Die fragwürdige Verbindung eines Siemens-Forschers zum chinesischen Militär
Ein Siemens-Mitarbeiter ist Autor mehrerer Arbeiten zum sogenannten „Point Cloud Matching“. Neben ihm waren Wissenschaftler einer chinesischen Militäreinrichtung an der sensiblen Forschung beteiligt – wovon er nichts gewusst haben will. Der Fall wirft Fragen über wissenschaftliche Integrität auf.
Geht es nach Militärstrategen, braucht es für die Kriege der Zukunft keine Menschen mehr. Zumindest nicht an der Front: Die Drecksarbeit sollen künftig Drohnen, Kampfroboter und selbstfahrende Panzer übernehmen.
Damit sie nicht gegen Wände oder in Gewässer fahren, braucht es hochkomplexe 3D-Sensoren, die zuverlässig ihr Umfeld abschätzen können. Genau zu solcher Sensortechnik forscht unter anderem die National University of Defence Technology (NUDT), eine chinesische Militäruniversität. In den vergangenen zwei Jahren erschienen mindestens vier Forschungsarbeiten der Hochschule in diesem Bereich.
CORRECTIV-Recherchen zeigen: Auch ein Forscher des Münchner Technologiekonzerns Siemens war an diesen Arbeiten beteiligt. Slobodan Ilic lehrt zugleich als Vertrags-Professor an der Technischen Universität München.
Siemens weist eine Verbindung zum chinesischen Militär von sich: Der Mitarbeiter Ilic habe an der TU München lediglich als Dozent Doktoranden betreut und werde deshalb in den Arbeiten genannt. Von der Beteiligung der NUDT an der Forschung habe er nichts gewusst.
Das würde gängigen Standards von Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) widersprechen, wonach Forschende einen nachvollziehbaren Beitrag zur Arbeit geleistet haben müssen, wenn sie als Autorinnen oder Autoren aufgeführt werden.
Zudem ist offen, ob es für die Forschung eine exportkontrollrechtliche Genehmigung durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) gebraucht hätte: Bei einer der Arbeiten, an der offenbar auch ein Forscher des Facebook-Mutterkonzerns Meta beteiligt war, ging es um das sogenannte „Point Cloud Matching“, einer Technik, bei der mehrere Bilder von 3D-Sensoren miteinander verschmolzen werden, um die Umgebung darzustellen.
CORRECTIV legte die Arbeit mehreren unabhängigen Experten vor. Es handele sich ihrer Einschätzung nach zwar um Grundlagenforschung; sie könnte jedoch sowohl für zivile als auch militärische Zwecke genutzt werden. Man spricht hier von sogenannten „Dual-Use“-Fällen.
Die in der Arbeit untersuchte Sensortechnik kommt unter anderem bei Roboterhunden zum Einsatz
Ein Experte zum Themenbereich, der anonym bleiben möchte, erklärte die in der Forschung untersuchte „Punktwolkenregistrierung“ gegenüber CORRECTIV als gängig, wann immer 3D-Bilder miteinander verschmolzen werden sollen: „Das ist in der Robotik sehr verbreitet, da im Grunde jeder Roboter eine Darstellung der Umgebung benötigt.“ Die Technik könne sowohl für zivile als auch für militärische Anwendungen genutzt werden.
Möglich sei der Einsatz etwa in Roboterhunden, die durch die Netflix-Serie „Black Mirror“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Davon gibt es Versionen, welche die Arbeit auf Baustellen erleichtern sollen, indem sie Gebäudemodelle erstellen – und solche, die mit Gewehren ausgestattet sind, um im Krieg als Waffe eingesetzt zu werden.
Auf einer Konferenz in der chinesischen Provinz Guangdong wurde im vergangenen Jahr ein solcher „vierbeiniger Krieger“ vorgestellt. Er ist ausgestattet mit einem 7,62-Millimeter-Maschinengewehr und lackiert in Tarnmuster. Er könne selbständig Treppen steigen und sei bereit, „direkte Angriffe auf Ziele durchzuführen“.
Dass Militärroboter Punktwolken abgleichen, sei laut dem von CORRECTIV befragten Experten „denkbar und wahrscheinlich“. Auch in selbstfahrenden Fahrzeugen komme sie zum Einsatz. Diese Anwendung sei zwar nicht streng offensiv, aber könnte für die Logistik verwendet werden: „Sie stellt ein ernsthaftes Problem für das Militär dar, insbesondere in Kriegszeiten.“
Die Entwicklung solcher Technologien läuft seit rund zwei Jahrzehnten auf Hochtouren. Weit vorne dabei: Chinas Militär. Nach Angaben der People’s Liberation Army (PLA) soll dort schon 2018 der erste ferngesteuerte Kampfpanzer fertiggestellt worden sein. Tatsächlich sind in China laut Beobachtern mittlerweile auch eine ganze Reihe unbemannter Bodenfahrzeuge im Einsatz, etwa für militärische Logistik-Transporte.
Bedenken zu einem möglichen „Dual-Use“ der Arbeit zum Punktwolkenabgleich seien laut dem von CORRECTIV befragten Experten verständlich, wenn man „die Autoren und ihre Verbindungen“ betrachte.
NUDT legt besonderen Fokus auf Robotik und Künstliche Intelligenz
Die NUDT untersteht direkt der Zentralen Militärkommission, dem höchsten militärischen Führungsorgan der Volksrepublik China. Die Universität ist bekannt für ihre Forschung, unter anderem zu Supercomputern, autonomen Fahrzeugen und Hyperschallraketen. Ein spezielles Forschungszentrum kümmert sich ausschließlich um „Dual-Use“-Basistechnologien, um Robotik und Künstliche Intelligenz.
Einer der beteiligten Forscher an der entsprechenden Arbeit zur „Punktwolkenregistrierung“, Dongsheng Li, arbeitet an der NUDT etwa an „militärischer intelligenter Datenverarbeitung“. Was genau das bedeutet, ließ der Forscher auf CORRECTIV-Anfrage unbeantwortet.
Auch ein weiterer beteiligter Forscher hat enge Verbindungen zur NUDT: Hao Yu, der als Erstautor in der Studie genannt wird, machte dort seinen Bachelor. Jetzt ist er Doktorand an der TU München. CORRECTIV konnte bislang nicht mit ihm sprechen. Betreut wird er unter anderem von Slobodan Ilic.
Siemens-Forscher will keinen Kontakt zu NUDT-Forschern gehabt haben
Mit diesen Verbindungen konfrontiert, teilt Siemens mit, dass das Unternehmen „keine Forschungskooperation oder andere Partnerschaften“ mit der NUDT unterhalte: „Auch hat unser Mitarbeiter Slobodan Ilic nicht mit Forschenden der NUDT zusammengearbeitet. Bei allen erwähnten Aufsätzen handelt es sich um Arbeiten chinesischer Studierender der TUM, die unser Mitarbeiter in seiner Funktion als Privatdozent der TUM betreut hatte.“
Ilic werde als betreuender Dozent in der Arbeit aufgeführt. „Herr Ilic war aber nicht Mitautor der Aufsätze, sondern hatte diese nur als Dozent an der TUM fachlich mitbetreut“, schreibt Siemens. „Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit haben sich die Studierenden unter anderem offenbar auch mit einzelnen Forschenden der NUDT ausgetauscht. Unser Mitarbeiter hatte davon keine Kenntnis und auch hier keinen Kontakt mit Forschenden der NUDT.“
Die TU München teilt ebenfalls mit, dass es „keinerlei Kooperationsvereinbarung zwischen der TUM und der NUDT“ gebe. „Die Aufnahme des Erstautors des Papers als Promovierender an der TUM wurde, wie alle derartigen Fälle, vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Visumserteilung geprüft. Die Mitautorenschaft von weiteren Wissenschaftlern ergab sich aus dem direkten persönlichen und fachlichen Austausch des Erstautoren mit ihnen.“
Ilic verweist gegenüber CORRECTIV auf die Stellungnahmen von Siemens und der TU München. Er selbst schreibt uns knapp: Er habe keine offizielle Beziehung mit der NUDT. Es handele sich um „reine Forschungsarbeiten“, die an einer internationalen Konferenz veröffentlicht wurden.
Frage nach Beteiligung des Siemens-Forschers in den Studien bleibt offen – auch die Rolle von Meta ist fragwürdig
Offen bleibt Ilics konkrete Beteiligung an den Arbeiten: Laut Siemens werde er darin nur als betreuender Dozent genannt und er habe keinen Kontakt zu Forschenden der NUDT gehabt. Er habe auch keine Kenntnis darüber gehabt, dass der betreuende Doktorand sich mit diesen Forschenden austauschte.
Fraglich wäre dann, ob Ilics Autorenschaft überhaupt gerechtfertigt ist: Nach den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zur „Guten wissenschaftlichen Praxis“ und Integrität müssen Forschende „in wissenschaftserheblicher Weise“ an Arbeiten beigetragen haben, um darin als Autorinnen und Autorinnen genannt zu werden.
Ein Sprecher der HRK bekräftigt diese Praxis gegenüber CORRECTIV: Wer als Autor genannt wird, muss auch etwas beigetragen haben. Ein Sprecher der DFG sagt gegenüber CORRECTIV, auch eine „Betreuung eines Doktoranden“ könnte grundsätzlich eine Berücksichtigung als Mitautor rechtfertigen. Aber: „Die betreffende Person müsste regelmäßig in die konkrete Forschungsaufgabe, die in der Publikation dargestellt werden soll, eingebunden gewesen sein.“
Wie das im Fall von Ilic gehen soll, der sich nicht einmal mit den anderen beteiligten Forschenden ausgetauscht haben will, ist zumindest offen.
Fragwürdig ist auch die Rolle von Ji Hou bei der Arbeit – er ist Forscher bei Meta, dem Facebook-Mutterkonzern. Gegenüber CORRECTIV äußerte er sich nicht persönlich. Ein Meta-Sprecher antwortete kurz: „Meta war nicht an dieser Forschung beteiligt, hat sie nicht in Auftrag gegeben und nicht finanziert und sollte daher nicht als Autorin aufgeführt werden.“
Forschung mit China steht zunehmend auf dem Prüfstand
Die Forschung zwischen deutschen wissenschaftlichen Institutionen und chinesischen Militäreinrichtungen ist seit Mitte 2022 verstärkt Gegenstand politischer Debatten. Eine Recherche von CORRECTIV mit mehreren internationalen Partnermedien legte damals offen, dass das chinesische Militär gezielt Wissen aus europäischen Hochschulen abzapft.
Dabei steht deutsche Spitzenforschung im Fokus, wie wir belegen konnten: CORRECTIV wies gemeinsam mit seinen deutschen Partnermedien rund 350 wissenschaftliche Veröffentlichungen nach, in denen Forschende an deutschen Hochschulen mit Kolleginnen und Kollegen aus chinesischen Militäreinrichtungen zusammengearbeitet haben. Die internen Verfahren von Hochschulen reichten offensichtlich nicht aus, um auszuschließen, dass die Forschung der Hochschulen in sicherheitsrelevante Technologie fließt.
Das Bundesforschungsministerium will Forschungskooperationen mit China seither kritischer überprüfen: „Wir müssen überall da klare Grenzen ziehen, wo wir China helfen, einen Vorteil im Systemwettbewerb zu erringen beziehungsweise den chinesischen Militärbereich zu stärken“, sagte ein Sprecher gegenüber CORRECTIV.
Universitäten müssten sich zudem bewusst sein, dass auch Grundlagenforschung exportkontrollrechtliche Bezüge haben könnte und „Dual-Use“-Risiken bergen könnten.
Grundlagenforschung – oder doch „Dual-Use“?
Für Fragen der Exportkontrolle ist in Deutschland das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig, das anwendungsbezogene Forschung genehmigen muss. Grundlagenforschung ist von Genehmigungspflichten grundsätzlich ausgenommen – es sei denn, die Forschung ist nahe an der Anwendung oder es gibt Drittmittel aus der Industrie. Dann müssen Forschungseinrichtungen von sich aus die BAFA kontaktieren, die dann im Einzelfall prüft.
Angesichts der direkten Beteiligung des chinesischen Militärs, das gezielt „Dual-Use“-Güter importieren soll – und der Beteiligung von Industriekonzernen – ist zumindest fraglich, ob es im Fall der Forschung zur „Punktwolkenregistrierung“ eine exportkontrollrechtliche Genehmigung gebraucht hätte.
Ein Sprecher des BAFA teilt auf CORRECTIV-Anfrage mit: „Aus technischer Sicht ist keine unmittelbare Nähe der Forschungsarbeit zu einem gelisteten Gut erkennbar. Sie scheint eher in den Bereich der Grundlagenforschung zu fallen.“ Aber: „Eine verbindliche Auskunft zur Erfassung eines Guts kann jedoch nur im Rahmen eines Antragsverfahrens gegeben werden.“
Ob ein solches Verfahren bei der Arbeit zur „Punktwolkenregistrierung“ stattfand, ist nicht klar. Sowohl Siemens als auch die TU München teilen auf CORRECTIV-Anfrage mit, sie würden sich an alle Exportkontrollrichtlinien halten. Der Siemens-Forscher Ilic ist sich jedenfalls sicher: „Es handelt sich nicht um einen Dual-Use.“
Siemens hatte sich erst im vergangenen Jahr aus Geschäften mit dem chinesischen Rüstungsunternehmen Transemic zurückgezogen, nachdem US-Behörden es auf eine Sanktionsliste setzten. Das Handelsblatt hatte die Geschäftsbeziehung zuvor öffentlich gemacht. So sei Siemens-Software an militärnahe Forschungseinrichtungen verkauft worden. Die NUDT untersteht direkt dem Militär und wird ebenfalls auf der US-Sanktionsliste geführt.