Flucht & Migration

Informationslücke in der Asylpolitik

Geflüchtete sollen bei ihrer Ankunft in Deutschland auf psychische Krankheiten hin untersucht werden – laut einer Richtlinie der EU. Ziel ist unter anderem, Gefahren für die Allgemeinheit auszuschließen. Tatsächlich findet das in Deutschland aber so gut wie nie statt.

von Anette Dowideit

Flüchtlinge in Deutschland
Ein Mann steht in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen vor einem Wohncontainer. Von hier aus werden die Menschen auf die Kommunen innerhalb des Bundeslandes verteilt. Foto:Boris Roessler/picture alliance/dpa

In den Wochen vor der Bundestagswahl versetzten innerhalb weniger Wochen zwei Anschläge das Land in Aufruhr – bei denen die Täter Geflüchtete waren und zudem psychisch erkrankt.

In Magdeburg fuhr im Dezember ein seelisch kranker Mann aus Saudi-Arabien, der als Schutzsuchender nach Deutschland gekommen war, in eine Menschenmenge. Er tötete sechs Menschen, rund 300 weitere wurden verletzt. In Aschaffenburg tötete ein Geflüchteter aus Afghanistan, der unter einer psychischen Krankheit leidet, im Januar ein Kind und einen Erwachsenen mit einem Messer.

Jedesmal, wenn ein solcher Anschlag geschieht, dreht sich die öffentliche Diskussion schnell wieder um dieselben Fragen: Warum konnten Behörden die Tat nicht verhindern? Weshalb wurde der Täter nicht angemessen behandelt? Hätte man wissen können oder sogar müssen, dass er gefährlich für die Allgemeinheit ist – und ihn ärztlich versorgen müssen?

Warum das deutsche Behördensystem an dieser Stelle immer wieder versagt, hat CORRECTIV vor rund eineinhalb Jahren in einer ausführlichen Recherche gezeigt: Neu ankommende Schutzsuchende wurden so gut wie nie in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer auf ihren seelischen Zustand hin untersucht – und das, obwohl eine EU-Richtlinie dies bereits seit dem Jahr 2013 zumindest dringend empfiehlt. Darin heißt es: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst.“

Die Recherche zeigte auch: Selbst, wenn nach der Ankunft eines Geflüchteten auffiel, dass er dringend Therapie benötigte, war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, sie zu bekommen.

Jetzt hat CORRECTIV erneut bei den 16 Bundesländern nachgefragt: Wird die EU-Richtlinie mittlerweile umgesetzt? Werden Neuankömmlinge nun in der Regel auf ihren seelischen Zustand hin untersucht?

Nur ein Bundesland prüft offenbar regelmäßig

Das Ergebnis: Von 15 Bundesländern, die auf die Fragen antworteten (Thüringen ignorierte die Anfrage) wanden sich 14 mit blumigen Formulierungen heraus – die eindeutig durchblicken lassen: Dies ist nicht regelmäßig der Fall.

Nur das Land Schleswig-Holstein konnte auf die Frage, wie viele der neu Angekommenen zuletzt auf ihren seelischen Zustand hin untersucht worden seien, konkrete Zahlen nennen: Im Zeitraum Januar bis Oktober 2024 wurden demnach 1.106 psychiatrische Diagnosen gestellt – fast zwölf Prozent aller Ankommenden waren demnach ernsthaft seelisch krank.

Alle anderen Bundesländer verwiesen in komplizierten Formulierungen darauf: Die EU-Richtlinie sei bislang nicht bindend. Somit seien Untersuchungen auf seelische Krankheiten hin nicht rechtlich vorgeschrieben. Mecklenburg-Vorpommern etwa verwies darauf, dies werde erst ab Mitte 2026 der Fall sein.

Stattdessen, schreiben mehrere Bundesländer, orientiere man sich bislang an den gesetzlichen Vorgaben des Asylbewerberleistungsgesetzes. Es sieht im Wesentlichen vor, dass bei „akuten Erkrankungen“ medizinische Hilfe geleistet wird. Offenbar nutzen die Bundesländer den gesetzlichen Spielraum aus, den die Formulierungen im Gesetz lassen – denn ob eine seelische Erkrankung „akut“ ist, lässt sich oft schwer beurteilen.

Lauterbach warnt vor „Sicherheitsrisiko“

Noch-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte erst kürzlich – im Zusammenhang mit dem Anschlag von Aschaffenburg – vor dem „Sicherheitsrisiko“ gewarnt, das entstehe, wenn psychische Krankheiten bei Geflüchteten zu selten erkannt und fast nie behandelt werden. „Viele Menschen, die nach Kriegs- und Fluchterfahrung zu uns kommen, entwickeln schwere psychische Erkrankungen und sind daher häufig eine Gefahr für sich und andere“, so Lauterbach.

Die CORRECTIV-Recherche vor eineinhalb Jahren hatte gezeigt, dass zu diesem Zeitpunkt rund 1,1 Millionen Geflüchtete in Deutschland lebten, die eine Therapie benötigen würden. Nur vier bis fünf Prozent erhielten jedoch die benötigte therapeutische Versorgung.

Die neue Abfrage bei den Bundesländern zeigt auch, wie viele Schutzsuchende insgesamt in den vergangenen beiden Jahren in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer ankamen. 2024 registrierten die 15 Bundesländer, die Auskunft gaben, etwa 229.400 Geflüchtete, deutlich weniger als im Jahr zuvor: Damals waren es rund 362.000.

Mitarbeit: Robin Albers