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Erst Heinsberg, jetzt Tönnies im Kreis Gütersloh: NRW lässt Kommunen allein

Ein internes Arbeitspapier belegt nach CORRECTIV-Recherchen, dass die Gesundheitsminister in NRW seit 2015 Forderungen nach einer landesweiten Koordinierung bei Gesundheits-Krisen ignorieren. Die Kommunen sind überfordert. In Gütersloh brach der Leiter des örtlichen Krisenstabes gesundheitlich zusammen.

von Marcus Bensmann

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Der Ausbruch in Gütersloh zeigt erneut, dass in NRW eine zentrale Steuerung bei der Pandemie-Bekämpfung fehlt. picture alliance/David Inderlied/dpa

In dem Buch „Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens“, das am 19.06. erschienen ist, beschreibt CORRECTIV auch, wie das Land NRW auf interne Warnungen nicht reagierte. Im Fall Gütersloh werden die Versäumnisse aktuell deutlich.

Anfang der Woche konnte der Leiter des Krisenstabs im Kreis Gütersloh nicht mehr. Thomas Kuhlbusch ist für den Fachbereich Gesundheit, Ordnung und Recht zuständig. Seit dem Ausbruch der Coronakrise leitet der kommunale Beamte den örtlichen Krisenstab. Der erneute Coronaausbruch in den Fleischbetrieben von Tönnies war dann wohl zu viel.

Als der erneute Lockdown im Kreis Gütersloh verkündete wurde, brach der Leiter des Krisenstabes zusammen. „Herr Kuhlbusch ist krank“, meldete die Pressestelle des Kreises. Der Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet (CDU), sagte, der Fall zeige auch die große Last, die auf den Behörden im Kreis liege.

Mit seiner Aussage hat Laschet mehr recht als ihm vielleicht bewusst ist. Der Kreis Gütersloh steht mit der operativen Bekämpfung des Ausbruchs mehr oder weniger alleine da.

Schon 2017 hatte CORRECTIV recherchiert, dass NRW über Jahre Forderungen von Experten nach zentralen Strukturen für eine Seuchen-Bekämpfung ignoriert hat, der die Kommunen entlasten könnte. Sowohl die ehemalige Gesundheitsministerin der Grünen, Barbara Steffens, als auch der derzeitige Amtsinhaber Karl-Josef Laumann (CDU) wußten Bescheid, dass das Land NRW für den Fall einer Pandemie nicht gewappnet war. Beide setzten konkrete Vorschläge für eine zentrale Koordinierung des Infektionsschutzes in NRW nicht um.

Dem Gesundheitsministerium in NRW ist spätestens seit 2015 bekannt, dass dem Bundesland bei der Bekämpfung von Infektionsausbrüchen „überregionale zentrale operative Strukturen mit Entscheidungskompetenz auf Landesebene“ fehlten. So steht es einem internen Arbeitspapier „Infektionsschutz in NRW“, das CORRECTIV vorliegt. Es wurde im Auftrag des Landesministeriums im Jahr 2015 erstellt.

Allein in der Krise

Das bevölkerungsreichste Bundesland verfügt zwar über ein „Landeszentrum Gesundheit“ (LZG), das dem Gesundheitsministerium untersteht. Aber das hat nach Recherchen von CORRECTIV in der Krise keine „Steuerfunktion“, wie der Sprecher des LZG gegenüber CORRECTIV im März bestätigte. Das unterscheidet es von Gesundheitszentren anderer Bundesländer, etwa Bayern: „Das Bayerische Landesamt für Gesundheit ist die zentrale Fachbehörde des Freistaats Bayern für das Thema Gesundheit, es erarbeitet Infektionsschutzmaßnahmen und Strategien und berät die vor Ort zuständigen Gesundheitsämter im Rahmen des Corona-Ausbruchsgeschehens“, so der Sprecher des bayerischen Umweltministeriums.

Das Landeszentrum in NRW ist dagegen nicht in der Lage, eine operative Rolle bei der Bekämpfung auch des erneuten Corona-Ausbruches im Kreis Gütersloh zu übernehmen. Wie schon bei dem Corona-Ausbruch in Heinsberg zu Anfang der Krise bleiben die Kommunen in NRW alleine. Der Landrat von Heinsberg, Stephan Pusch, sah sich gezwungen, sogar China um Hilfe in der Coronakrise zu bitten.

Auf Anfrage von CORRECTIV  bestätigt auch das Gesundheitsministerium die fehlende zentrale Steuerung. Das Zentrum habe keine leitende Funktion, „weil dem LZG.NRW keine Steuerungsfunktion zugewiesen ist“, es habe „vielmehr als fachliche Leitstelle beratende und unterstützende Aufgaben“. Weiter heißt es, dass „die Bewältigung von Ausbrüchen (…) grundsätzlich in Verantwortung des betroffenen Kreises bzw. der Bezirksregierungen“ erfolge. Genau das hatte ein Arbeitspapier für das Ministerium 2015 als unzureichend angesehen.

Kein Interesse an Koordinierung

Die Geschichte des Versäumnisses beginnt 2013. Der Anstoß für eine landesweite zentrale Koordinierung für einen Infektionsausbruch kam von den Gesundheitsamtsleitern in NRW, darunter unter anderem auch Anne Bunte, damals Leiterin des Gesundheitsamtes in Köln, jetzt ausgerechnet in Gütersloh. Schon 2013 waren die Kommunen bei Infektionsausbrüchen auf sich gestellt.

Ein Beispiel: Im August 2013 brach in Warstein im Kreis Soest die Legionellen-Krankheit aus. Von dem Landeszentrum Gesundheit gab es „keine Labor- und wissenschaftliche Expertise“. Die Kommune habe selbst mit dem Problem fertig werden müssen, sagte der damalige Leiter des dortigen Gesundheitsamtes gegenüber CORRECTIV 2017.

„Wir haben 2000 in Nordrhein-Westfalen ein Gesetz zum öffentlichen Gesundheitsdienst bekommen, das die kompletten Aufgaben kommunalisiert hat“, sagt Anne Bunte. Man sei damals davon davon ausgegangen, dass die Infektionskrankheiten keine Rolle mehr spielten. Wichtiger sei der Kampf gegen den Bluthochdruck gewesen. „Dann kamen SARS, die Vogelgrippe, die Schweinegrippe und das waren die Gründe, warum wir 2013 mit der Vorbereitung zum Arbeitspapier gestartet sind“, sagt die Ärztin.

Unter der Leitung von Martin Exner, Direktor des Institutes für Hygiene und Öffentliche Gesundheit und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), gründeten die Verantwortlichen in den Gesundheitsämtern und den Ärzteverbänden in NRW eine Arbeitsgruppe und legten die Ergebnisse zum „Infekionsschutz in Nordrhein-Westfalen“ im Dezember 2015 der damaligen Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) vor. Die Anregenung kam aus den Kommunen und der Ärzteschaft, das Ministerium hat daraufhin die Arbeitsgruppe eingerichtet.

Die wichtigste Forderung der Arbeitsgruppe war, eine zentrale Koordinierung einzurichten: „Das Management außergewöhnlicher Infektionsereignisse von überregionaler Bedeutung (z. B. Pandemie) erfordert zentrale operative Strukturen mit Entscheidungskompetenz auf Landesebene“.

Doch genau diese gibt es in NRW bis heute nicht. Der Sprecher des Gesundheitsministeriums schreibt dazu: „Vertreter des LZG nehmen in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Verteilung beratend an Krisensitzungen teil und unterstützen bei der Klärung von übergeordneten Fragen und Problemstellungen.“ Die Autorinnen des Papiers hielten allerdings 2015 ausdrücklich fest: „Der Rückzug auf die reine Beratungsfunktion hat sich in der Vergangenheit als nicht hilfreich erwiesen.“

Vorschläge für die Schublade

Die Forderungen der Arbeitsgruppe waren konkret. NRW hat fünf Regierungsbezirke und 54 Gesundheitsämter. In jedem der Regierungsbezirke sollte demnach ein Institut oder eine Universität zur zentralen Stelle ausgebaut werden, die im Ausbruchsfall den Kommunen dann „operativ“ zur Seite steht. Zudem sollten diese „Spezialkompetenzen“ unter anderem auch für „Coronaviren“ bilden. So stand es schon vor fünf Jahren in dem Papier. Kostenpunkt für diese Reform: 1,5 Millionen Euro im Jahr.

NRW verfügt zwar an den Standorten Bochum und Münster über ein Landeszentrum Gesundheit, aber die sind nur beratend tätig. Andere Bundesländer hätten eine Institution mit operativer Steuerungsfunktion, wie in Hessen das Kompetenzzentrum für lebensbedrohliche Erkrankungen, heißt es in der Studie.

Zudem kritisierten die Autoren der Studie, dass NRW im Gegensatz zu anderen Bundesländern über keine eigene Laborkapazitäten verfüge, aber ohne diese „können die Aufgaben zur Sicherstellung des Infektionsschutzes nicht erfüllt werden.“

Das Papier von 2015 liest sich wie eine Handlungsanweisung für den Krisenfall, der fünf Jahre später das Land erschütterte.

Doch die Vorschläge blieben in der Schublade. Die Gesundheitsministerin Steffens (Grüne) zeigte öffentlichkeitswirksam eher Interesse an der Homöopathie. „Ich bin überzeugt davon, dass es wirkt“, sagte Steffens 2013 in einem TV-Interview. Dort gab sie sich auch gegenüber Naturwissenschaftlern skeptisch: „Ich finde es anmaßend, wenn irgendwer meint, dass man naturwissenschaftlich den Menschen Krankheitsprozess und Genesungsprozesse mal eben so einfach erklären könnte“. Steffens, die nun die Landeszentrale der Techniker Krankenkasse leitet, hat auf Anfragen von CORRECTIV nicht geantwortet. Professor Martin Exner sagte 2017 über das Treffen mit der damaligen Ministerin gegenüber CORRECTIV: „Offenbar ist es uns nicht gelungen, dass die Bedeutung klar geworden ist“.

Lästern in internen Emails

Nach der Abwahl der rot-grünen Landesregierung interessierte sich auch der neue Minister für Gesundheit, Karl-Josef Laumann (CDU), nicht für den Infektionsschutz.Die Enttäuschung in den Gesundheitsämtern über die Arbeitsweise des Landeszentrums Gesundheit zeigt ein interner Email-Verlauf während der Coronakrise, der CORRECTIV vorliegt. Als das LZG am 16.03. „aktuelle Information zur Krankheit Coronavirus Disease-19 (COVID-19)“ per verschickte, waren diese Informationen wohl nicht aktuell. Die Email liegt CORRECTIV vor.

Ein Empfänger lästert, ob sich das LZG schon „unter Quarantäne“ befinde, „da schon lange keine Infos mehr“ ankämen. Die Dokumente des Robert-Koch-Institutes und die Erlasse würden die Gesundheitsämter über „die üblichen Kanäle“ erhalten. Das LZG wurde aufgefordert „seiner Steuerungsfunktion“ nachzukommen und eine „einheitliche Vorgehensweise“ vorzuschlagen, das „bloße Weiterleiten von RKI-Dokumenten ist in dieser Situation nicht zielführend“, heißt es in der Antwortmail an das LZG.

Hilferuf an andere Ämter

Das Gesundheitsministerium weist darauf hin, dass es Unterstützung gebe. Das LZG sei „mit bis zu zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlichen fachlichen Hintergrundes vor Ort vertreten“, schreibt ein Sprecher des Ministeriums.

So wirksam ist die bisher geleistete Unterstützung nicht, denn die zuständige Bezirksregierung schickte, wie es aus Kreisen der kommunalen Gesundheitsbehörden gegenüber CORRECTIV heißt, einen verzweifelten Hilferuf an die anderen Kommunen in NRW mit der Bitte um Amtshilfe. Die Entsendung von Mitarbeitern in den Kreis Gütersloh soll in einigen Fällen gescheitert sein, da betroffene Mitarbeiter aus anderen Kommunen befürchtet hätten, nach ihrem Einsatz im Lockdown-Gebiet nicht mehr in den Urlaub fahren zu können.

Jetzt fehlt die operative Steuerung bei der Bewältigung des Corona-Ausbruches, erst in Heinsberg und nun bei Tönnies im Kreis Gütersloh.

Der Artikel wurde am 27.06.20 aktualisiert.