wirkung übel sein kann: Viren lösen Erkrankungen aus, die nicht tödlich sein müssen, wie etwa Herpes oder eine ganz normale Erkältung. Die es aber sein können.

Der Augenarzt Li Wenliang wird das noch spüren. Zunächst aber spürt er: nichts. Er bemerkt nicht, wie das Virus erst über seinen Nasen-Rachenraum bis tief in die Schleimhautzellen seiner Lunge wandert, wie es sich in Rachen und Lunge in rasendem Tempo vermehrt, eine Zelle nach der nächsten kapert. Weil sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Symptome zeigen. Sie werden erst einige Tage später auftreten. In der Zwischenzeit beginnt im Körper des jungen Arztes der Wettkampf Virus gegen Immunsystem. Und Li Wenliang wird weitere Menschen anstecken, ohne dass er davon weiß. Denn er ist jetzt, in der Phase noch vor den ersten Symptomen, besonders infektiös.

Während in Wuhan die Krankenhäuser kollabieren, kommen immer neue Details über die systematische Vertuschung in der Frühphase der Epidemie ans Licht. Auch die Erkrankung von medizinischem Personal mit COVID-19 wird gezielt vertuscht, die Akten gefälscht, die CT-Scans unter Verschluss gehalten. Erst am 12. Januar schickt China erstmals Gen-Sequenzen des Virus an die WHO.

Gelingt es dem Virus, das menschliche Immunsystem zu überwinden, können die Lungenalveolen bei einer schlimmen COVID-19-Erkrankung nicht mehr richtig arbeiten, jene dünnwandigen Bläschen, die tief in der Lunge an den Enden feinster Bronchialverästelungen sitzen und an denen normalerweise der Gastausch stattfindet. Sie werden leck und laufen mit Flüssigkeit voll. Der Gasaustausch in den Lungenalveolen funktioniert nicht mehr so, wie er es soll, der Sauerstoffgehalt im Blut fällt irgendwann unter 93 Prozent, der Patient bekommt Atemnot. Er atmet schneller, erhöht seine Atemzugfrequenz, die im entspannten Normalzustand bei 12 bis 14 Atemzügen pro Minute liegt. Doch davon ist der Patient jetzt weit entfernt. Gleichzeitig hat das Virus wahrscheinlich das sogenannte Interferon-System abgeschaltet, das im Rahmen der Immunantwort eigentlich als erstes reagiert, wie ein Frühwarnsystem.

Li Wenliang stirbt in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar, als Todeszeitpunkt wird 2.58 Uhr verzeichnet.

Sobald die Genomsequenz des neuartigen Virus enttarnt und online ist, machen sich Labore und Forscher auf der ganzen Welt daran, entsprechende Tests zu entwickeln. Drosten und Landt sind da schon einen Schritt weiter: Sie vergleichen die Sequenz mit ihren Entwürfen zur Nachweisüberprüfung. Dann suchen sie zwei Tests aus, die am besten zu diesem neuen Virus passen, prüfen und verfeinern sie.
Es dauert nur drei Tage, dann hat Landt das erste Test-Kit entwickelt, auf der Basis der Sequenzvorschläge der Charité. Am 13. Januar schickt er sechs kleine Röhrchen nach Hongkong und an die Gesundheitsbehörde von Taiwan. Dazu eine Botschaft: „Testen Sie, ob es funktioniert“. Die Antwort der Kollegen aus China und Taiwan: Funktioniert.

Und der globalisierte Erfahrungsaustausch funktioniert: Bis zum Ende des Jahres sind die ersten Impfstoffe auf dem Markt, die dabei helfen sollen, die weitere Ausbreitung und Erkrankungen zu stoppen – eine großartige Leistung. Die RNA-Impfstoffe von Biontech / Pfizer und Moderna sind eine relativ neue Erfindung der Biotechnologie. Die grundsätzliche Funktionsweise basiert darauf, einen Teil des genetischen Bauplans des Virus in den Körper einzuschleusen. Körpereigene Zellen stellen daraufhin ein Virus-Protein her. Das Immunsystem wird zur Bildung von Antikörpern gegen dieses Protein und damit gegen das Virus angeregt.

Es sieht so aus, als würde uns diesmal die Klugheit der Wissenschaftler retten: Die Impfstoffe, in nicht für möglich gehaltenem Tempo entwickelt, geben uns womöglich den nötigen medizinischen Schutz, den wir durch unser soziales Verhalten, durch Ignoranz, Dummheit und Egoismus nicht erreichen konnten.

Viertens. Wir streiten um Zahlen, wie lächerlich

Zahlen waren für uns in den letzten zwölf Monaten wie Frontberichte. Infizierte, Getestete, Tote, Genesene; Tote pro 100.000 Einwohner, Tote im Verhältnis zu Getesteten, Zuwachs der Infizierten am Tag. Es scheint beruhigend, wenn man dieses unsichtbare, gefährliche, allgegenwärtige Ding in eine Zahl verwandeln kann. Jeder hat Zahlenkolonnen, aus denen er Angst oder Hoffnung schöpft. Und Zahlen sind jetzt wieder der Grund dafür, dass wir vor Weihnachten willig in den Lockdown gefolgt sind.

In den Monaten zwischen der ersten und der zweiten Welle waren Zahlen der Grund dafür, dass wir glaubten, das Virus im Griff zu haben. Weil die Zahl der Corona-Kranken in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen (in Deutschland) zurückging, stieg die Gewissheit, SARS-CoV-2 sei ein letztendlich beherrschbares, vor allem durch mediale Abrüstung zu erledigendes Virus. Der Fehler, den Gesundheitsminister Spahn im Februar machte, als er SARS-CoV-2 als lokales, asiatisches Problem abtat, nicht gefährlicher als die saisonale Grippe, wurde zum Grundfehler vieler relativierender Pandemie-Betrachtungen. Weltweit inzwischen über 1,8 Million Tote – wie konnte man aus der saisonalen Unterbelegung von Intensivbetten in Deutschland schließen, das Virus sei unter Kontrolle und in seiner Gefährlichkeit überschätzt?

Erst China, dann Italien und Europa, dann die USA, Brasilien, Russland, Indien, jetzt gleichzeitig überall in Europa, Südamerika und den USA, das Virus zieht um die Welt. Überall dort, wo es ihm leicht gemacht wird, sorgt es für Rekordzahlen. In Deutschland wurde es dem Virus, nach anfänglicher Unterschätzung, viel schwerer gemacht als in vielen anderen Ländern, durch Abstand und Hygiene, später auch durch Masken.

Die Zahlen gingen zurück und mit ihnen die Vorsicht und die Vorsorge. Versäumt wurde, das Land auf „die zweite Welle“ logistisch und kommunikativ vorzubereiten. Offenbar hofften die Verantwortlichen wie im Februar, schon irgendwie verschont zu werden und durch lokale Maßnahmen durchzukommen. Unterlassen wurde u. a.: die Gesundheitsämter personell und technisch so auszustatten, dass sie auch bei 100 und 150 Infizierten pro hunderttausend Einwohnern die Infektionsketten verfolgen können; die Testkapazitäten des Landes so aufzustocken, dass sie nicht schon jetzt an die Grenzen kommen; entschlossener einen Schnelltest zur Erkennung der Infektion zu entwickeln; aus der erfolgreichen Pandemiepolitik in Ländern wie Taiwan, Südkorea und Japan zu lernen; die Corona-App so auszustatten, dass sie mehr dem Gesundheitsschutz als dem Datenschutz dient; die Schulen durch digitale Bildungskonzepte und realistische Hygienekonzepte besser auf die Pandemie im kühlen Herbst und Winter vorzubereiten; eine Analyse-Infrastruktur zu schaffen wie es sie etwa in England gibt und die Genom-Sequenzierungen des Virus systematisch bündelt und katalogisiert.

Zahlen sollen die Politik der Regierenden begründen, sie sollen die Maßnahmen nachvollziehbar machen, sie sollen soziale Akzeptanz absichern. Was die Zahlen nach zwölf Monaten Pandemie nicht überzeugend beantworten: Wo infizieren sich die Leute? Welche Rolle spielen Kinder und Jugendliche in den Infektionsketten? Welche Maßnahmen reduzieren die Zahl der Infizierten besonders effektiv?

Fünftens. Wir müssen begreifen, das Virus zersetzt unsere Gesellschaft

Was Kliniker, Ärztinnen und Virologinnen weltweit inzwischen wissen: wie das Virus den menschlichen Körper zersetzt. Der Mensch wehrt sich mit Husten, weil der Körper zerstörtes Zellmaterial loswerden will. Er hat Fieber, weil das Immunsystem die Temperatur hochfährt, um schneller arbeiten zu können und um es für den Eindringling unbequemer zu machen. Und er fühlt sich schlapp, weil all das Energie kostet. Bei einem lebensbedrohlichen und besonders kritischen Verlauf weitet sich die Entzündung der Lunge auf den ganzen Menschen aus, von Zelle zu Zelle; wie ein Flächenbrand. Es entsteht eine systemische Erkrankung.

An immer mehr Orten muss das Immunsystem in einem solchen Fall eingreifen, es feuert mit allen Waffen, die ihm zur Verfügung stehen. Aber es kommt gegen den Virenansturm nicht an und feuert noch mehr – es reagiert über und löst einen sogenannten Zytokin-Sturm aus. Zytokine sollen als Botenstoffe eigentlich andere Zellen des Immunsystems aktivieren, doch die marschieren jetzt in solchen Mengen los, dass sie den Körper fluten – und Organgewebe zerstören. Nicht nur in der Lunge, auch in der Niere, in der Leber, im Herzen.

Den Wissenschaftlern gelingt es, das komplette Genom des Virus zu sequenzieren, so dass es ihnen möglich ist, dessen Bauanleitung zu lesen. Unter der GenBank-Nummer MN908947.1 und dem Namen „Wuhan seafood pneumonia virus isolate Wuhan-Hu-1, complete genome“ kann ab Mitte Januar jede interessierte Person in der Online-Sequenzdatenbank NCBI die Identität des Virus finden.

Was sich für Laien wie eine zusammenhangslose Sammlung einzelner Buchstaben liest, einer unverständlichen Botschaft aus Hieroglyphen gleich, dient Wissenschaftlern als eine Art Personalausweis des Virus, bestehend aus rund 30.000 Basen. Die Arbeit von Molekularbiologen im Labor ähnelt der von Detektiven: Sie suchen in den endlosen Buchstabenreihen der Genom-Sequenz nach charakteristischen Merkmalen, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Vergleich zu Erbmaterial von bereits bekannten Organismen. Die Abfolge des genetischen Materials lehrt die Forscher nicht nur, wie das neuartige Virus theoretisch aufgebaut ist oder welche Eiweiße es ausbildet. Sondern sie hilft auch bei der Frage, woher es stammt und wie Infektionsketten verlaufen. Die Forscher stellen fest: Dieses Virus ist nicht gänzlich neu. Es ähnelt jenem, das die Welt 2002 und 2003 in Atem versetzte, und zwar unter dem Namen SARS, „Severe Acute Respiratory Syndrome“.

SARS zählt zur Familie der Coronaviren, die erstmal Mitte der Sechziger Jahre identifiziert wurden. Sie verfügen über das größte Genom aller RNA-haltigen Viren. Ihnen gemein ist die kugelförmige Gestalt sowie die aus der Lipidhülle herausragenden Protein-Zacken.

Und so wird der Eindringling nach seinem Verwandtschaftsgrad mit dem SARS-Virus benannt. Er bekommt den offiziellen Namen SARS-CoV-2 und ist damit, neben den anderen Mitgliedern SARS-CoV, MERS-CoV, HKU1, NL63, OC43 und 229E, das siebte Mitglied im Familienverband der Coronaviren, die den Menschen krank machen können. Sie infizieren auch verschiedene Tiere, darunter Vögel und Säugetiere. Aber nur SARS-CoV, MERS-CoV und das neuartige Virus lösen für den Menschen mitunter lebensgefährliche Erkrankungen aus.

Das Virus infiziert nicht nur menschliche Körper, sondern noch mehr die menschliche Gesellschaft und das gesellschaftliche Bewusstsein. Solange sich das Virus verbreitet, fahren die Menschen selbst ihre gesellschaftlichen, vor allem wirtschaftlichen Aktivitäten zurück. Sie konsumieren und produzieren weniger, weil sie sich vor Ansteckung fürchten. Den Widerspruch zwischen Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen, von dem Lockdowngegner ausgehen, gibt es in Wahrheit nicht. In Ländern wie China, Neuseeland, Japan, in denen das Virus konsequent unter Kontrolle gebracht wurde, fiel der Abschwung der Wirtschaftsleistung geringer aus als in Ländern wie Brasilien, Mexiko, Großbritannien und den USA, die zunächst nur zögerliche Lockdowns verhängten.

Die Regierungen reagieren mit Lockdowns, Appellen und Strafen, die Regierten mit Abstand, Masken und Gehorsam. Bisher sind Regierende und Regierte dem Eindringling epidemiologisch begegnet, haben sich an den Zahlen der Infizierten orientiert, daraufgesetzt, sie zu senken, haben darauf gehofft, dass niedrige Zahlen eine schnelle Rückkehr zum alten Leben ermöglichen.

Die Bundesregierung glaubt, wenn sie einen Grenzwert festlegt, könne sie das Virus in die Schranken weisen. Fünfzig Infizierte pro hunderttausend Einwohner, im Durchschnitt von sieben Tagen gemessen, gelten deshalb als die Schwelle zur Gefahrenzone, ab da müsse der Staat mit Ausgangsperren, Alkoholverboten, Tanzlockdowns und anderen seltsamen Maßnahmen die Ausbreitung des Virus bekämpfen. Das ist so, als wolle man dem Aids-Virus mit dem Verbot von Kontaktanzeigen begegnen.

Der Grenzwert orientiert sich an der Fähigkeit von Gesundheitsämtern, Infektionsketten zu verfolgen, an der Möglichkeit der Mitarbeiter per Telefon Kontaktpersonen von Infizierten zu ermitteln und zu befragen. Die Gesundheitsämter sind ein Jahrzehnt lang personell geschrumpft worden und technisch in vordigitalen Jahrzehnten stehen geblieben. Sie sind die wichtigsten Schaltzentralen zur Abwehr der Pandemie, aber in den Monaten der Pandemie wird versäumt, sie personell und logistisch den Erfordernissen einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung anzupassen.

Die ökonomische und soziale Sprengkraft des Virus wird von den Regierenden immer noch unterschätzt. Zwar haben sie mit enormen ökonomischen Hilfsprogrammen reagiert, aber immer mehr Menschen dämmert, dass kein Staat der Welt sie schützen kann vor der sozialen Wucht des Virus. Es hat in Deutschland Hunderttausende den Job gekostet und über 6 Millionen in Kurzarbeit geschickt; es hat monatelang Kindern und Schülern den Zugang zu Kindergärten und Schulen versperrt. Es verödet die Innenstädte, schließt Hotels, Bars, Clubs, es ruiniert Airlines und Kaufhäuser, es treibt Künstler, Ladenbesitzer und Köche in die Verzweiflung. Es trennt Großeltern von Enkeln. Es beeinflusst, wie wir Sport treiben, Kultur konsumieren, unsere Kinder bilden, einander lieben; es entscheidet über die Schließung von Universitäten, über unsere Urlaube, unser Familienleben. Es fördert Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, die soziale Spaltung.

In den großen Krisen der Menschheit wird die Familie normalerweise zur Schutzgemeinschaft. SARS-CoV-2 aber, und das beschreibt die tückische Angst, die es in der Generation der Älteren auslöst, zerstört neben Lungen dieses Urvertrauen in die Familie: Um das Virus zu bekämpfen, muss der Mensch die Familien zerlegen in die Gefährder und die Gefährdeten; und er muss sie vorher voneinander isolieren, er muss sie trennen in Menschen, die zusammen Weihnachten feiern können, und in Menschen, die das nicht riskieren sollten.

Sechstens. Wir müssen das Virus sozial bezwingen

Rund um den Globus berichten Ärzte von äußerst diversen Krankheitsverläufen und überraschenden Symptomen, die COVID-19-Patienten zeigen und die über eine Lungenentzündung mit Lungenversagen hinausgehen. Der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, Durchfall, Schwäche, Schlaganfälle, Embolien, Schäden an Niere, Darm, Herz, Hirn und Auge, all diese Symptome kommen vor. Inwieweit Kinder infektiös sind, also das Virus weitertragen können, bleibt umstritten.

COVID-19 bleibt ein Rätsel, trotz wachsender Erkenntnisse. Das renommierte Wissenschaftsmagazin „Science“ schreibt im Frühjahr 2020: „Trotz der mehr als 1000 wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die nun wöchentlich in Zeitschriften und auf Preprint-Servern erscheinen, ist ein klares Bild schwer zu zeichnen, da sich das Virus wie kein anderer Erreger verhält, den die Menschheit je gesehen hat.“

Rund um den Globus mehren sich die Berichte von Patienten mit außergewöhnlichen Symptomen: Aus Japan dringen Berichte von einem COVID-19-Patienten in die Welt, der unter epileptischen Anfällen litt und in dessen Nervenwasser sich SARS-CoV-2 nachweisen ließ. In New York treten auf einmal Fälle von COVID-19-Patienten mit schwerem Schlaganfall auf. Die fünf sind 33, 37, 39, 44 und 49 Jahre alt. Das „Journal of American Medical Association“ vergleicht in einer Studie die Daten von 5.700 Patienten, die in New Yorker Krankenhäusern eingeliefert wurden – und stellt fest, dass 70 Prozent von ihnen gar kein Fieber hatten.

Im Zürcher Universitätsspital finden Wissenschaftler und Forscherinnen durch Autopsien heraus, dass SARS-CoV-2 nicht nur eine Lungenentzündung auslöst – sondern auch Herz-, Hirn-, Darm-, Leber- und Nierengefäße befallen kann. Mediziner wissen jetzt: COVID-19 ist keine reine Lungenentzündung – sondern eine systemische Erkrankung, die den ganzen Körper betrifft.

Wer SARS-CoV-2 nach knapp einem Jahr Pandemie immer noch wie ein harmloses Grippevirus betrachtet, das man im Griff haben kann, unterschätzt die soziale Sprengkraft der Pandemie, verkennt die grundlegende Veränderung der Gesellschaft durch das Virus. Alle großen Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders stellen sich neu: Wieviel Macht hat der Staat in der Demokratie, wieviel Rechte haben Bürgerinnen und Bürger, wie wird die Freiheit des Einzelnen beschränkt durch den Schutz für die vielen, in welchem Maße darf sich der Staat verschulden zulasten folgender Generationen, wie werden die finanziellen Lasten der Krisenintervention sozial verteilt, wieviel Markt verträgt das Gesundheitssystem?

All das sind Fragen, die nicht irgendwann in der Zukunft entschieden werden können. Die Antworten müssen in den nächsten Monaten gefunden werden, sie werden darüber entscheiden, wer der nächste Bundeskanzler wird, welche Rolle die europäische Union zukünftig spielt, welchen Einfluss China hat, ob Diktatoren an Macht verlieren.

Das Virus entfacht einen inneren Bürgerkrieg: Der besorgte Bürger in uns kämpft mit dem sorglosen Bürger. Wer sich diesen inneren Streit nicht eingesteht und nach außen entweder als Propagandist für den radikalen Shutdown oder für die rücksichtslose Rückkehr zur Normalität auftritt, belügt sich. Diesen inneren Meinungsstreit zwischen Angst und Zuversicht, zwischen Verlust und Anpassung, zwischen Sehnsucht und Einsicht – diesen Streit trägt fast jede und jeder aus. Dieser Streit ist mal ein ruhiger Dialog, mal ein wüstes Geschrei; in den sozialen Medien tobt er als Endlosschleife mit immer denselben Argumenten und Zahlen, die einerseits die Gefahren beschwören, andererseits die Harmlosigkeit belegen. Auf der Straße erleben wir in Deutschland Aufmärsche von Leuten, die mit ideologischen Schrotflinten auf alles Mögliche losgehen. In den USA wird der Bürgerkrieg zunehmend mit Fäusten und Waffen ausgetragen, das Virus feiert Triumphe in den Zahlenkolonnen von Infizierten und Toten.

In Taiwan gelingt es, das Virus sozial einzukreisen und so auch epidemiologisch zu beherrschen. Als ersten Schritt stoppt Taiwan alle chinesischen Reisenden aus Wuhan, und zwar schon am 31. Dezember, sowie alle Reisegruppen aus ganz China. Die Einreisesperren werden in der Folge nach und nach ausgeweitet, ab dem 6. Februar dürfen chinesische Staatsbürger generell nicht mehr einreisen, egal, von wo sie abgeflogen sind.

Verbot des Exports von Gesichtsmasken, dazu ein engmaschiges Datennetz, es verknüpft Reise- und Gesundheitsdaten. Wenn jemand mit Husten zum Arzt geht, weiß dieser sofort, ob der Patient oder die Patientin kürzlich noch in einem Risikogebiet war. Vor allem gibt es eine streng kontrollierte 14-tägige Heimquarantäne für sämtliche Einreisenden aus Risikogebieten und Kontaktpersonen von Infizierten. Zur Kontrolle der Heimquarantäne werden die Mobiltelefone aller Betroffenen permanent geortet. Via Funkzellenabfrage, ohne App, die Bevölkerung akzeptiert solche Maßnahmen ohne Murren. Das liegt auch daran, dass die Regierung pro Heimquarantäne-Tag 30 Euro Entschädigung zahlt.

Wie Taiwan setzt Südkorea auf die Nachverfolgung jedes einzelnen Falls. Man analysiert Bewegungsmuster einzelner Individuen, stellt rückwirkend Kontaktpersonen fest und testet sie.

Siebtens. Wir brauchen die Zweifler, um das Virus zu bekämpfen

Die Krankheit, die das neuartige SARS-CoV-2-Virus auslöst, verläuft bei Patienten vollkommen unterschiedlich, je nach Alter und Vorerkrankungen – oder einfach auch nach Glück. Jemand, der Diabetes hat, stark adipös oder über 70 Jahre alt ist, gehört zur Risikogruppe, soviel wissen die Mediziner und Wissenschaftlerinnen bald. Auch das Geschlecht scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen, werden sie viel später herausfinden; laut RKI infizieren sich Männer und Frauen zwar in gleichem Maße, aber Männer erkranken häufiger schwer und sterben doppelt so häufig wie Frauen..

Was spielt sich auf zellulärer Ebene ab, wenn ein Mensch sich infiziert? Es ist eine feindliche Übernahme, ein Virus ist ein Manipulator. Einmal in die Wirtszelle eingedrungen, programmiert es diese radikal um und nutzt die vorhandene Infrastruktur für die eigene Produktion – es versklavt die Zelle. Zwei Fähigkeiten des Virus sind dafür essenziell: Erstens, sich Zutritt in die Körperzelle zu verschaffen, um sich dann dort, zweitens, massiv zu kopieren und so die eigenen Erbanlagen weiterzugeben.

In der großen Mehrheit der Fälle verläuft die feindliche Übernahme mild bis moderat, äußert sich also durch Husten, Halsschmerzen, Fieber – oder nicht mal das. Andere Infizierte müssen mit Blaulicht und unter Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das trifft auf etwa sieben Prozent aller gemeldeten Corona-Infizierten in Deutschland zu. In rund zwei Prozent der Fälle in Deutschland endet eine COVID-19-Erkrankung tödlich.

Jene, die es besonders schwer trifft, brauchen eine künstliche Beatmung. Weil das Virus die Lunge zu sehr geschädigt, die feinen Alveloen zu sehr zerstört hat; eine infizierte Person kann nicht mehr selbst atmen. Also muss künstlich nachgeholfen werden. Für den befallenen Körper ist es ein martialisches Verfahren, bei dem unter künstlichen Bedingungen Sauerstoff in die Lunge gepresst wird. Schläuche und Kanülen verbinden den Patienten mit Maschinen, die ihn überwachen oder teilweise seine Funktionen übernehmen sollen. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Komplikationen und zusätzlicher Infektionen steigt unter einer solchen Behandlung.

Je mehr die Zahl der Infizierten im Sommer zurück ging, desto lauter wurden die Stimmen, die die Bedrohung durch das Virus klein redeten und die Lockerung der einschränkenden Maßnahmen forderten. Es war nicht damit zu rechnen, dass die weitreichenden Eingriffe in das Privatleben der Deutschen ohne Widerspruch bleiben, allerdings überrascht die Querfront von Menschen ganz unterschiedlicher Weltanschauungen und Motive. Sie reicht von linksliberalen Wortführern bis zu rechtsradikalen Propagandisten, von Hippies bis zu Reichsbürgern, von Esoterikern bis zu Trump-Bewunderern, von Nazis bis zu Anarchisten.

Quantitativ ist die Lage klar: Je nach Umfrage halten 80 bis 90 Prozent der Deutschen die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus für gerechtfertigt oder sogar für zu schwach.

Vor allem in acht gesellschaftlichen Gruppen rühren sich Zweifel, notfalls auch Widerstand: Nicht mehr alle Eltern sind gewillt, als Betreuer und Lehrer ihrer Kinder zu fungieren; viele Einzelhändler, Gastwirte, Künstler, Selbstständige wollen, zweitens, nicht ohnmächtig im Virusprekariat enden; was sich, drittens, in nächtlichem Vandalismus in Innenstädten oder illegalen Raves in Parks austobt, ist das jugendliche Grundrecht auf Begegnung und Entfaltung; wer sich, viertens, nicht als Untertan versteht, wehrt sich antiautoritär gegen staatliche Bevormundung; als Fußballfan will man, fünftens, in Stadien das gleiche Recht in Anspruch nehmen, das Demonstranten auf der Straße eingeräumt wird; wer grundlegende epidemiologische Widersprüche im Agieren von Regierenden entdeckt, wird, sechstens, zum Zweifler an staatlichen Übergriffen; dann sind da noch, siebtens, die Verschwörungsanhänger und Impfgegner, die jeder Obrigkeit per se eine Hidden Agenda unterstellen, die es zu bekämpften gilt; und achtens gesellen sich an deren Seite natürlich Rechtspopulisten, Nazis und andere Systemgegner, die Zweifel instrumentalisieren, um staatliche Autorität und gesellschaftlichen Fortschritt zu unterminieren.

Wer auf Corona-Demonstrationen in Berlin, London oder Paris reagiert, indem man die Protestierenden zu nützlichen Idioten von neonazistischen Drahtziehern macht, erleichtert den Nazis und Rechtspopulisten die Arbeit.

Achtens. Wir brauchen in der Pandemie ein besonderes Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten

Jede funktionierende Demokratie muss stark genug sein, um Zweifel und Widerstand solcher Art auszuhalten; jede Demokratie in Zeiten der Pandemie ist allerdings schwach und angreifbar. Sie kann nur funktionieren und die Pandemie beherrschen, wenn sich die Regierten wie Komplizen der Regierenden verhalten: Durch ihr Verhalten entscheiden sie, ob die Maßnahmen der Regierenden zur Beherrschung des Virus führen. Staatliches Handeln muss deshalb im Gegenzug mehr sein als das Verfügen, Anordnen, Strafen. Mehr noch als sonst müssen Regierungen informieren, überzeugen, werben.

In der Pandemie wird die Kommunikation zum wichtigsten Herrschaftsinstrument: Solange kein Impfstoff entwickelt war, ist die Verbreitung von Wissen der beste Impfstoff gegen das Virus. Keiner hat das besser verstanden als Virologen wie Christian Drosten, Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek und andere, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzten, um die Deutschen gegen Blödsinn zu immunisieren und ihnen zu erklären, wie sich das Virus ausbreitet, warum Goldfische geeignet sind, das PCR-Verfahren zu erklären und was Letalität bedeutet. Man hätte sich auf der Regierungsbank einen Propagandisten gewünscht mit dem Sachverstand eines Karl Lauterbach und der Rhetorik eines Norbert Röttgen. Und in der ARD jeden Abend vor der „Tagesschau“ eine Sendung, die den Deutschen mit derselben Selbstverständlichkeit die Eigenschaften und Mutationen des Virus erläutert wie den vier Millionen deutschen Aktionären die Zuckungen des Dax.

In der Pandemie muss sich ein neues Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten herausbilden, eine kommunizierende Demokratie, eine „redaktionelle Gesellschaft“, in der sich die Regierten verstehen als überzeugte und überzeugende Staatsbürger, die zu Machthabern werden. Durch ihr Verhalten entscheiden sie, ob die staatlichen Maßnahmen zur Kontaktreduzierung Erfolg haben. Im Frühjahr klappte das Zusammenspiel zwischen Regierenden und Regierten, warum klappt es jetzt im Winter nicht?

Der Erfolg im Frühjahr ist die Hauptursache für den Misserfolg im Winter. Man habe „Corona im Griff“, verkündete der Kanzleramtsminister im Juli. Erstmal in den Urlaub fahren, sagten sich die Regierten, auch in Risikogebiete, und hinterher mal überlegen, wie man durch Tests verhindert, das Virus wieder einzuschleppen. Das Präventionsparadox täuschte Regierte und Regierende: Die einen begannen, sich eine neue Normalität zu erträumen, die anderen hörten auf, all das auf den Weg zu bringen, was ein Leben ohne zweite Welle ermöglicht hätte: eine Warn-App, die Gesundheitsämter wirklich entlastet; eine Software, die das Verfolgen von Infektionsketten erleichtert; eine Teststrategie für besonders schutzbedürftige Bereiche wie Schulen und Altenheime; ein Quarantänekonzept wie in Ländern Asiens.

Gesundheitsminister Jens Spahn war ein Getriebener. „Deutschland ist gut vorbereitet“, sagte er zu Beginn, als schon klar war, dass alles fehlte, was ein Land braucht, um einer Pandemie zu trotzen: genügend Testkapazitäten, Masken, Schutzkleidung, Betten in den Intensivstationen, Beatmungsgeräte und Gesundheitsämter, die wissen, was sie tun müssen gegen eine Pandemie. Und die so ausgestattet sind, dass sie tun können, was sie müssen. Erst durch den Lockdown ab März gelang es der Bundesregierung die Infiziertenzahlen zu drücken.

Olfert Landt, der Testhersteller in Berlin, konnte dieses „zögerliche Verhalten“ der Regierung nicht nachvollziehen. „Fatal und fahrlässig“ findet er, was in Deutschland passiert ist. Oder eher: nicht passiert ist. „Die Gefahr ist unterschätzt worden“, sagt Landt später. Er ist sicher, dass Deutschland „zügiger hätte reagieren können und dass man auch fokussierter hätte vorgehen können“. Bestimmte Dinge seien vorhersehbar und ablesbar gewesen aus dem, was in China und in den Nachbarländern passierte. Landt ist überzeugt: Deutschland hätte von Anfang an viel radikaler vorgehen müssen, um das Virus loszuwerden. Sofort den Verkehr aus allen Ländern mit höheren Fallzahlen einstellen. Sofort alle Reisenden in häusliche Quarantäne. Sofort jeden Erkältungsfall auf Corona untersuchen. Sofort alle Verdachtsfälle bei einem positiven Ergebnis isolieren.

„Wir werden wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen“, sagte der Gesundheitsminister im Bundestag – ein ehrlicher, wenn auch verräterischer Satz.

Die Fehler zu Beginn der ersten Welle wurden dann vor der zweiten Welle wiederholt, vor allem aber gelang es der Bundesregierung nicht, eine Strategie zu entwickeln, die nicht darauf wartet, bis die Infiziertenzahlen so hoch sind, dass nur noch ein Lockdown hilft.

Neuntens. Klassische Medien bekämpfen das Virus, soziale Netzwerke nützen ihm

Es geht in der Pandemie, ehrlich gesagt, um zwei Argumentationsketten: Wenn man das Virus für eine Bedrohung unserer Gesundheit, unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft hält, sollte man Abstand halten, Masken tragen und die Risikogruppen schützen. Wenn man das Virus für ein harmloses Ding hält, zu vernachlässigen wie das jährliche Grippevirus, sollte man Abstand halten, Masken tragen, die Risikogruppen schützen – um denen, die das Virus für eine ernste Gefahr halten, keine Argumente und Infiziertenzahlen zu liefern für Maßnahmen, die individuelle Freiheiten weiter einschränken. Es war noch nie so einfach, dasselbe zu tun, obwohl man anderer Meinung ist. Es war noch nie so einfach, vernünftig zu sein.

Es ringen aber in der Öffentlichkeit zwei Argumentationsketten miteinander: Weil die Regierenden mit ihren Maßnahmen zu drastisch reagiert haben, so läuft die Argumentation der Regierungskritiker, sind sie verantwortlich für die ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie; sie haben das Virus in seiner Gefährlichkeit überschätzt und deshalb die Schäden des Virus vergrößert statt sie einzudämmen. Weil die meisten Regierungen es dem Virus in vielen Ländern so schwer wie möglich gemacht haben, halten die Virenkritiker dagegen, haben wir nicht Millionen Tote und nicht 500 Millionen Infizierte mit all den Spätfolgen der Pandemie.

Klassische Medien haben sich im Jahr der Pandemie eher als Verstärker der Wissenschaftler (und der Regierenden) profiliert, als Aufklärer im Sinne eines constructive journalism, in sozialen Netzwerken wurde das gern als „Angstjournalismus“ abgetan. Geholfen hat den sozialen Netzwerken, dass klassische Medien, allen voran die Bild-Zeitung, Virologen als Streithähne inszenierten und einen wissenschaftlichen Diskurs fälschlicherweise als Kampf deklarierten.

Zehntens. Wir haben die Wahl zwischen Virukratie oder Virokratie

Im Umgang mit der Pandemie haben sich zwei Staatsformen etabliert: Virukratie und Virokratie. In der Virokratie, also dort, wo die Regierungen das Virus medizinisch weitgehend unter Kontrolle bekommen haben, folgten sie dem Rat von Virologen, Epidemiologinnen und Ärztinnen, testeten viel, verordneten sozialen Abstand, verhängten rechtzeitig einen Lockdown, überwachten Quarantäne-Vorschriften. Das sind Länder wie Japan, Südkorea, Taiwan.

In den Virukratien – vor allem in Brasilien und den USA – wird es dem Virus zu leicht gemacht, wurde zu wenig getestet und zu spät auf das Tragen von Masken gesetzt. Vor allem aber wurde der Rat von Virologen ignoriert und das Virus politisiert und ideologisiert, einen größeren Gefallen kann man ihm nicht tun.

Selbst, als in China schon zu besichtigen war, was auf die Welt zukam, rechneten viele Regierende und Expertinnen nicht mit der Pandemie, die ihnen seit 2003 prophezeit wird. Spätestens seit 2009 taucht im jährlichen Bedrohungsbericht des US-Geheimdienstkoordinators die Warnung vor einer Pandemie auf:„Eine mögliche Grippe-Pandemie oder unbekannte Krankheiten wie SARS bleiben die größte gesundheitliche Bedrohung der Vereinigten Staaten”, heißt es in dem 2009er Bericht. Eine mögliche Pandemie sei auch international die größte Herausforderung.

2013, wiederum im jährlichen Bericht der Geheimdienste, liest sich die Warnung schon konkreter. Es ist bereits die Rede von Coronaviren, die von Fledermäusen auf Menschen übergehen. „Ein leicht übertragbares Virus, das die Atemwege befällt und mehr als ein Prozent seiner Opfer tötet, würde zu den folgenreichsten Ereignissen überhaupt zählen”, heißt es in dem Bericht. In weniger als sechs Monaten könnte so ein Ausbruch zu Leid und Tod in jedem Winkel der Welt führen.

Ähnliche Hinweise finden sich immer wieder. Auch das Robert Koch-Institut hat den Fall einer Pandemie durchgespielt und das Ergebnis der Bundesregierung übergeben. Wer den Text heute liest, erkennt zwar viele Parallelen zum tatsächlichen Geschehen. Der Bericht des RKI ist aber kein Drehbuch, er geht zum Beispiel von deutlich höheren Opferzahlen aus. Verblüffend ist aber, wie genau die Nebeneffekte vorausgesagt wurden: Dass einander widersprechende Experten die Bevölkerung verunsichern, zum Beispiel. Dass mangels Medizin und Impfstoff ein ganzes Volk sein Heil im Händewaschen suchen wird. Dass Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel knapp werden, dass Urlaube ausfallen und Flugzeuge am Boden bleiben.

Im Kampf mit dem „Rivalen“ (Lederberg) holt die Wissenschaft auf: Während sich das Coronavirus weltweit ausbreitete und die Zahl der Infizierten und Toten jeden Tag rapide anstiegen, entwickelten zahlreiche Labore und Unternehmen Impfstoffe.

Uğur Şahin leitet mit seiner Frau Özlem Türeci die Mainzer Biotechfirma Biontech. Über die Jahre hat sich das Unternehmen in der Entwicklung individualisierter Krebstherapien einen Namen gemacht. Am 24. Januar war der Professor für experimentelle Krebstherapie im Fachmagazin „The Lancet“ auf einen Bericht gestoßen, der für ihn, seine Frau und viele seiner Mitarbeiter alles änderte: „A familial cluster of pneumonia associated with the 2019 novel coronavirus“ wird da beschrieben, also die epidemiologischen, klinischen und mikrobiologischen Befunde von fünf Mitgliedern einer chinesischen Familie. Sie litten nach einem Besuch in Wuhan unter einer ungeklärten Lungenentzündung. Weitere Berichte zu SARS-CoV-2 folgten. Şahin war schnell klar, dass das wissenschaftliche Know-how seines Unternehmens hier einen entscheidenden Beitrag leisten konnte.

Die Suche nach einem Impfstoff sei ein „Menschheitsprojekt“, wird Şahin danach stets in Interviews erklären. „Je früher ein effektiver Impfstoff verfügbar ist, desto früher können wir alle in unser altes Leben zurückkehren.“ Um das zu erreichen, wollte er den Impfstoff in „Lichtgeschwindigkeit“ entwickeln. Und so heißt das Projekt dann auch: Lightspeed. 400 der 1.300 Biontech-Mitarbeiter saßen seither rund um die Uhr an der Impfstoff-Entwicklung.

Es war ein Wettrennen gegen das Virus. Und gegen die Konkurrenz. Weltweit arbeiten Dutzende Forscherteams an der Entwicklung eines Impfstoffs. Ein Impfstoff ist eine Art Hütchenspielertrick: Er gaukelt dem Körper etwas vor, was nicht da ist und lässt ihn glauben, er sei mit einem gefährlichen Erreger infiziert. Gelingt der Trick, bildet das Immunsystem Antikörper und T-Zellen zur Virenabwehr. Dadurch wird das sogenannte Immungedächtnis aufgebaut. Trifft der echte Erreger später tatsächlich auf den Menschen, kann sein spezifisches Immunsystem umgehend reagieren und die Erkrankung abwehren. Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffs zwölf bis 18 Jahre.

Üblicherweise verabreicht man bei Impfungen abgeschwächte oder auch tote Krankheitserreger. Sie lösen keine Erkrankung aus, allerdings kann es zu Krankheitssymptomen kommen, weil der Körper des Menschen durch die Eindringlinge sein Abwehrsystem trainiert und im Falle eines späteren Angriffs dann den tatsächlichen Erreger abwehren kann.

Der Impfstoff von Biontech enthält ausgewählte Gene des Virus in Form von mRNA. Das „m“ steht für „messenger“, also für Bote. Die Abkürzung „RNA“ für „Ribonukleinsäure“. Die RNA sieht als Molekül so ähnlich aus wie DNA, also wie „Desoxyribonukleinsäure“. Sowohl RNA als auch DNA liegen in jeder Zelle des Körpers vor, beide Moleküle sind zwar chemisch eng miteinander verwandt, unterscheiden sich aber in ihrer Funktion: Während DNA die genetischen Informationen eines jeden Organismus durch ihren festgelegten Code speichert und sich im Zellkern findet, kann man sich die RNA wie eine Übersetzung dieser genetischen Informationen vorstellen, die die Zelle benötigt, um außerhalb des Zellkerns Aminosäuren und daraus Proteine herzustellen.

Die RNA dient also tatsächlich als eine Art Bote, der die nötige genetische Information in Form einer Bauanleitung für Proteine an den Herstellungsort transportiert. Diese Boteneigenschaft macht sich das neue Herstellungsverfahren auf mRNA-Basis zunutze. Bei herkömmlichen Verfahren müssen die als Impfstoff verwendeten Erreger oder dessen Bestandteile erst hergestellt werden. All das kostet Zeit. mRNA-basierte Vakzine funktionieren anders: Für sie verwenden Wissenschaftlerinnen und Forscher kein aufwendig gezüchtetes Virusmaterial, sondern nur die chemische Bauanleitung für Teile davon – eben jenen Ausschnitt der mRNA, der die Bauanleitung für die virusspezifischen Antigene trägt. Diese Bauanleitung wird in den Körper eingeschleust, den Rest übernimmt die Zelle selbst: Sie produziert das spezifische Antigen und provoziert so die Bildung von entsprechenden Antikörpern im Immunsystem.

Die ersten Länder verteilen den Impfstoff bereits. Dennoch bleiben wichtige Fragen offen: Wie lange wird die Immunität anhalten, wenn ich mich habe impfen lassen? Kann ein geimpfter Mensch andere Personen noch anstecken? Welche Langzeitwirkungen ergeben sich? Werden sich überhaupt genug Menschen impfen lassen, so dass ein breiter Schutz in der Bevölkerung gewährleistet ist? Und wie soll man das Zusammenleben organisieren, wenn manche geimpft sind, andere nicht? Klar ist hingegen eins: Wer glaubt, dass sich die Welt 2021 wieder in einen prä-pandemischen Normalzustand verwandeln wird, liegt falsch. Auch mit Impfstoff brauchen wir die Virokratie.

Elftens. Die Haupterkenntnis der Pandemie: Die menschliche Gesellschaft braucht eine größere Resilienz gegen Viren

Die Menschheit hat sich zwischen SARS 1 und SARS-CoV-2 als unfähig erwiesen, sich auf Attacken von Viren aus dem Tierreich genügend vorzubereiten und sich vor Pandemien ausreichend zu schützen. Virologinnen und Epidemiologen weltweit ist seit langem klar, dass Viren auf den Menschen überspringen und dass sie potenziell gefährlich sind. Es gelingt den Experten und Expertinnen aber nicht, die Aufmerksamkeit zu erreichen, die sie bräuchten. Sie versuchen, sich zu vernetzen, um irgendwann dann schneller und gemeinsam Medikamente und Impfstoffe zu finden. Aber am Ende bleiben sie doch die Experten, auf die keiner hört.

Warum versagt der Mensch dabei, sich zu schützen vor dem, was kommen wird? Menschen siedeln neben Vulkanen, obwohl sie wissen, dass die Vulkane nicht verloschen sind. Sie bauen schlecht gesicherte Holzhäuser in den Hurricane- und Tornadogebieten der USA, sie betreiben Atomkraftwerke an Tsunami-gefährdeten Küsten oder jagen Treibhausgase in die Atmosphäre, obwohl die Gesetze des Klimawandels bekannt sind. Warum?

Es gibt dafür drei Gründe. Der erste: Die Gefahr ist nur abstrakt, wir sehen sie nicht. Ein Virus, das sich rasend schnell ausbreitet, ist abstrakt wie CO2 – die allermeisten Menschen haben in ihrem Alltag keinerlei Erfahrung mit exponentiellem Wachstum, sie können sich nicht vorstellen, was das ist.

Der zweite Grund: Der Mensch kann Zeiträume schlecht einschätzen, hat ein schlechtes Gefahrengedächtnis und verdrängt. Die Spanische Grippe fand vor gut 100 Jahren statt, auch das scheint ewig her. Wenn hundert Jahre nichts passiert, fällt es schwer, alarmiert zu bleiben.

Der dritte Grund schließlich: Geld. Vorsorge kostet. Ein Intensivbett für 85.000 Euro anschaffen, das man womöglich gar nicht braucht? Einen Raum mit Schutzkleidung füllen statt mit zahlenden Patienten, nur für den Fall der Fälle? Unwirtschaftlich.

Ein typischer Hollywood-Katastrophenfilm beginnt stets mit einem Experten, auf den niemand hört. Im richtigen Leben heißen diese Experten zum Beispiel Yi Fan und Kai Zhao – sie und weitere Kollegen haben noch im Frühjahr 2019 vor Coronaviren aus Fledermäusen gewarnt. Sie arbeiten beim Robert Koch-Institut oder der WHO, sie entwerfen Planspiele an der Johns Hopkins Universität. Sie alle haben detailliert gewarnt vor einer Pandemie und ihren Folgen. Jahr für Jahr.

Es gibt einen Promi unter den Mahnern. Er ist kein Arzt oder Geheimdienstchef, aber er ist superreich: Bill Gates. Der Microsoft-Gründer gilt als zweitreichster Mensch der Welt, er redet verständlich, macht Dinge begreifbar.

Die jüngste Gates-Warnung, kurz vor Ausbruch der tatsächlichen Pandemie, stammt aus dem Oktober 2019. Mit der Johns Hopkins Universität und dem Weltwirtschaftsforum hatte die Bill & Melinda Gates Stiftung „Event 201” durchgespielt: Ein fiktives Coronavirus bricht in Südamerika aus und zieht um die Welt.  Ziel der Übung: die Einsatzbereitschaft von Behörden und privaten Organisationen im Falle einer weltweiten Epidemie zu verbessern.

Jetzt, angesichts der realen Pandemie, sagt Gates, er fühle sich schrecklich. Seine frühen Warnungen: verpufft, ungehört. Er hätte mit mehr Nachdruck reden sollen.

Und nun? Hat die Menschheit in rasender Geschwindigkeit versucht, in Laboren rund um den Erdball so schnell schlau zu werden, um das Schlimmste zu verhindern. Geglückt! Die Erfindung der Impfstoffe ist eine große Leistung der menschlichen Spezies und gleichzeitig eine Gefahr. Sie könnten dazu führen, dass die Menschheit wieder nachlässt darin, ihre Gesellschaften resistenter zu machen gegen Pandemien aus dem Tierreich. Tausende Viren sind auf der Suche nach neuen Wirten.

Ein Pademieplan reicht nicht, die Gesundheitsämter in Deutschland müssen personell und technisch so ausgerüstet werden, dass sie die Pläne im Notfall umsetzen können. Tracking und Tracing durch eine App, kontrollierte Quarantäne, ein Gesundheitswesen mit einer belastungsfähigen Intensivmedizin, ein Bildungssystem mit integriertem Digitaluntericht, ein Kulturbetrieb, der notfalls auch ohne Präsenzveranstaltungen überlebensfähig ist – all das steigert die Resilienz der Gesellschaft gegen Viren, die uns zukünftig heimsuchen.

Besser, wir lernen aus dieser Pandemie und sehen sie als Generalprobe. Die Menschheit braucht genügend Schutz, Medikamente und Personal, sie braucht Gesundheitssysteme, die in kurzer Zeit mit Millionen Infizierten umgehen können. Sie braucht Politiker, die Warnungen und Studien von Wissenschaftlern in nachhaltiges Handeln transformieren. Vor allem aber: Sie braucht Bürger, die so informiert sind, dass sie sich in der Abwehr einer Pandemie solidarisch verhalten und so dem Virus keine Chance geben.

Wie sagte der Nobelpreisträger und Molekularbiologe Joshua Lederberg? „Viren sind unsere einzigen und wahren Rivalen um die Herrschaft auf diesem Planeten.“