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Windstärke neun über dem Schwarzen Meer

In Zentralasien zeigt sich, wie Moskau Rohstoffe und deren Transportwege nutzt, um seinen Einfluss zu mehren. In Kasachstan hängen die Ölexporte des Landes von russischen Pipelines ab. Und ein angeblicher Sturmschaden sorgt dafür, dass derzeit besonders wenig kasachisches Öl in Richtung Europa fließt. Eine Recherche zusammen mit dem Handelsblatt.

von Marcus Bensmann , Naubet Bisenov , Mathias Brüggmann , Martin Murphy

Foto: Imago
Die Pipeline des Caspian Pipeline Consortium verbindet die Ölfelder Kasachstans mit Europa Foto: Imago

Der angebliche Sturm über dem Schwarzen Meer kam für Kasachstan und Europa höchst ungelegen. Wind und Wellen hätten die schwimmende Umladestationen im Terminal für die transkaspische Pipeline nahe der russischen Hafenstadt Noworossijsk beschädigt, teilte die Betreiberfirma Caspian Pipeline Consortium am 22. März mit.

Der Öltransport durch die Pipeline wurde unterbrochen. Seltsam nur, dass nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes die Windverhältnisse in den betreffenden Tagen nicht ungewöhnlich waren für die Region. In den Tagen zog zwar ein Unwetter über das Schwarze Meer. Allerdings lag die maximale Windgeschwindigkeit am 20. März bei maximal 43 Knoten, wie der Deutsche Wetterdienst auf Anfrage des Recherchezentrum CORRECTIV und Handelsblatt mitteilte. Das wäre eine Sturmböe der Stärke neun, drei Beaufort von einem Orkan entfernt. Einen solchen durch Wind bedingten Ausfall hat es in der 20-jährigen Geschichte der Pipeline nicht gegeben.

Der vermeintliche Sturmschaden ist aus Sicht von kasachischen Experten zumindest fragwürdig. Laut Gaziz Abishev, einem unabhängigen PolitikAnalysten aus der kasachischen Hauptstadt Nursultan, versucht Russland, den Westen derzeit mit einer Ölverknappung zu erpressen: „Es könnte ein Zufall sein, aber es wäre ein spektakulärer Zufall.“ Auch weil das kasachische Öl fehlt, sind die Preise an den Tankstellen Europas und der USA laut Branchenanalysten auf Höchststände gestiegen.

Kreml setzt Rohstoffe als geopolitische Waffe ein

An Kasachstan, dem zehntgrößten Ölexporteur der Welt, zeigt sich der Umgang Russlands mit Staaten, die es seinem Machtgebiet zurechnet. Das Beispiel macht deutlich, wie geschickt und zugleich skrupellos der Kreml Rohstoffe als geopolitische Waffe einsetzt.

Sollte der Terminal bei Noworossijsk tatsächlich beschädigt sein, dann lässt sich Russland viel Zeit mit der Reparatur. Dem Staat Kasachstan entgehen dadurch Öleinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe pro Monat. Über die Pipeline strömen jährlich über 60 Millionen Tonnen Öl, das sind knapp zehn Prozent des europäischen Jahresverbrauchs. Die Pipeline verläuft über Russland, und russische Firmen dominieren das Konsortium, das Öl in der Röhre aber gehört weitgehend westlichen Firmen wie Chevron, Shell und Eni, die in Kasachstan Öl fördern. Finanzanalyst Rasul Rysmambetov aus Almaty wertet den Ausfall daher als Versuch Russlands, die Ölfirmen und Kasachstan unter Druck zu setzen.

Russland verknappt gezielt das Ölangebot. Nicht nur, indem es Kasachstan vom Weltmarkt abklemmt, sondern auch durch eine Blockade des Atomabkommens mit dem Iran. Teheran und der Westen sind sich inzwischen weitgehend einig geworden, den vom früheren US-Präsidenten Donald Trump 2018 gekündigten Nuklearvertrag wieder in Kraft zu setzen. Doch plötzlich stellt sich der Kreml quer, der Teheran bisher immer unterstützt hatte. Denn eine Rückkehr des potenziell zweitgrößten Opec-Förderers Iran würde das globale Angebot deutlich erhöhen und könnte die stark gestiegenen Preise drücken.

Ein Land, gespalten entlang ethnischer Grenzen

Trotz des Eingriffs in die kasachische Ölkasse kann sich Russland auf Rückendeckung in Teilen der kasachischen Bevölkerung verlassen. Auf dem Gipfel des Tienschan-Gebirges unweit der Metropole Almaty sitzt ein etwa 50-jähriger Mann in schwarzer Skihose und Skijacke in der Gondel eines italienischen Liftherstellers. Er ist Geschäftsmann, russischstämmig, geboren in Almaty. In dem zentralasiatischen Steppenstaat, der sich vom kaspischen Meer 3000 Kilometer östlich bis zur chinesischen Grenze erstreckt, leben knapp 20 Millionen Menschen, ein Fünftel davon sind russischstämmig.

Das Gespräch in der Gondel kommt schnell auf den Krieg in der Ukraine. „Putin macht alles richtig“, sagt er. Nazis müssten bekämpft werden. Für ihn sind die „Ukrainer seit jeher Verräter“.

Anders als in Russland sind in Kasachstan die Informationen über Putins Angriffskrieg in der Ukraine frei zugänglich. Und die Meinungen gehen weit auseinander: Am selben Tag wieder zurück in Almaty sprechen in einem indischen Restaurant bei scharfem Curry drei junge Kasachen ebenfalls über den Krieg. Sie sind gut ausgebildet, ein Geschäftsmann, eine Juristin und ein Dolmetscher. Sie verurteilen Putins Krieg, unterstützen die Ukraine und fürchten, dass Putin Ähnliches mit ihrer Heimat vorhaben könne. Eine Onlinepetition, die von Kasachstan eine deutliche Trennung von Russland fordert, sammelte in kurzer Zeit über 26.000 Unterstützer.

Die Sorge vor zu großer russischer Dominanz hat ihre Berechtigung. Ein Aufstand im Januar gegen die kasachische Regierung war von russischen Truppen niedergeschlagen worden, die sich dann zurückgezogen hatten. Niemand weiß so recht, was Putin mit seinem südlichen Nachbarland zukünftig vorhat.

Nachdem die westlichen Länder als Reaktion auf den Einmarsch in die Ukraine weitgehende Sanktionen gegen Moskau verhängt haben, steht Russlands Wirtschaft vor dem Zusammenbruch. Abgeschnitten von Importen ruht inzwischen die Produktion selbst in Rüstungsbetrieben, die Putin für seinen Krieg in der Ukraine eigentlich braucht.

Ölförderung musste angepasst werden

An Kasachstan zeigt sich die Taktik, mit der Russland den Krieg über das eigentliche Schlachtfeld Ukraine hinauszieht. Moskaus Militärdoktrin beinhaltet explizit hybride Kriegsführung, also den Einsatz auch versteckter Mittel, wie westliche Militärexperten erklären. Dazu gehören neben Propaganda und Falschinformationen wohl auch Eingriffe in den Ölmarkt.

„Russland hat als Warnung an Europa eine derartige Situation um die Pipeline geschaffen“, sagt Politologe Abishev, der einen in Kasachstan populären Telegram-Kanal betreibt. Der kasachische Energieminister Bolat Akscholakow widersprach, es sei weder im Interesse Russlands noch des Konsortiums, eine „solche Sabotage“ durchzuführen.

Hätte Russland indes nichts zu verbergen, so Politikexperte Abishev, dann hätten sie Experten der Ölfirmen zur Inspektion eingeladen. Nichts davon ist geschehen. Die betroffenen Ölkonzerne bestätigten zwar eine Einschränkung der Ölverladung. Aufgrund von ungeplanten Reparaturen habe die Produktionsmenge im kasachischen Ölfeld Tengizchevroil angepasst werden müssen, sagte ein Chevron-Sprecher auf Anfrage von CORRECTIV und Handelsblatt. Für weitere Fragen verweisen er und Sprecher anderer Ölfirmen auf das Betreiberkonsortium CPC.

Der stellvertretende Ministerpräsident Russlands, Alexander Nowak, nahm umgehend nach dem vermeintlichen Windschaden und dessen Folgen vor dem russischen Parlament, der Staatsduma, Stellung. Der Schaden könne den Ölmarkt erheblich beeinflussen, warnte Nowak, aber nicht Russland, sondern das „Konsortium von ausländischen Unternehmen“ sei für den Betrieb verantwortlich. Nowak kündigte zudem an, dass Russland bei der Reparatur ein Wort mitzureden habe. So werde man darauf achten, dass die „Umweltkomponente“ sichergestellt sei und „dass kein Öl verschüttet“ werde.

Nach wenigen Tagen konnte zwar eine Umladestation wieder in Betrieb genommen werden, aber zwei bleiben defekt. Deren Reparatur könne drei bis vier Wochen dauern, so die offizielle Erklärung des Konsortiums. Allerdings hätten die Lieferanten der notwendigen Ersatzteile sich geweigert, „die Kooperation mit CPC fortzusetzen und die geplante Lieferung gecancelt“, so die Mitteilung des Konsortiums. Auch diese Botschaft ist klar: Die Sanktionen gegen Russland verhindern die Reparaturen.

Der Kreml übt Druck auf Kasachstan aus

Der Öltransport über die transkaspische Pipeline ist damit bis auf Weiteres stark reduziert. Die 1500 Kilometer lange Röhre führt von Nordkasachstan über den russischen Kaukasus bis zum Terminal am Schwarzen Meer, von dort bringen Tanker den Rohstoff nach Europa.

Die Pipeline für das kasachische Öl führt durch Südrussland. Ein Screenshot von der Webseite des Caspian Pipeline Consortium (CPC)

Die kasachische Regierung reagiert auf den Sturmschaden mit Beschwichtigung. Der höhere Ölpreis könnte die Lieferausfälle kompensieren, auch könne die Förderquote im Sommer ausgeglichen werden, sagt der Energieminister. Allerdings fehlt es Kasachstan an Speicherkapazitäten, und die Fördergesellschaften kürzten daher die Ölförderung.

Wirtschaftlich ist der Ausfall ein Desaster, Kasachstan befindet sich aber auch politisch in einer prekären Lage. In den Städten an der Nordgrenze wohnen hauptsächliche russischsprachige Einwohner, die zu einer großen Zahl russisches Fernsehen schauen und der dort gesendeten Kriegspropaganda Glauben schenken. In den russischen TV-Kanälen verschärft sich der Ton gegen den südlichen Nachbarn, da Kasachstan die staatliche Integrität der Ukraine fordert.

In der Ukrainekrise will es sich Kasachstan nicht mit dem Westen verderben

Das Land erkenne die Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim ebenso wenig an wie die Herauslösung des Donbass aus der Ukraine, bekräftigte der stellvertretende Chef der kasachischen Präsidialadministration, Timur Sulejmanow, jüngst bei seinem Besuch bei der EU-Kommission. Sulejmanow rief den Ärger Russlands hervor, als er sagte, Kasachstan sei zwar Mitglied der von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion, halte sich aber an die von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland und Belarus. Kasachstan werde kein Instrument zur Umgehung der Russland-Sanktionen werden.

Laut dem russischen Finanzmarktexperten Wassili Koltaschow sorgt sich Kasachstan, dass bei einem zu eindeutig antiwestlichen Kurs seine Zentralbankreserven und die Rücklagen seines Staatsfonds eingefroren werden könnten, wie gegenüber Russland bereits geschehen. Zweistellige Milliardenrücklagen Kasachstans seien in westlichen Anleihen geparkt, sagte der Analyst.

Der Moskauer Leiter des Instituts für GUS-Staaten, Wladimir Jewsejew, warnte die Regierung in Nursultan: Wenn die kasachische Regierung weiterhin laviere und sich beim Westen beliebt machen wolle, könnte sich Kasachstan „leicht verzocken“. Dann bekäme das zentralasiatische Land nicht mehr, wie bei den Unruhen im Januar, militärische Rückendeckung durch Moskau.

Zugleich bezichtigte Jewsejew einige in der politischen Führung Kasachstans der „Russophobie“ – wie Putin es mit der Ukraine tut. Ein Abgeordneter aus der Moskauer Stadtduma forderte jüngst eine „Denazifizierung“ Kasachstans. Mit ganz ähnlicher Tonalität begründet Moskau den Ukrainekrieg.

Das sind keine leere Drohungen. Die Souveränität Kasachstans stand Anfang des Jahres durch die Unruhen auf der Kippe. Erst gingen die Menschen in den Ölstädten am kaspischen Meer wegen erhöhter Gasrechnungen friedlich auf die Straße. Dann breitete sich der Aufstand über das ganze Land aus und eskalierte. Am fünften Januar stürmten Tausende meist junge Männer die Wirtschaftsmetropole Almaty, setzten das Bürgermeisteramt und die Residenz des früheren Präsidenten in Brand und besetzten den Flughafen der Millionenstadt.

Die kasachischen Sicherheitskräfte wurden überwältigt und zogen sich zurück. Der Präsident Kassym-Schomart Tokajew bat aus der kasachischen Hauptstadt Nursultan Putin und die von Russland dominierte Organisation für kollektive Sicherheit, ODKB, um Hilfe. Der Kreml schickte Truppen, und der Aufstand wurde niedergeschlagen. Über 225 Menschen starben.

Bis heute ist nicht klar, wer diesen Aufstand organisierte und was dessen Ziele waren. Der kasachische Präsident Tokajew konnte nur mithilfe des russischen Eingreifens die Macht in Kasachstan retten, sein Vorgänger Nasarbajew zog sich danach endgültig zurück.

Gut sechs Wochen bevor die russischen Truppen auf Befehl Putins die Ukraine überfielen, stand Kasachstan bereits am Rande der Auflösung. Im März zeigte sich, dass eine Böe über dem Schwarzen Meer die ökonomische Lebensader des zentralasiatischen Landes kappen kann. Auch wenn die Pipeline wieder ihren Betrieb aufnehmen sollte, so hat die kasachische Regierung verstanden, dass es nur eine Wetterverschlechterung über der russischen Hafenstadt Noworossijsk braucht, um den Export des kasachischen Öls nach Europa zu beenden.