Gesundheit

Weißes Gold – Profite mit legalem Heroin

Das Geschäft mit Diamorphin ist extrem lukrativ. Ein Arzt aus Nordrhein-Westfalen hat mit seinen Partnern ein Business daraus gemacht. Über seine Firma können sich Schwerstsüchtige schnellstmöglich mit dem legalen Heroin versorgen. Seine Vision: Ambulanzen, die den Kick am Fließband produzieren. Einblicke in die private Medizinwirtschaft.

von Dina Bogdanski , David Schraven

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„Medizin für Körper und Seele" – so wirbt die Medikus-Gruppe für ihre Dienstleistungen. Foto: Diana Polekhina / unsplash.com

Dies ist die Geschichte eines Jungen aus dem Ruhrgebiet, die nicht konkret erzählt werden darf. Seine Betreuer sagen, es sei zu gefährlich für ihn. Der Junge sei labil. Er könne nicht klar denken. Er könne weiter abstürzen. Der Junge ist Anfang 20. 

Wir werden hier also nicht schreiben, wo der Junge wohnt, wie es seiner Familie geht, was er fühlt, hofft oder spürt. Wir werden ihn nicht begleiten, nicht zeigen, wo er isst, schläft oder wacht. Wir haben uns entschieden, all diese Details aus seinem Leben nicht zu berichten, sondern nur auf die wesentlichen Fakten einzugehen, die wir aus Akten kennen. Diese Fakten beschreiben beispielhaft ein Problem für die Gesellschaft.  

Der Junge aus dem Ruhrgebiet ist in seiner Jugend schon am Ende. Heroinabhängig. Er kann kaum verständlich sprechen, seine Stimme ist verwaschen. Seine Zukunft sieht düster aus. Dabei hat er nur mit Benzos experimentieren wollen. Das sind Medikamente, die als Schlaf-, Beruhigungs- oder Schmerzmittel eingesetzt werden*. Benzos machen sehr schnell süchtig. Dann kam Heroin dazu. Er hat es geraucht. Aber es gab einen Hoffnungsschimmer. Der Junge kam in eine Behandlung mit Suchtersatzstoffen. Er war motiviert, die Behandlung weiterzuführen. Er hörte auf, Benzos zu nehmen. War mehr oder weniger stabil.

Doch dann waren die Drogen schließlich stärker als er. Der Junge hatte einen Rückfall. Er kam in die Behandlung einer Firma, die Heroin auf Rezept an Schwerstabhängige herausgibt: die Medikus-Gruppe. In der Fachsprache der Mediziner und Pharmazeuten heißt die Droge, wenn sie von offiziellen Stellen herausgegeben wird, Diamorphin. In Deutschland ist das erlaubt: Wenn sonst keine Hoffnung mehr besteht, dürfen Ärzte Schwerstabhängige auch mit hartem Stoff versorgen, um ihr Leiden zu lindern. 

Gerade die Ärzte der Medikus-Gruppe tun das oft und verdienen damit viel Geld. 

Für den Jungen hatte die Behandlung bei Medikus Folgen: Er hörte auf, sich zu pflegen, verwahrloste, war ständig dicht. 

Die Ärztin einer Drogenhilfe berichtet, der Junge sei im Oktober 2021 von der Medikus-Gruppe behandelt worden. Er habe aus Sicht der Ärztin nicht alle Kriterien für eine Behandlung mit der harten Droge erfüllt. Laut den Angaben der Ärztin hatte er nicht regelmäßig Heroin gespritzt und war auch nicht lange genug abhängig. Die Medikus-Gruppe tritt dieser Darstellung entgegen. Die gesetzlichen Voraussetzungen seien erfüllt gewesen. Bei Aufnahme in der Praxis sei ein intravenöser Konsum des Patienten festgestellt worden. Auch habe die Abhängigkeit ausreichend lange bestanden.

Die Drogenhilfe, in der die Ärztin arbeitet, schrieb im April 2023 eine offizielle Beschwerde an die Ärztekammer Nordrhein. Sie hatte dort den Jungen zuvor betreut.

Ein einträgliches Geschäft für die Firma Medikus

Damit ist dies auch die Geschichte der Medikus-Gruppe. Das Unternehmen hat das Ziel, Gewinne zu machen – unter anderem mit dem Verschreiben von harten Drogen. Die Gruppe wächst stetig und eröffnet neue Standorte. Das Unternehmen steht unter Kontrolle des Mediziners Dr. Christian Plattner aus Düsseldorf. Ihm gehören Anteile, er ist Geschäftsführer und er besitzt Praxen der Gruppe. Millionen von Euro werden umgesetzt. Alles legal.

In dieser Geschichte geht es nicht nur um Schmerzmittel und Opiate und damit um Drogen, die Menschen zu Abhängigen machen können. Und auch nicht nur um die Millionenumsätze, die Privatfirmen mit diesen harten Drogen verdienen. Es geht letztendlich um eine Opiatwelle die nahezu unbemerkt über Deutschland hereinbricht und immer mehr Jugendliche und Erwachsene aus der Mitte der Gesellschaft verschlingt. 

Und es geht um die Frage, ob die Medikus-Gruppe und andere ähnliche Firmen mit ihrem Geschäftsmodell zu dieser Opiatwelle beitragen. 

Es muss nicht diskutiert werden, ob die Behandlung mit Ersatzdrogen bei Schwerstsüchtigen sinnvoll ist. Das ist lange bewiesen.

Wie es zur Behandlung mit Ersatzdrogen in Deutschland kam

1973 startete in Deutschland das erste Substitutionsprogramm mit L-Polamidon im Off Label Use. Das hört sich kompliziert an. Damit ist gemeint, dass Schwerstabhängige zum ersten Mal ein Opiat auf Rezept bekommen konnten. Damit sollte ihr Heroin-Konsum ersetzt werden, damit sie frei von Beschaffungskriminalität und Elend leben konnten.

L-Polamidon wurde damals allerdings nicht zur Behandlung einer Sucht zugelassen, sondern als Schmerzmittel. Also wurde das Medikament außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete verwendet. Statt Schmerzen wurde L-Polamidon zur Betreuung einer Sucht eingesetzt. Das war eine rechtliche Grauzone: nicht wirklich legal, aber geduldet.

Als dann Mitte der 80er Jahre immer mehr Menschen an Aids erkrankten, unter anderem weil Heroinsüchtige sich dreckige Nadeln teilten, wuchs das Interesse an einer Suchttherapie, die wenigstens das Leben der Junkies retten konnte. Und gleichzeitig die Ausbreitung von Aids eindämmte. 1991 legalisierte der Bundesgerichtshof schließlich die Substitutionsbehandlung in Deutschland. Seither können Opiaten auf Rezept verschrieben werden, damit Süchtige aus der Kriminalität wegkommen können. Das heute gängige Methadon wurde eingeführt. Davor durfte es nur bei lebensbedrohlichen Entzugserscheinungen und heftigen Schmerzzuständen verschrieben werden.

Danach ging es weiter. Immer mehr Suchtärzte fragten sich, warum nicht auch reines Heroin auf Rezept abgegeben werden darf, wenn die Abhängigen sowieso verloren sind – so könnte wenigstens ihr Leid gemindert werden. Die Bundesregierung reagierte. 1999 schrieb sie ein dreijähriges Modellprojekt aus, bei dem die Nutzung von Diamorphin, das ist der Handelsname von reinem Heroin, zur Behandlung Opiatabhängiger geprüft werden sollte.

Aber auch Heroin vom Arzt – das soll funktionieren? Im Juni 2007 endete ein Modellprojekt, das die Bundesregierung zu dieser Frage beauftragt hatte. Tatsächlich konnten in der Praxis viele positive Veränderungen festgestellt werden: Der Konsum ging zurück, die Gesundheit der Betroffenen wurde stabiler. Dazu ergab eine Auswertung der Polizeidaten, dass es weniger Drogenkriminalität gab. „Der bestimmende Einflussfaktor auf eine gelungene soziale Integration nach vier Jahren Diamorphinbehandlung ist die Arbeitsfähigkeit“, lautete das Fazit des Abschlussberichts der Studie.

Im Abschluss der Heroinstudie steht auch: „Die Diamorphinbehandlung erweist sich (…) als ausgesprochen erfolgreiche Therapie schwerstabhängiger Heroinkonsumenten“. Im Juli 2009 folgte dann das Gesetz zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung schwerstkranker Opiatabhängiger.

Ein sinnvoller, nachvollziehbarer Schritt. 

Bilder aus der Diamorphinausgabe
Die Ausgabe des legalen Heroins ist klinisch nüchtern in den Praxen der Medikus-Gruppe

Aber was damals wenige abschätzen konnten: Seither wurden immer weitere Bereiche der Krankenversorgung privatisiert. Aus der Gesundheitsfürsorge wurde eine Industrie. Während noch im Jahr 2000 rund 215 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben wurden, waren es 2021 schon über 470 Milliarden Euro. Mittlerweile werden laut statistischem Bundesamt immer mehr der rund 1900 Kliniken in Deutschland mit Gewinnabsicht betrieben anstatt nur, um Kosten zu decken. Die Zahl der Privatkliniken hat sich damit seit Anfang der 2000er von knapp 500 Häusern auf mehr als 750 erhöht. 

Und damit kommen wir zurück zur Medikus-Gruppe. 

Legales Heroin neben der Bäckerei

Ortsbesuch in Dortmund-Unna. Hier gibt es das legale Heroin zwischen einem Küchenstudio und einer Bäckerei auf Rezept in einer Praxis der Medikus-Gruppe. Direkt davor liegt eine Bushaltestelle. Hier kommen die Süchtigen an. Viele haben bereits am Morgen eine Flasche Bier in der Hand. Es riecht nach Tabak. 

Und dann kommt Karl. Er ist dreiundsechzig Jahre alt, eigentlich heißt er anders. In der Hand hält er eine Flasche Eierlikör. Er komme jeden Tag hierher, sagt er. Sein Busticket habe ihm Medikus vermittelt. Er sagt, es helfe ihm, hierher zu kommen. Auf den Alkohol nebenbei möchte er nicht verzichten. Es sei ein Lebensstil, neben der Substitution auch zu trinken, sagt Karl. 

Er wirkt wie in Watte gepackt, sorgenlos. Seine Kleidung hat Flecken. Er zündet sich eine Zigarette an und nimmt noch einen Schluck Eierlikör. Mit den anderen Medikus-Patienten redet er wie mit Kumpeln: Er bietet einer Frau, die an der gegenüberliegenden Bushaltestelle steht, einen Schluck aus seiner Flasche an. Ein anderer Mann zeigt eine ganze Jackentasche voller Medikamente. Die Tabletten-Hüllen blitzen auf. Es raschelt. 

Die Medikus-Gruppe wurde von Christian Plattner seit 2016 aufgebaut. Sie betreibt mittlerweile mindestens vier Standorte – und will nach eigenen Angaben neue öffnen. Für die Süchtigen gibt es Kaffee und Tischkicker und eine Beratung, wie sie an ein Busticket-Ticket kommen, das vom Jobcenter zur Verfügung gestellt werden muss. Patienten können sich per Telefon anmelden.  Bei Erfüllung der Aufnahmekriterien ist ein Behandlungsbeginn in der Regel noch am selben Tag möglich. 

Die Medikus-Gruppe wirbt auf ihrer Internetseite „Nach dem Motto ‘Herz, Mut und Verstand für die Sucht’ haben sich die ÄrztInnen und die weiteren MitarbeiterInnen der Medikus Gruppe (…) der dringend benötigten Ausweitung der Diamorphinbehandlung (…) sowie dem Abbau der rechtlichen Hürden der Diamorphinvergabe verschrieben.“

Was auf der Internetseite nicht steht: Eigentlich gibt es Regeln, die das Geschäftsmodell von Medikus verhindern sollen: mit Heroin Millionen verdienen. 

Damit soll eine Opioidkrise wie in den USA verhindert werden. Dort hatte seit den 90er Jahren der Pharmakonzern Purdue Opiate produziert und gezielt als Schmerzmittel über Ärzte vermarktet. Vor allem Oxycodon sollte verkauft werden. Purdue nannte seine Tabletten Oxycontin. Das sollte angeblich nicht gefährlich sein. Das Suchtpotenzial wäre gering. Immer mehr Menschen wurden abhängig. Sie stiegen auf Heroin um oder blieben bei Oxycodon. Der Konzern Purdue und seine Eigentümer, die Familie Sackler, wussten, was sie taten. 

Hundertausende wurden abhängig. Ganze Dörfer und Landstriche geritten in die Fänge der Sucht. Mittlerweile stirbt in den USA alle fünf Minuten ein Mensch an einer Überdosis Drogen. 2021 waren das insgesamt 106.699 Menschen. Das besondere dabei: Vor ihrem Tod können die Menschen jahrelang abhängig sein, und immer neue illegale und legale Drogen kaufen und damit das Geschäft anheizen. Die größte Sterberate gibt es bei den Menschen zwischen 35 und 44 Jahren. 

Die Verantwortlichen der Familie Sackler, die hinter dem Konzern steht, wurden mittlerweile zu über sechs Milliarden Dollar Strafzahlung in einem Vergleich verurteilt. Weitere Prozesse laufen. Ihr Konzern Purdue ist Pleite.

Kann so etwas auch in Deutschland passieren? Davor zumindest warnt der Anästhesiologe Christoph Stein in einem Nachwort zum Standardwerk über US-Krise mit dem Namen „Dopesick“: Die Datenlage deute darauf hin, „dass der Verbrauch sowie der Missbrauch von Opioiden in den USA, Europa und anderen Regionen mittlerweile in einem vergleichbaren Ausmaß stattfindet“. 

Strenge Voraussetzungen für Behandlung in Deutschland

In Deutschland ist die legale Vergabe von Heroin im Grunde streng geregelt. Um eine Behandlung mit Diamorphin in Anspruch nehmen zu können, müssen laut Gesetz bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden.

Die behandelnden Ärzte müssen eine besondere Qualifikation vorweisen oder im Rahmen des Modellprojekts „Heroingestützte Behandlung Opioidabhängiger“ sechs Monate tätig gewesen sein.

Dazu müssen die Patienten bestimmte Kriterien erfüllen. Sie müssen mindestens fünf Jahre von Heroin abhängig sein. Sie müssen überwiegend Heroin in Venen gespritzt haben. Sie müssen mindestens zwei Behandlungen abgebrochen haben. Und sie müssen älter als 23 Jahre sein.

Und damit sind wir wieder beim Jungen vom Anfang dieses Textes. Ob er zum Zeitpunkt der Aufnahme bei der Medikus alle Kriterien erfüllt hat, wird von den Ärzten unterschiedlich beantwortet. Die behandelnde Ärztin der Suchthilfeeinrichtung verneint dies. Er habe vor der Heroin-Behandlung nicht regelmäßig  gespritzt. Bei den anderen Kriterien läge er aus unserer Sicht in einer Grauzone. Er war gerade erst 23 Jahre alt geworden. Behandlungen habe er nicht wirklich mehrfach abgebrochen. Er stand noch im Kontakt zu seiner behandelnden Ärztin bei der Drogenhilfe Essen, die ihm von einer Ersatzbehandlung mit legalem Heroin abgeraten hatte. Genauso wie es die betreuenden Sozialarbeiter der Drogenhilfe getan hatten. Die Medikus-Gruppe hingegen bestreitet, dass es bei der Behandlung des Jungen Verstöße gegen das Gesetz gegeben habe. Sowohl habe er lange genug Heroin konsumiert als auch dies intravenös getan, wie die Gesetze dies vorsehen. Ferner habe der Patient laut Drogenanamnese des Aufnahmebefunds vor dem Beginn der Behandlung durch die Medikus-Gruppe drei Substitutionsbehandlungen und vier bis fünf Entgiftungen erfolglos beendet.

Methadon kostet im Sommer 2023 bundesweit pro Dosis in der Praxis 5,29 Euro. An Wochenenden und Feiertagen gibt es einen Zuschlag von 11,61 Euro. Methadon kann zweimal in der Woche abgerechnet werden.

Im Monat kann ein Arzt so pro Patient, der in der Praxis Methadon bekommt, zwischen 60 und 120 Euro für die Droge abrechnen.  

Dann gibt es aber das Diamorphin, also das legale Heroin. Das bringt dem Arzt pro Tag 38,04 Euro. An Wochenenden und Feiertagen gibt es einen Zuschlag von 23,33 Euro. So steht es in den einheitlichen Bewertungsmaßstäben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die für alle Ärzte in Deutschland gelten. Und: ein Süchtiger braucht jeden Tag Heroin, nicht nur zweimal die Woche. So setzt ein Arzt mit einem Diamorphin-Patienten im Monat durchschnittlich rund 1200 Euro um, denn der Süchtige kommt ziemlich zuverlässig zweimal am Tag, jeden Tag im Monat.

Mit reinem Heroin verdient man also etwa zehnmal so viel wie mit der Vergabe von Methadon.

Die Kosten trägt die Allgemeinheit über die Krankenkassen.

Jedes Jahr veröffentlicht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen Bericht, in dem es offenlegt, wie viele Menschen mit legalem Heroin behandelt werden. Im Jahr 2022 waren das im ersten Halbjahr demnach bundesweit 1.447 Menschen. Und es werden immer mehr, wie das Institut mitteilt. Seit das Diamorphingesetz im Jahr 2009 in Kraft trat, steigt die Zahl der Menschen, die legales Heroin bekommen. Im Jahr 2012 wurden nur rund 300 Menschen mit Heroin auf Rezept behandelt. 

Der Markt ist riesig. In Deutschland gibt es zwischen 56.000 und 164.000 Heroinabhängige, schätzen Experten des Bundesgesundheitsministeriums. Tausende davon kommen für die Diamorphin-Behandlung in Frage, wenn man nur will.  Der Chef der Medikus-Gruppe, Plattner, sagt, etwa 15 bis 20 Prozent der Süchtigen seien „geeignet“. Nach seiner Aussage wären das rund 15.000 Personen. 

Von den „Geeigneten“ könnte jeder – wie oben berechnet – für 1.200 Euro im Monat legales Heroin auf Kosten der Krankenkasse konsumieren. Das sind rund 18 Millionen Euro – im Monat, wenn man die geeigneten Personen zu Grunde legt, mit denen Plattner rechnet. Dazu die weiteren Behandlungen, mit süchtig machenden Benzos oder weiteren Ersatzmedikamenten. Ein großes Business. 

Gestorben sind an Morphinen laut Bundesbeauftragten für Drogenfragen im vergangenen Jahr übrigens 749 Menschen. Das ist die höchste Zahl aller Drogentoten. Die Zahlen sind in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich gestiegen. Der Begriff Morphin wird in der Wissenschaftskommunikation in Deutschland nahezu deckungsgleich mit Heroin benutzt.  

Die Medikus-Gruppe schreibt, dass sie sich für die „dringend benötigte Ausweitung der Diamorphinbehandlung“ einsetzt. Ihr Kopf Christian Plattner ist seit 2016 in NRW aktiv. 

Wir wollten vom Bundesinstitut für Arzneimittel wissen, wie sich die Zahlen in NRW seit 2010 entwickeln. 

Das Institut verweigert die Auskunft. Aus „Datenschutzgründen“. Die Zahl der Heroinsüchtigen, die in NRW legalen Stoff kriegen, soll geheim gehalten werden, obwohl man aus diesen statistischen Angaben nur herauslesen kann, ob es mehr oder weniger Patienten gibt, die legales Heroin bekommen. Ob mehr oder weniger Geld mit legalem Heroin verdient wird.   

Es geht um Patienten, wie den Jungen, der laut seiner Ärztin nicht zu Medikus hätte gehen sollen. Er ist vor einiger Zeit in Köln aufgetaucht. Er berichtet nun von depressiven Phasen, und dass er keine Arbeit hat. Er ist auf einer schiefen Ebene und rutscht immer weiter ab. Er sagt, er habe Diamorphin auf Rezept bekommen. 

In NRW, dort, wo der Junge behandelt wurde, wächst das Geschäft der Ärzte besonders schnell. Allein im Jahr 2020 eröffnete Medikus Standorte in Wuppertal und Unna, 2022 in Iserlohn. Nach eigenen Angaben sind weitere geplant, in Dortmund, in Essen.

CORRECTIV liegt eine aktuelle Bilanz einer Gesellschaft aus dem Komplex der Gruppe vor. Demnach konnte die MVZ MEDIKUS UNNA GmbH alleine um Dortmund herum ihre Bilanzsumme innerhalb eines Jahres nahezu verdreifachen: von knapp 1,3 auf 3,3 Millionen Euro. Der Gewinn lag nach Abzug aller Kosten, Mieten, Gehälter und Steuern bei über einer halben Million Euro. 

Die Bilanzen der anderen Standorte der Gruppe müssen nicht offengelegt werden, da Plattner die Filialen seiner legalen Heroin-Verkaufsstellen als überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft (ÜBAG), also als Gemeinschaftspraxis, ausweist. 

Man kann also nur ahnen, dass es sich lohnt, dass aus legalem Heroin in NRW ein Millionengeschäft geworden ist. 

Um die Zahlen genauer zu verstehen, haben wir das Bundesinstitut für Arzneimittel auf Auskunft verklagt. Wir wollen wissen, mit wie vielen Suchtpatienten in NRW Geld gemacht wird. Weil jeder Patient im Jahr rechnerisch rund 15.000 Euro einbringt, alleine mit dem legalen Heroin. Dazu kommen weitere Behandlungen, die abgerechnet werden können.

„Ein Pflaster auf der Seele”

Die Praxen der Medikus-Gruppe sind modern eingerichtet. Gruppenchef Plattner kann sich Werbefilme auf YouTube leisten, um mehr Patienten zu finden. Er expandiert, will neue Praxen eröffnen, neue Süchtige finden. In seiner Werbung schreibt Plattner über die Wirkung von Heroin aus Patientensicht: „Der liebe Gott nimmt mich in den Arm“, „Endlich satt“, „So kann ich weiterleben“, „Ein Pflaster auf der Seele“. 

Auch die Nebenwirkungen von Heroin beschreibt der Arzt. Es ist eine Ansammlung von Fremdwörtern: „Obstipation, Zyklusstörung, Oligomenorrhoe, Übelkeit, emetische Sofortreaktion, Sedation, Pruritus, Urtikaria, Quincke-Ödem, Epileptiforme Anfälle, Thrombozytopenie, orthostatischer Kollaps, Arrhythmie, etc….”

Wie gesagt, das Ziel der Medikus-Gruppe ist es, mit „Herz, Mut und Verstand für die Sucht“ die Diamorphinbehandlung auszuweiten.   

Der Junge sagt, er habe von Medikus regelmäßig Heroin und L-Polamidon als Ersatzstoff für das Straßenheroin bekommen. Dazu nochmal ein starkes Schmerzmittel, um den Entzug in der Nacht zu überstehen. Diazepam, ein Benzo, das stark abhängig macht.

In den Akten der oben beschriebenen Beschwerde gegen die Medikus-Gruppe heißt es, die Medikus-Mediziner hätte nie den Kontakt zu der verantwortlichen Ärztin der Essener Drogenhilfe gesucht, die den Jungen zuvor behandelt hatte. Es habe keinen Austausch, kein echtes Interesse an dem vorherigen Zustand des Jungen aus ihrer Sicht gegeben. Die Medikus-Gruppe dementiert dies. Aus der Dokumentation des Falls ginge ein Kontakt mit der Drogenhilfe hervor.

Eine der schönsten Praxen hat Plattner in Iserlohn im Jahr 2022 neu eröffnet. 

Von hier bis zum Hauptbahnhof sind es nur 700 Meter. Ein altes Mauerwerk einer Fabrik. Pflanzen wachsen an den Fassaden, die zum Teil mit Graffiti bemalt sind. Hohe Gebäude und ein hell leuchtendes Zimmer.

Im Erdgeschoss sitzen Sozialarbeiter. Es gibt ein Cafe. Betrieben von einer Medikus-Patientin. Einmal die Woche wird gekocht. Nebenbei wird substituiert. Eine weitere Patientin schneidet hier einmal in der Woche die Haare. Wer zahlen möchte, kann zahlen. Wer nicht, der nicht. Ein Stockwerk weiter oben werden die klassischen Substitutionsmittel wie Polamidon und Methadon am Empfangstresen herausgegeben. Die Wände und der Empfangstresen sind weiss. Eckige Büromöbel schaffen Abstand. Im Hintergrund zeichnen Wandbuchstaben den Namen der Praxis.   

Medikus Praxis in Iserlohn
Die Eingänge der Praxen der Medikus-Gruppe sind wie hier in Iserlohn modern und hochwertig.

Ganz oben, im dritten Stockwerk, stehen Menschen vor einer Tür. Sie warten auf den täglichen Schuss Heroin. Wenn die Süchtigen hereingelassen werden, gehen sie in einen Raum, der sehr hell ist. Alles ist aufgeräumt. Im Nebenraum wird das Heroin gelagert. Eine Mitarbeiterin bereitet den Ersatzstoff und die Medikamente vor und schaut dabei direkt auf den Vergaberaum.  

Darin stehen Stühle und ein kleiner Tisch. Auf jedem Tisch steht ein Abfalleimer für das benutzte Spritzbesteck. An der Wand lehnt ein großes Regal mit vielen kleinen Fächern für die Patienten. Sie sind durch Zahlen gekennzeichnet. Ein Fach pro Schicksal. In den Fächern stehen vorbereitete Nierenschalen. Damit gehen die Patienten zum Vergabe-Fenster und holen sich ihre tägliche Dosis. „Die meisten kommen einmal am Tag, kriegen Substitol und Diamorphin einzeln, aber konsumieren beides direkt nacheinander. Dann verschwinden sie in ihr eigenes Umfeld“ sagt Martina Harbrink-Schlegel, geschäftsführende Gesellschafterin des MVZ Medikus UNNA GmbH. 

Spritzraum der Medikus-Gruppe
In den Praxen der Medikus-Gruppe spritzen sich die Schwerstsüchtigen das Heroin in offenen Räumen unter Aufsicht. So sollen Komplikationen früh erkannt werden.

Warum wächst das Geschäft?

Wie kann es überhaupt sein, dass der Umgang mit legalen Heroin so profitabel ist? Wieso wächst das Geschäft ständig? Es müsste sich doch auflösen. Die Menschen sollen doch von der Sucht befreit werden. Oder zumindest müsste das Geschäft gleich groß bleiben, wenn die Menschen lernen, mit der Sucht zu leben. 

Ein Mitarbeiter der Drogenhilfe Köln sagt, genau das wäre ihr Ziel. Sie wollen, dass die Menschen ihr Leben in den Griff bekommen. „Wenn wir jemanden hier rauskriegen, machen wir drei Kreuze“. Die Drogenhilfe betreibt in Köln drei Ambulanzen. 566 Patienten werden in diesen Praxen substituiert. 69 davon mit Diamorphin. 

In Köln leben rund 1,1 Millionen Menschen. 

In Essen sieht es ähnlich aus. Hier gibt es nach Auskunft der Suchthilfe Direkt Essen gGmbH etwa 250 Patienten in ihren zwei Ambulanzen. An einer Behandlung mit Diamorphin seien etwa sechs bis acht der Patienten interessiert. Das Ziel der Suchthilfe Direkt Essen ist es, mit kirchlichen Trägern, einer Notschlafstelle und dem Gesundheitsamt ein Auffangnetz zu bilden, das nach und nach wieder die Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglicht, das die Süchtigen wieder integriert, das ihnen Arbeit verschafft und Selbstständigkeit. 

Empfangsregal der Medikus-Gruppe
In jedes Fach dieses Regals soll ein persönliches Spritzbesteck gelegt werden, für jeweils einen Schwerstabhängigen. In jedem Fach ein Schicksal.

Die Medikus-Gruppe will in Essen direkt am Hauptbahnhof möglichst bald eine Praxis eröffnen. In einem Schrank direkt am Empfang gibt es 396 Fächer, in dem 396 Süchtige ihr Spritzbesteck für den nächsten Schuss zwischenlagern können. Plattner sagt, hier sollen die Süchtigen aus der ganzen Umgebung versorgt werden. Sie können anreisen, sich in der Praxis aufhalten, dort sitzen, Tee trinken und spielen, wenn sie wollen, und sich zwischendurch ihre Schüsse setzen. Plattner sagt, die Süchtigen seien da. Sie würden nur eben im Moment nicht gesehen.   

In Essen leben rund 600.000 Menschen. Die Stadt ist etwa so groß wie Düsseldorf.

Dort ist laut Michael Harbaum von der Düsseldorfer Drogenhilfe e.V. nur eine Praxis der Medikus-Gruppe in der Diamorphinbehandlung aktiv.

Sie hat eine Art Monopol und als privatwirtschaftliche Organisation ein Interesse an einem Gewinn. Sie beschäftigt auch Sozialarbeiter und bietet die Teilnahme an psychosozialen Maßnahmen an. Die Praxis ist wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Schwerstabhängige müssen mindestens zwei Mal am Tag in die Praxis. In Düsseldorf alleine hat die Medikus nach eigenen Angaben Platz für 250 Patienten.

In Düsseldorf leben rund 630.000 Menschen.

Die Kritik am System Medikus kommt von vielen Seiten. 

Michael Harbaum von der Düsseldorfer Drogenhilfe e.V. sagt: „Monopole im Gesundheitssystem sind nie positiv.“ Die Vielfalt an Angeboten gehe verloren, Menschen könnten in die Abhängigkeit einer Praxis geraten. 

Die bestehende, gewachsene Suchthilfe werde nahezu bewusst zerstört. Plattner wolle nicht kooperieren oder jemanden neben sich haben. Die Medikus-Gruppe versucht Ärzte mit horrenden Gehältern abzuwerben“, sagt ein Geschäftsführer einer Drogenhilfe im Ruhrgebiet. Der Weg von Ersatzstoffen zu Diamorphin sei bei Plattner zu leicht. Das sei das Modell, an dem er verdiene.

Es geht auch anders: Neben der Behandlung mit einem Ersatzstoff, gibt es auch andere Möglichkeiten. Die stationäre Entgiftung oder Entwöhnung etwa. Dazu eine begleitende Sucht- oder Traumatherapie. Die suchtkranken Menschen brauchen diese Betreuung, wie uns eine Ärztin mitteilte. „Das ist die erste Beziehung, die die Patienten kennenlernen, die nicht wegläuft.“ Es müsse immer die Option für den Ausstieg eines Patienten geben. Er müsse die Chance haben, frei von der Sucht zu werden. 

Für die Medikus-Gruppe ist das nicht interessant. Die Patienten und Patientinnen sollen bleiben. Und das am besten so lange wie möglich. 

Wie konnte die Medikus-Gruppe so groß werden? 

Medikus hat eine Art Ass im Ärmel. Ihr Chef Plattner hat Kassenarztsitze. Vorausgesetzt, alles läuft so, wie es soll. 

Grundsätzlich regelt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) die medizinische Versorgung über ambulante Arztpraxen in Deutschland. Nur, wessen Praxis mit der KV einen Vertrag hat, bekommt für seine Leistungen an Patienten Geld von den gesetzlichen Krankenkassen. Diese Verträge nennt man Kassenarztsitze. Die Sitze bekommt man nicht ohne Weiteres. Wie viele solcher Sitze es in welcher Stadt gibt, wird über die bundesweite Bedarfsplanung für Arztpraxen geregelt. Diese soll dafür sorgen, dass überall in Deutschland die medizinische Versorgung gesichert ist – und gleichzeitig ist ihre Zahl begrenzt, damit die Kosten für das Gesundheitssystem nicht aus dem Ruder laufen.

Da die Bedarfsplanung über Jahre festgelegt ist, können Ärzte nur sehr selten einen neuen Vertrag abschließen. Stattdessen kaufen sie Sitze, sprich die Praxen, in denen Ärzte Verträge mit der KV haben. 

Die Sitze werden im Internet ausgeschrieben.  Es gibt Onlinebörsen. Aber auch Inserate in Arztzeitungen. Der Kaufpreis für eine Praxis kann ohne Probleme bei über hunderttausend Euro liegen. Je nachdem, wie lukrativ das Geschäft ist. 

Wer einen Sitz hat und dann legales Heroin ausgeben will, muss zudem eine Erlaubnis dafür bei der zuständigen Bezirksregierung beantragen.

Diese prüft, ob die Kriminalpolizei etwas gegen die Heroinpraxis hat, ob ein Sicherheitskonzept vorliegt und ob die Einrichtung des Arztes in das örtliche Suchthilfesystem eingebunden ist. Letzteres ist besonders wichtig, da es in Deutschland eine Hilfe für fast jede Sucht gibt. Das Angebot geht von Beratung und Begleitung bis zu Rehabilitation und Selbsthilfegruppen. Und in der Regel greifen alle ineinander. 

Trotz dieser vielen Hürden hat es Plattner geschafft, in Wuppertal, Iserlohn, Unna und Düsseldorf kassenärztliche Sitze zu erwerben und ambulante Versorgungszentren für legales Heroin aufzubauen.

Eine Erfolgsgeschichte aus Sicht des Mediziners Christian Plattner. 

Treffen mit dem Firmengründer

Wir haben ihn in Essen zu einem Gespräch getroffen. Wir sitzen in einem Büro, trinken Kaffee.

Christian Plattner erzählt, wie er auf die Idee kam, legales Heroin zu verkaufen. Er hatte seine Ausbildung bei der Bundeswehr gemacht, wollte eine allgemein medizinische Praxis in Düsseldorf übernehmen und wunderte sich, warum immer so viele Menschen vor der Ambulanz standen. Das seien Süchtige, die dort ihre Ersatzmedikamente abholen wollten, habe ihm der Besitzer der Praxis gesagt. Plattner sagt, das sei „interessant“ gewesen. Dieses Geschäft habe er schließlich mit einem Kollegen übernommen. Später kam zu den üblichen Ersatzdrogen eben auch legales Heroin. Und damit ein Push. 

Plattner Augen glänzen jetzt, wenn er von seiner Idee berichtet, Menschen mit Heroin zu helfen. Dass er Sozialarbeiter beschäftige, die den Menschen bei Behördengängen unter die Arme greifen. Dass die Medikus-Gruppe den Abhängigen helfe, kostenlosen Zugtickets zu bekommen. Dass er in seiner Praxis Wohlfühloasen schaffe, in der sich die Menschen zwischen den Schüssen aufhalten könnten. Dass die Ideologie der zwanghaften Suchtfreiheit aufhören und unsere Gesellschaft stattdessen die Sucht anerkennen müsse.

Plattner spricht von einer Zukunft, in der die Süchtigen das Heroin als Tablette bekommen sollen. Dann würde die Versorgung noch schneller laufen, mehr Leute könnten Heroin kriegen, und niemand müsse aufpassen, ob die Menschen sich eine Überdosis spritzen. Die müssten dann auch „nicht groß beobachtet werden“. Wenn die Tablette da sei, dann könne auch eine Praxis wie in Essen ausgelastet werden, wo jetzt schon die 396 Fächer für die Süchtigen bereitgehalten würden. 

Es klingt nach einer Massenabfertigung für Schwerstdrogenkranke. 

Plattner hat nichts dagegen, viele Süchtige am Fließband abzufertigen. Für die Einnahme einer Tablette brauche es nur wenige Minuten. 

Eigentlich soll die Behandlung je Arzt auf 50 Süchtige je Arzt begrenzt sein. Doch laut Plattner ist das kein Problem. „Das ist eine wachsweiche Regelung, die hat weder eine wissenschaftliche Grundlage, noch gibt es irgendwo eine Rechtsgrundlage. In anderen Bereichen der Medizin, wo Sie so Kontingentierung haben, wird schon dagegen geklagt und auch mit Erfolg.“ Das würden auch die Aufsichtsbehörden wissen und diese Regel nicht einfordern. „Warum wollen sie Behandlungskapazitäten eines Arztes begrenzen?“ Es gebe das Recht auf freie Arztwahl. Auch für Süchtige. Die Fallstricke seien immer die gleichen, ob man einen Süchtigen behandele oder 100. 

Plattner redet schnell, er ist überzeugt, dass sein Weg richtig ist. Er will wegkommen von der Philosophie, dass die Menschen von der Sucht geheilt werden könnten. Er glaubt, die Leute würden Heroin nehmen, um ein Trauma zu betäuben, das nicht bearbeitet werden könne. Menschen, die missbraucht worden seien, oder die große Qual erfahren hätten. Denen helfe Heroin. Warum sollten sie es nicht nehmen?, fragt er. „Das ist alles eine Krankengeschichte“, sagt er.

Plattner berichtet, dass die Süchtigen in seinen Praxen oft noch am selben Tag Heroin bekommen könnten, an dem sie sich das erste Mal meldeten. Aufnahme, Ausgabe, Spritzen, Abrechnen. Warum sollen sie leiden, wenn die Erlösung so nah ist? „Egal, wie sie bei uns reinkommen, sie werden behandelt.“

Plattner bestätigt, dass die Abhängigen regelmäßig als Nebenbehandlung andere Opiate wie Benzodiazepine bekommen. „Benzodiazepine machen im Körper wenig kaputt. Sie haben keine wesentlichen Nebenwirkungen.“ Die Leute wollten breit sein, nichts mehr mitbekommen. Die Kombination aus Heroin und den Benzos habe einen verstärkenden Charakter. Der Kick sei größer. Um sie mittelfristig runterzukriegen, müssten sie erstmal die anderen Drogen ebenfalls auf Rezept bekommen können, damit sie sich überhaupt in eine Behandlung begäben.

Plattner beschreibt die Wirkung von Heroin so: Es wirke wie ein Finger, der in einem unwirtlichen, düsteren, kalten Raum auf einen Schalter drückt – und schlagartig ist der Raum hell, schön, freundlich. Dummerweise geht der Finger nach sechs Stunden wieder weg vom Schalter. Der Raum wird wieder kahl, traurig, düster, feucht. Deswegen will man, dass der Finger unbedingt wieder auf den Schalter drückt. Man sucht den Finger, macht alles für ihn. Je stärker die Wirkung, umso besser. „Denen was wegzunehmen, bringt nix, dann konsumieren sie draußen weiter.“

Natürlich sei eine dezentrale Versorgung besser, aber das gehe in Deutschland nicht, wegen der vielen Auflagen, sagt Plattner. Jede Praxis braucht einen sicheren Tresorraum zur Aufbewahrung der Drogen. Der alleine sei für fast alle lokale Angebote zu aufwändig. Deswegen könne die Versorgung eben nur über die regionalen Versorgungspunkte sichergestellt werden. Drogentourismus? „Wir können uns aus Kostengründen auch nicht in jedem kleinen Dorf eine Uniklinik leisten.“

Aber es sei falsch zu glauben, dass die Versorgung mit Heroin Süchtige schaffe. Es gebe nur Patienten, die versorgt werden müssten. Gibt es mehr Autounfälle, weil es mehr Notärzte gibt, fragt er. Nein. Die Menschen, die Heroin bräuchten, müssten eben versorgt werden und das mache er. Natrürlich auch mit einem Gewinnstreben. „Jede Arztpraxis ist auch eine betriebswirtschaftliche Einheit. Sie braucht Patienten.“

Plattner sagt, dass er den Menschen die Last nehmen wolle, das Leid. 

Wie geht es nun weiter?

In Bielefeld versucht Plattner gerade Fuß zu fassen, sagt der dortige Sozialdezernent Ingo Nürnberger. Allerdings sei die Stadtverwaltung davon nicht besonders begeistert. „Der Rat wünscht ein von der Kommune verantwortetes Angebot, das auf die Suchtkranken aus Bielefeld ausgerichtet und ohne Gewinnabsichten arbeitet und eng in das städtische Suchthilfesystem eingebunden ist.“ Nürnberger sagt: „Wir wollen eine gute Versorgung für unsere Bielefelder mit Suchterkrankung und gleichzeitig darauf achten, dass die Angebote gut in das städtische Setting passen”. Die Bezirksregierung prüft derzeit Plattners Antrag.

In Essen wartet Plattner auf die Genehmigung zur Eröffnung seiner Heroin-Ambulanz. In Dortmund ist bald Eröffnung.  

Erinnern sie sich noch an die Beschwerde der Ärztin? Jener Ärztin, die sich beklagte, dass der Junge, dessen Geschichte wir hier nur auf Basis von Akten erzählen, bei ihr verwahrlost und dicht auftauchte? Der sagte, er sei bei Medikus gewesen. 

Die Ärztekammer Nordrhein teilte uns mit: Die Beschwerde sei nicht konkret genug gewesen. Also sei sie nicht verfolgt worden. 

Es liegen weitere Beschwerden bei der Ärztekammer vor. Von zweien haben wir die Aktenzeichen. Die Kammer will uns nichts zum Stand der jeweiligen Verfahren sagen.

Und hier verliert sich die Spur des Jungen, dessen Geschichte wir nicht erzählen dürfen. Wir wissen nicht, was mit ihm weiter passiert ist. Er war zuletzt irgendwo im Rheinland. Die letzte Information lautet, er sei nun auf „Jobsuche“.

Der Geschäftsführer einer Drogenhilfe aus dem Rheinland sagt: „Die Option einer Besserung oder eines Ausstiegs muss für einen Süchtigen immer möglich sein. Im Geschäftsmodell von Medikus ist dies nicht vorgesehen. Je mehr Stoff der Patient bekommt, desto mehr verdient die Gruppe daran.“

Seinen Namen will der Geschäftsführer nicht nennen. 

Wäre bekannt, wer er ist, könnte dies Konsequenzen für seine Patienten und Mitarbeiter haben, sagt er.

Wir werden in Zukunft mehr über Drogenmissbrauch in Deutschland berichten. Wenn Sie Informationen haben, sprechen Sie mit uns. Kontakt über: hinweise@correctiv.org


Update – 18. Sep. 2023: In einer früheren Version des Textes hatten wir Benzodiazepine nur als Schmerzmittel bezeichnet. Sie werden aber vor allem als Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingesetzt und nur in Ausnahmefällen als Schmerzmittel.

Update – 13. November 2023: Nach dem Erscheinen dieses Artikels über den legalen Verkauf von Heroin an Schwerstsüchtige haben einzelne Unternehmen und Personen aus der Medikus-Gruppe CORRECTIV verklagt. Der Artikel sollte zu großen Teilen verboten werden. 

Allerdings ist das angerufene Landgericht Köln der Argumentation der Medikus-Gruppe in weiten Teilen nicht gefolgt. 

Die Antragsteller aus der Medikus-Gruppe hatten ursprünglich Verbotsanträge gegen sieben Äußerungen gestellt. In der einstweiligen Verfügung werden nun lediglich zwei Punkte unseres Artikels moniert. Im Hinblick auf zwei Verdachtsäußerungen sei im Vorfeld nicht ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme hinsichtlich der Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen für die legale Heroinabgabe in einem konkreten Fall und zum Bestehen oder Nichtbestehen eines Kontakts mit einer Suchthilfeeinrichtung in demselben Fall gegeben worden.  Wir haben diese Punkte im Text nun korrigiert. Das Gericht hat alle weiteren Vorhalte zurückgewiesen. Die Medikus-Gruppe muss drei Viertel der Verfahrenskosten tragen.  Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Sowohl die Antragsteller als auch Correctiv können Rechtsmittel einlegen.

Wenn Sie Hinweise zur Medikus-Gruppe haben, gehen wir diesen gerne nach. Kontakt: david.schraven@correctiv.org