Flucht & Migration

„Dieses organisierte Wegsehen macht die Probleme nicht kleiner, sondern größer“

Rund eine Million psychisch kranker Geflüchteter lebt in Deutschland – die meisten werden nicht versorgt. Dafür gibt es jetzt harte Kritik, auch aus der Regierung selbst. Doch das verantwortliche Ministerium duckt sich weg.

von Anette Dowideit , Gabriela Keller

kurzmeldung

In Deutschland leben rund eine Million Geflüchtete, die psychisch krank sind – doch nur ein Bruchteil erhält professionelle Hilfe. Das hatte eine Anfang Dezember veröffentlichte CORRECTIV-Recherche offengelegt. Jetzt reagieren Politikerinnen und Politiker mit scharfer Kritik an den Verantwortlichen in der Politik – aus der Opposition, aber auch aus der Bundesregierung selbst. Das verantwortliche Gesundheitsministerium dagegen duckt sich weg.

„Dieses organisierte Wegsehen macht die Probleme nicht kleiner, sondern größer“, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin der Linke-Bundestagsfraktion, Kathrin Vogler. Insbesondere kritisiert sie, dass in den von den Bundesländern betriebenen Erstaufnahmeeinrichtungen die Ankommenden fast nie auf ihren seelischen Gesundheitszustand hin untersucht werden – obwohl eine EU-Richtlinie dies vorschreibt. Vogler spricht von „unterlassener Hilfeleistung“ des Staates. Die Folgen seien am Ende teurer und belastender für die Gesellschaft, als es proaktives Handeln wäre.

Scharfe Kritik an der Unterversorgung der Schutzsuchenden kommt auch aus der Regierung selbst: Die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, sagt jedoch, das Hauptproblem seien nicht die fehlenden Untersuchungen – sondern die Tatsache, dass in den meisten Fällen keine Möglichkeiten bestehen, psychisch kranke Geflüchtete mit Therapie zu versorgen. „Screenings sind vor allem dann sinnvoll, wenn die nötige Anschlussversorgung gegeben ist“, sagt Kappert-Gonther.

Regierung will Mittel kürzen anstatt Versorgung auszubauen

Beide Politikerinnen fordern deshalb, dass die Versorgung der Betroffenen dringend ausgebaut werden müsse. Diese Versorgung leisten in Deutschland bisher vor allem lediglich die sogenannten psychosozialen Zentren. Von diesen allerdings existieren bundesweit gerade mal 47, die nach eigenen Angaben nur vier Prozent der Betroffenen versorgen können.

Die Bundesregierung hat nun in ihrem Haushaltsplan für 2024 die Mittel für diese psychosozialen Zentren noch einmal gekürzt – ein Schritt in eine völlig falsche Richtung, sagt Linken-Politikerin Vogler. „Wenn traumatisierte Menschen keine Chance auf angemessene Therapie erhalten, verfestigen und chronifizieren sich ihre Beschwerden und haben oft auch Auswirkungen auf ihre körperliche Gesundheit. Am Ende ist das eine lose-lose-Situation.“ Denn so werde die Integration in den Arbeitsmarkt erschwert, ebenso in schulische und außerschulische Bildungsmaßnahmen. Die Integration in die Gesellschaft werde den Betroffenen versperrt.

Das für medizinische Versorgung zuständige Haus von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) reagierte nicht auf mehrfache Anfragen dieser Redaktion, wie sich der Missstand beheben ließe und was das Ministerium dazu beitragen könne.

CDU: Zahl der illegalen Migranten muss gesenkt werden

Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Tino Sorge, sagte CORRECTIV: Die Recherche zeige, dass Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen längst seine Belastungsgrenze erreicht habe – seit geraumer Zeit auch im Gesundheitswesen. Auch Sorge findet, dass die Screenings in den Erstaufnahmeeinrichtungen gestärkt werden müssten, um psychisch Kranke zu identifizieren – auch mit Blick auf „Sicherheitsrisiken, die schon mehrfach zu Gewalttaten geführt haben“.

Eine Konsequenz müsse aus seiner Sicht sein: Unabhängig von mehr Screenings müsse „die insgesamt viel zu hohe Zahl illegaler Migranten mit aller Kraft gesenkt werden. Unsere Gesundheits- und Sozialsysteme werden sonst kollabieren.“

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