Europa

Vor den Europawahlen: Neue MeToo-Vorwürfe im Europaparlament

Im Europaparlament häufen sich nach Recherchen von Stern und CORRECTIV Beschwerden von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung.

von Annika Joeres , Gabriela Keller

kurzmeldung

Allein in den vergangenen Wochen haben sich mehr als 20 Mitarbeiterinnen, Assistentinnen und Praktikanten aus mehreren Fraktionen beim neu gegründeten Harassment Support Network gemeldet. Elf weitere Fälle sexueller Belästigung aus der aktuellen Legislaturperiode sind Stern und CORRECTIV bekannt. Hochrangige Politikerinnen bemängeln, dass unabhängige Anlaufstellen fehlen würden.

„Wenn Parlamentarier andere Parlamentarier kritisieren, ist die Gefahr groß, dass ein Auge zugedrückt wird“, kritisiert Katarina Barley, die sozialdemokratische Spitzenkandidatin und Vizepräsidentin des Parlaments im Stern und gegenüber CORRECTIV.

Unter den von mehreren Mitarbeitern beschuldigten Abgeordneten findet sich auch der langjährige CDU-Abgeordnete Elmar Brok. Ihm wird Machtmissbrauch und Mobbing vorgeworfen. Er soll die Beschäftigten in seinem Büro angebrüllt und mit Gegenständen beworfen haben, etwa mit einem Schlüsselbund oder einer Mappe. Auf Anfrage schreibt Brok, es gebe über ihn in Brüssel „viele nette und manche weniger nette Geschichten, die gut erfunden oder einfach falsch sind oder nicht so stimmen.” Was genau an den Vorwürfen nicht stimmen könnte, benennt er nicht.

Auch in anderen EU-Institutionen haben den Recherchen nach die Opfer von sexueller oder psychischer Gewalt große Schwierigkeiten, Hilfe zu bekommen. In den seit 2004 jährlichen Berichten der Disziplinarstelle IDOC werden nur einige wenige Fälle von sexueller Belästigung und Mobbing gemeldet – sanktioniert werden die Täter nahezu nie. Und wenn, dann trifft es fast ausschließlich die unteren Hierarchiestufen, etwa Beschäftigte mit Zeitverträgen. „Die hochrangigen Belästiger und Vergewaltiger werden systematisch geschützt”, sagt eine Insiderin der Kommission, mit mehr als 30.000 Beamten ein noch größerer Apparat als das Parlament. Die EU-Kommission bestreitet, sexuelle Belästigung nicht ausreichend zu ahnden. Die Zahl der gemeldeten Fälle sei nach wie vor sehr gering – das beweise aber nur, „dass die Kommission ein sicheres und respektvolles Arbeitsumfeld bietet”, schreibt sie auf Anfrage.

Inzwischen bekannt ist der Fall Malte Gallées. Der Grünen-Abgeordnete aus Bayern trat Anfang des Jahres zurück, als der Stern recherchierte, dass mehrere Mitarbeiterinnen seiner Fraktion ihm sexuelle Belästigung und Mobbing vorgeworfen hatten. Seitdem haben Stern und CORRECTIV monatelang im Europaparlament recherchiert. Die Recherchen ergeben das Bild eines Parlaments, in dem zum Teil eine Kultur des Machtmissbrauchs und der sexuellen Belästigung herrscht. Vor allem Frauen erzählen in der aktuellen Ausgabe des Stern und gegenüber CORRECTIV von unangenehmen Begegnungen in Fahrstühlen. Von älteren Parlamentariern auf der Pirsch nach „Frischfleisch“. Und von Abgeordneten, die glauben, sich so gut wie alles erlauben zu können. „Wir haben keine Chance“, behauptet eine Betroffene. „Jeder Schritt dient dazu, die Abgeordneten zu schützen.“  

Auch der Komiker Martin Sonneborn, der seit zehn Jahren als Abgeordneter in Brüssel arbeitet, bestätigt die Recherche: „Der Eindruck ist richtig, dass man sich in Brüssel nicht mit Problemen auseinandersetzen will, sondern sie unter den Teppich kehrt.”

Mitarbeit: Charlotte Wirth (Stern)