Flucht & Migration

UN-Hilfsgelder stärken Assad

Die Menschen in Syrien leiden. Trotz Milliarden von Hilfsgeldern kommt an vielen Orten in Syrien nichts an. Weil die Vereinten Nationen eng mit dem Assad-Regime zusammenarbeiten. Und weil Gelder versickern. Eine gemeinsame Recherchen von CORRECTIV und dem ARD Politmagazin Report München.

von Hendrik Loven , Bassel Alhamdo , Bernhard Niebrügge , Frederik Richter

Ein fast leerer Lastwagen: die syrische Opposition sagt, dass in Gebieten außerhalb der Kontrolle des Assad Regimes kaum Hilfe ankommt. Das Bild entstand im Juni in dem Ort Ghouta bei Damaskus.© Screenshot Youtube-Video

Die Recherche erscheint gleichzeitig bei unseren Regionalzeitungspartnern „Nürnberger Nachrichten“, „Münchner Merkur“, „Mannheimer Morgen“ und „Heilbronner Stimme“.

Zwei Episoden aus dem syrischen Bürgerkrieg. Die erste: Es ist der 26. August 2016, als sich die Rebellen aus Daraya zurückziehen, einem Vorort von Damaskus. Es ist ein symbolträchtiger Rückzug. Denn hier, in Daraya, begann fünf Jahre zuvor der Aufstand gegen das Regime, als einige Jugendliche sich trauten, Parolen gegen Assad auf Hauswände zu sprühen.

Nur Stunden, nachdem die Rebellen abgezogen waren, rückt ein Lastwagen der syrischen Armee nach Daraya ein, beladen mit Kisten, auf dem das blaue Logo des UN-Flüchtlingswerks prangt. Ein regimetreuer syrischer Fernsehsender überträgt die Szene, möglichst viele Menschen sollen das sehen. Die Botschaft des Assad-Regimes ist klar: Wer auf unserer Seite steht, wer sich lossagt von den Rebellen, dem wird geholfen. 

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Ein syrischer Armeelaster fährt mit UN-Hilfsgütern in den von Assads Truppen kontrollierten Ort Daraya.

Screenshot TV-Sender Alikhbaria

Die zweite Episode spielt rund einen Monat später: Am 19. September 2016 hat sich ein UN-Hilfskonvoi Aleppo genähert. Die Stadt ist von fast allen Seiten eingeschlossen. Das Regime, Rebellengruppen und der Islamische Staat ringen in blutigen Kämpfen um jeden Straßenzug. Bis heute sterben dort jeden Tag Menschen, das Assad-Regime bombardiert die Stadt, es gibt kaum noch Trinkwasser. Eine humanitäre Katastrophe ereignet sich hier vor den Augen der Welt. 

Der Hilfskonvoi, der Aleppo erreicht, besteht aus 31 Lastwagen, gerade haben Helfer begonnen, die Kisten und Säcke in einem Depot abzuladen. Das Mehl wird besonders dringend benötigt, es soll etwa 80.000 Menschen versorgen. Da tauchen Kampfflugzeuge am Himmel auf. Gezielt fliegen sie den Konvoi an, feuern Raketen ab und zerstören die Lastwagen komplett. Etwa 20 Menschen sterben. Die Hilfsgüter verbrennen. 


Türkei

Gaziantep

Über diesen Ort beliefern internationale Geber den Norden Syriens, der von der Opposition kontrolliert wird, mit Hilfsgütern.

Aleppo

Um die Millionenstadt toben heftige Kämpfe zwischen verschiedenen Milizen, dem sogenannten Islamischen Staat und dem Assad-Regime.

Syrien

Daraya

In diesem Vorort von Damaskus hielten die Rebellen weitgehend abgeschnitten von internationaler Hilfe fünf Jahre aus.


Wieder ist die Botschaft des Assad-Regimes klar: Wer nicht zu uns gehört, dem wird nicht geholfen. Hilfslieferungen dulden wir nur in Gegenden, die zu uns gehören. In Rebellengebieten sollen die Leute ruhig verhungern, verdursten und verbluten.

Die beiden Episoden zeigen: Längst sind die Hilfsgüter der Vereinten Nationen im syrischen Bürgerkrieg zu einer Waffe geworden. Einer Waffe, die Syriens Diktator Bashar Al-Assad in der Hand hält und die er zu seinem militärischen Vorteil einsetzt. 

Eine gemeinsame Recherche von CORRECTIV und dem ARD-Politmagazin „Report München“ zeigt, wie sich die Hilfswerke der Vereinten Nationen von Assad benutzen lassen. Und dass Millionen an Hilfsgeldern in korrupten Kanälen schlicht verschwinden.

Die Hilfsgüter werden auch aus deutschen Steuermitteln finanziert. 2,3 Milliarden Euro hat Deutschland allein in diesem Jahr bei den Syrien-Geberkonferenzen versprochen.

Kritik von vielen Seiten

Ammar Al Salmo gehört zur Organisation „Weiße Helme“, jenen unerschrockenen Helfern, die in Syrien die Opfer von Bombenangriffen aus den Trümmern ziehen. In diesem Jahr war die unter anderem aus den USA finanzierte Zivilschutzorganisation für den Friedensnobelpreis nominiert. Im Frühjahr unterzeichneten die Weißen Helme, gemeinsam mit mehr als 70 weiteren Hilfsorganisationen, einen offenen Brief an die UN. Sie warfen den UN-Verantwortlichen darin vor, parteiisch zu sein, sich vor den Karren von Assad spannen zu lassen.

„Assad gebraucht die humanitäre Hilfe als Waffe“, unterstreicht Al Salmo. „Wir fordern die UN auf, nicht Partner von Assad zu sein.“ Er zählt mehrere Vorfälle auf, bei denen Laster mit Hilfsgütern zerbombt wurden. „Und wenn wir die nächsten bekommen, dann werden auch die zerstört“, sagt er.  

Die UN sei in ihrer Hilfe parteilich — dieser Vorwurf wird von vielen Seiten erhoben. Vertreter lokaler syrischer Hilfsorganisationen kritisieren, dass in den offiziellen humanitären UN-Hilfsplänen ihre Forderungen nicht auftauchen – um das Assad-Regime nicht zu brüskieren. Zudem würde die Zahl von Hilfsbedürftigen in Oppositionsgebieten von der UN zu niedrig angesetzt. Die Folge: Wieder blieben dort viele Teller leer.

Reinoud Leenders, der am King‘s College in London Politische Wissenschaften lehrt, unterstreicht die Vorwürfe. Während er an einer Studie über die Verwendung holländischer Steuergelder im UN-System arbeitete, stieß er auf die Hilfsorganisation Lamset Shifa, hinter der die Ehefrau von Assad steht. Ausgerechnet mit ihr arbeite das UN-Welternährungsprogramm zusammen.

Die britische Zeitung „The Guardian“ berichtete im August, dass die UN in Syrien zig Millionen US-Dollar an Firmen und Organisationen gezahlt habe, die dem Assad-Regime nahe stehen. Die UN habe sich nicht einmal an die Sanktionsliste der EU gehalten.

Auch der Brite Ben Parker stößt ins gleiche Horn. Er war 2012 für die UN in Syrien, um im beginnenden Bürgerkrieg ein humanitäres Büro der Vereinten Nationen zu eröffnen. Parker spricht überlegt, seine Kritik wirkt ausgewogen. Einerseits, sagt er, gebe es bei den Vereinten Nationen in Syrien viele Helfer, denen man keine Vorwürfe machen könne. „Sie versuchen, unter dem Druck von Assad zu manövrieren, sie versuchen, kreative Lösungen für dieses schwierige Umfeld zu finden.“

Andererseits sei der Vorwurf der Einseitigkeit nicht von der Hand zu weisen. „Auf politischer Ebene, wo die Entscheidungen getroffen werden, da gibt es Fragen zu beantworten“, sagt Parker. „An welcher Stelle sagt man nein, wo sagt man, wir können so nicht mehr weitermachen?“ Ein großes Problem sei, dass es keine Daten darüber gebe, wo in Syrien welcher Hilfsbedarf bestehe, sagt Parker. Alle Seiten würden versuchen, die Daten für eigene Zwecke zu manipulieren.

Parker sagt, dass einige der großen Hilfsorganisationen unter der Hand zugeben, in Syrien nicht unparteiisch sein zu können. Sie versuchten, so gut es ginge, mehr Gutes zu tun als Schaden anzurichten. Doch bei der UN gebe es diese Ehrlichkeit nicht, sagt Parker. „Die Vereinten Nationen behaupten, sie seien zu 100 Prozent unparteiisch. Sie behandeln die Öffentlichkeit wie Idioten.“

Die Rolle des Roten Halbmondes

Die wichtigste Rolle bei der Verteilung der UN-Hilfsgüter spielt der Rote Halbmond, das syrische Pendant zum Roten Kreuz. Geleitet wird die Hilfsorganisation von dem syrischen Unternehmer Abdelrahman Attar. Beobachter vor Ort sagen, Attar stehe auf Seiten des Assad-Regimes. Sie zählen ihn zu jenen Geschäftsleuten, die ihren Wohlstand der Loyalität gegenüber dem Regime verdanken. 

Die UN kooperieren mit dem Roten Halbmond auch bei Hilfslieferungen in Gebiete, die von der Opposition gehalten werden. Aus diesen Gebieten kommt regelmäßig der Vorwurf, dass die Lastwagen dort halb leer ankommen. 

In den vergangenen Monaten haben die Vereinten Nationen auf die scharfe Kritik reagiert und versucht, Hilfe auch vermehrt in Rebellengebiete zu liefern. Das Assad-Regime will das nicht. Es demonstrierte diesen Willen mit all seiner militärischen Macht und bombardierte am 19. September 2016 bei Aleppo die 31 Lastwagen voller UN-Hilfsgüter. 

Man nehme die Vorwürfe über die fehlende Unabhängigkeit der UN sehr ernst, sagt Jens Laerke von Unocha, der UN-Koordinierungsstelle für humanitäre Hilfe in Genf. Aber: Die Kritiker würden übersehen, wie schwierig und gefährlich die Lage in Syrien sei. Nachfrage: Könne die UN in Syrien denn überhaupt unparteiisch sein? „Es ist schwierig, aber ich glaube, wir sind es“, sagt Laerke. Er bestreitet auch, dass die Daten im offiziellen humanitären UN-Plan für Syrien manipuliert seien.

Korruption, wohin man schaut

Die direkt im Bürgerkrieg verteilten humanitären Gelder sind nur ein Teil der Mittel, die auf den sogenannten Syrien-Geberkonferenzen von der internationalen Staatengemeinschaft eingesammelt werden. Auch in den umliegenden Ländern Türkei, Libanon und Jordanien werden diese Gelder ausgegeben, um Millionen syrischen Flüchtlingen zu helfen. Doch wer versucht, im Berichtswesen der UN zu recherchieren, wo dieses ganze Geld landet, steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe.

Denn das System der Hilfe ist so organisiert, dass von den Beteiligten nie jemand für etwas verantwortlich gemacht werden kann. Die internationalen Geber wie Deutschland überweisen den Vereinten Nationen die Gelder für Hilfsprojekte. Diese verteilen sie an ihre Unterorganisationen wie das UN-Flüchtlingswerk oder die Kinderhilfsorganisation Unicef. Diese wiederum beauftragen internationale Hilfsorganisationen mit der Umsetzung von Projekten. Diese wiederum beauftragen lokale Organisationen mit Projekten. Erst diese kaufen dann Leistungen und Hilfsgüter bei lokalen Firmen ein.

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Es ist eine lange Kette des Delegierens von Verantwortung, bei der die Gefahr des Missbrauchs von Hilfsgeldern groß ist. Experten sagen, dass es innerhalb der UN keine ernstzunehmende Kontrolle über die Verwendung der Hilfsgelder gebe. Unocha kam in einer Evaluierung im vergangenen März selbst zu dem Schluss, dass man kaum prüfen könne, wo die Hilfsgüter am Ende eigentlich landeten.

In Deutschland hat der Bundesrechnungshof mangelnde Kontrollen in den Fördermaßnahmen der Bundesregierung kritisiert. So habe das Auswärtige Amt keine messbaren Ziele festgelegt und die Förderzwecke so allgemein gehalten, dass eine wirksame Erfolgskontrolle nicht möglich sei. Außerdem könne Auswärtige Amt laut Bundesrechnungshof nicht selbst feststellen, wie oft und auf welche Weise es seine Projekte  eigentlich kontrolliert hat. Das Auswärtige Amt äußerte sich in einer Stellungnahme nicht konkret zu dem Bericht. 

Mehr Hilfe — aus Angst vor der AfD

Obwohl der Bundesregierung diese Probleme bewußt sind, will sie noch mehr Geld in dieses UN-System stecken. Im vergangenen Monat erklärte CDU-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder in der Bundestagsfraktion, es solle einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik geben. Auch damit der AfD nicht noch mehr Wähler zulaufen.

Kauder verteilt dazu ein Papier in der Fraktion, in dem es auch um den deutschen Beitrag zur UN-Flüchtlingshilfe vor Ort geht. Die These: Wenn den Flüchtlingen vor Ort besser geholfen wird, kommen sie nicht zu uns. 2,3 Milliarden Euro Hilfsgelder sollen dazu aus Deutschland fließen. es wäre eine der größten Zuwendungen in der Geschichte der Vereinten Nationen. 

Doch wo dieses Geld am Ende landen wird, wieviel davon in der Kriegsmaschinerie von Assad fließt, weiß in Berlin niemand. Die internationale Hilfe wirkt wie ein Ablasshandel: Wir wissen, dass sie nicht funktioniert – aber irgendetwas muss man ja tun.

Hilfe in einem rechtsfreien Raum

Die türkische Millionenstadt Gaziantep in der Nähe der syrischen Grenze ist das Nervenzentrum der humanitären Hilfe für den Norden Syriens, der in Teilen noch von den Rebellen kontrolliert wird. In der Stadt wimmelt es von Helfern. Große ausländische Hilfsorganisationen trauen sich nicht mehr nach Syrien, sie werden vom Assad-Regime dort auch nicht mehr geduldet. Damit sind die Helfer auf lokale Organisationen angewiesen. Und oft genug drücken sie einfach lokalen Treuhändern große Summen Bargeld in die Hände. In einem quasi rechtsfreien Gebiet, in dem es zwischen den vielen Hilfsorganisationen keinerlei abgestimmtes Monitoring gibt.

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Schlammiges Terrain: in einem Flüchtlingslager im syrisch-türkischen Grenzgebiet fehlt die Straße. Für die Geldgeber ist das Projekt dennoch abgeschlossen.

Al Resala Foundation

Es spricht vieles dafür, dass ein erheblicher Teil der Mittel nicht ankommen, sondern auf dem Weg zu den Projekten hier im Grenzgebiet in den Taschen von Profiteuren verschwindet. Wer sich in Gaziantep auf Spurensuche begibt, stößt schnell auf derartige Hinweise.

Zum Beispiel im Lager der lokalen Organisation Al Resala, nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt. Tausende Flüchtlinge sollen hier untergebracht werden. Die weißen Zelte sind aufgebaut, doch was fehlt, sind die sanitären Anlagen, die Drainage für das Regenwasser, der Schotter, um die Wege zu befestigen. Schlammig ist es zwischen den Zelten, in riesigen Schlaglöchern steht das Wasser. Der Betreiber des Camps sagt, man habe sich mehrfach bei dem Geber, einer norwegischen Organisation beschwert. Doch diese beharrt darauf, dass das Projekt abgeschlossen sei. Mit anderen Worten: Einer schiebt dem anderen die Schuld zu. Während irgendwo in der Mitte offenbar jemand hockt, der sich Zehntausende Euro in die eigene Tasche gesteckt hat.

Die Hälfte der Hilfsgelder wird unterschlagen 

Muzaffer Baca, der Vizechef der türkischen Hilfsorganisation Internationaler Blauer Halbmond (IBC), schätzt, dass rund 50 Prozent der Hilfsgelder für Projekte in Syrien unterschlagen werden. Die internationalen Organisationen forcierten die Korruption, indem sie nicht den Mut hätten, selber in Syrien zu arbeiten. Bei der verworrenen Lage in beiden Ländern könne man weder in der Türkei noch in Syrien Unterschlagung in einer lokalen Organisation rechtlich verfolgen. „Eure Steuerzahler geben uns das Geld, um hier zu helfen, um den Syrern in Syrien zu helfen, aber die Hälfte des Geldes verschwindet unterwegs“, sagt Baca.


Hinweis, eingefügt am 12.10.2016: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, der Bundesrechnungshof habe die Syrien-Hilfe der Bundesregierung geprüft. Der Bundesrechnungshof weist darauf hin, dass man lediglich die Fördermaßnahmen des Auswärtigen Amts insgesamt untersucht habe, und nicht konkret die Syrien-Hilfe.

Diese Recherche ist eine Kooperation mit dem ARD Politikmagazin „Report München“. Bernhard Niebrügge und Hendrik Loven sind dort Redakteure.