Corona CrowdProjekt

Das Virus oder Du

Gütersloh. Berlin. Göttingen. Texas. São Paulo. Jeden Tag sorgt SARS-CoV-2 für neue Schlagzeilen. Ist das schon die zweite Welle? Der Eindringling, der weltweit schon Millionen Menschen infiziert hat, ist tückisch, weil er überall lauern kann: Im Husten deines Kindes, im Handschlag deines Chefs. Sogar in der Raumluft, die dich umgibt. Doch wie genau breitet sich das Corona-Virus im Körper aus? Welcher Kampf spielt sich in den Zellen ab, wenn sich ein Mensch infiziert?

von Esther Göbel

virus

Dieser Artikel ist Teil unseres Buches Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens, das am 19.06. erschienen ist.

Das Virus ist ein Manipulator. Eigentlich sogar ein Diktator: Einmal in die Wirtszelle eingedrungen, programmiert es diese schamlos um und nutzt die vorhandene Infrastruktur für die eigene Produktion – es versklavt die Zelle.

Bis es so weit kommt, muss es allerdings einen gewissen Weg zurücklegen: Es reist über eines jener Tröpfchen, das als Transportschiff zwischen einer infizierten Person und dir dient, zunächst in den Nasen-Rachenraum und von dort über die Luftröhre tief in die Lunge. Dabei passiert es deine Schleimhaut, die die inneren Hohlräume des Körpers auskleidet. Die Luftröhre teilt sich auf Höhe des Brustbeins in die beiden Hauptbronchien, die sich wiederum in feinste Verästelungen auffächern, wie ein Baum. An den Enden der Äste sitzen dünnwandige Bläschen: die Lungenalveolen. Hier findet über ein feines Kapillarsystem der Gasaustausch statt: Sauerstoff aus der eingeatmeten Luft gelangt ins Blut, Kohlendioxid von dort in die Lungenbläschen zurück. Der frisch eingeatmete Sauerstoff gelangt in die roten Blutkörperchen und wird schließlich über das Kreislaufsystem im ganzen Körper verteilt. Vielleicht schafft das Virus schon im Rachenraum den Übergang in die Schleimhautzellen, vielleicht auch erst in der Lunge. Sie ist das Hauptreiseziel des Virus. Weil die Lunge mit einer Größe von 100 bis 140m² eine riesige Angriffsfläche bietet. Und weil hier besonders viele gut geeignete Stellen sitzen, an denen das Virus sich einschleusen kann.

Der stille Eindringling

Während es seine Reise zurücklegt, bemerkst du: nichts. Vielleicht joggst du gerade durch den Park oder hast im Supermarkt noch stolz die letzten Vorräte Toilettenpapier ergattert. Ein anderer Kunde, der vorbeiläuft, als du sechs Rollen aus dem Regal fischst, hat zweimal kurz in deine Richtung gehustet. Es fällt dir auf, aber du schiebst es beiseite. Du bist in Eile. Also stellst du dich an die Kasse, bezahlst und hast den hustenden Kunden schon vergessen.

Es geht dir gut, auch einen Tag später und den Tag darauf. Doch nach ein paar Tagen schmeckt dein Essen plötzlich seltsam fad, du riechst nicht sehr gut, bekommst Halsschmerzen. Aber weder deinen mangelnden Geschmackssinn noch deinen eingeschränkten Geruch koppelst du im Kopf mit einer möglichen Infektion. Nach etwa fünf bis sechs Tagen bekommst du Fieber, beginnst zu husten. Zu diesem Zeitpunkt hat dein Immunsystem den Kampf gegen den Eindringling schon aufgenommen. Er fährt die Betriebstemperatur hoch, damit das Immunsystem besser arbeiten kann und es für den Feind ungemütlicher wird; daher das Fieber. Es will zerstörtes Zellmaterial loswerden; daher der Husten. Doch das Virus ist einen Schritt voraus – und hat deine Zellen längst gekapert.

Völlig machtlos steht dein Körper dem Diktator nicht gegenüber. Deine Waffe heißt Immunsystem. Eigentlich hast du sogar zwei: eines, das Wissenschaftler „angeborenes Immunsystem“ nennen, und ein zweites, dass sie als „adaptives“ bezeichnen. Beide Systeme sind eng miteinander verzahnt und übernehmen unterschiedliche Aufgaben. Das angeborene Immunsystem ist evolutionär betrachtet sehr alt; es hat sich vermutlich vor 750 Millionen Jahren gebildet. Du kannst es dir wie eine dauerpatrouillierende Truppe vorstellen, die durch deinen ganzen Körper marschiert und darauf achtet, dass niemand reinkommt, der nicht reinkommen soll. Das angeborene Immunsystem funktioniert also wie ein Frühwarnsystem.

Alarm in der Zelle

Schafft es doch ein Eindringling bis in die Zelle, geht der Alarm los: So genannte Zytokine werden angeschaltet, zu denen auch Stoffe gehören, die man Interferone nennt. Sie sind wie mikroskopisch kleine Megafone, durch die der Sicherheitstrupp an die Nachbarzellen die Botschaft verbreitet: „Achtung, Achtung, bitte bereit machen, hier stimmt etwas nicht!“ Jetzt holt dein Körper seinen Notfallplan hervor: Es aktiviert eine ganze Kaskade weiterer Schritte, Fresszellen und Killerzellen beispielsweise, die es zum Ort der Infektion schickt, um die befallene Zelle zu beseitigen. Außerdem wird der Entzündungsprozess eingeleitet. Dadurch sollen erstens noch mehr Abwehrzellen an den Ort der Infektion rekrutiert werden, gleichzeitig soll die Entzündung die virusinfizierten Zellen eliminieren.

Das adaptive Immunsystem braucht länger, bis es reagiert, einige Tage. Dafür arbeitet es sehr viel spezifischer: Während das Interferon-Frühwarnsystem mit seinen Fress- und Killerzellen gegen jedes Virus Alarm schlägt, müssen die so genannten T- und B-Zellen, die in deinem Blut und in der Lymphe zirkulieren, erst heranreifen, um gegen einen spezifischen Erreger reagieren zu können. Sie erkennen ihn über sehr spezifische, dem jeweiligen Virus eigene Eiweiße, so genannte Antigene. Die T- und B-Zellen bilden daraufhin Antikörper aus, die genau auf das jeweilige Antigen reagieren. Und, das ist der größte Clou deines Immunsystems: Es bildet Gedächtniszellen aus. Sie „merken“ sich quasi das jeweilige Antigen – wenn dein Körper in Zukunft noch einmal mit diesem in Berührung kommen sollte, kann das Immunsystem sofort die nötigen Antikörper ausbilden. So entsteht Immunität.

Vielleicht gehörst du zu den circa 80 Prozent der Infizierten, bei denen das Immunsystem das Virus in den Griff bekommt. Du hast ein paar Tage Fieber, hustet ein bisschen, fühlst dich erschöpft. Aber du ruhst dich aus; im Großen und Ganzen verläuft die Sache glimpflich. Wieso COVID-19 bei dir so milde verläuft, wissen Experten bis dato nicht genau; wenn du eine Frau bist, in einem fitten Zustand, noch jung und keine starke Virusdosis abbekommen hast, stehen die Chancen gut. Oder du hast du einfach nur Glück gehabt.

Wenn das Virus stärker ist

Vielleicht hast du aber auch Pech. Vielleicht bist du ein Mann, über siebzig Jahre alt, leidest unter einer Vorerkrankung und der andere Kunde aus dem Supermarkt, der längst infiziert war, als er dich angehustet hat, hat dir eine ordentlich hohe Ladung Virus verpasst. Schon seit einigen Tagen hast du Fieber, Husten und Halsschmerzen, doch plötzlich fühlst du dich sehr viel schlechter. Vorsorglich rufst du den Krankenwagen, auch wenn du noch keine Atembeschwerden hast. Jetzt gehörst du zu den zwei bis 25 Prozent der SARS-CoV-2-Infizierten in Deutschland, die hospitalisiert werden.

Im Krankenhaus scannen die Ärzte deine Lunge. Und erschrecken: Große Teile sind bereits beschädigt. In beiden Flügeln sehen sie in der Computertumorgraphie an den Rändern deiner Lunge weiße Flächen, die wie kleine Wölkchen aussehen. Hier hat das Virus zugeschlagen, die weißen Blutkörperchen deines Immunsystems haben das Gewebe in der Lunge zerstört. Die Ärzte messen deinen Sauerstoffgehalt im Blut; unter 93 Prozent, viel zu niedrig. Und mittlerweile merkst du auch, dass etwas nicht stimmt: Du bekommst schlechter Luft, atmest schneller, erhöhst deine Atemzugfrequenz.

Das Virus hat in deiner Lunge eine Entzündung verursacht. Durch sie können die Lungenalveolen nicht mehr richtig arbeiten, jene dünnwandigen Bläschen, die am Ende deiner Bronchialverästelungen sitzen und an denen normalerweise der Gastausch stattfindet. Sie werden leck und laufen mit Flüssigkeit voll. Der Gasaustausch in den Lungenalveolen funktioniert nicht mehr so, wie er es soll, der Sauerstoffgehalt in deinem Blut fällt irgendwann unter 90 Prozent. Die behandelnde Ärztin beschließt, nachzuhelfen. Sie verlegt dich auf die Intensivstation, setzt dir eine Mund-Nasen-Maske auf, die den Sauerstoffpartialdruck in der Einatemluft erhöht. Von normalerweise 21 auf 100 Prozent. So will sie es deiner Lunge leichter machen, Sauerstoff aufzunehmen. Aber es hilft nichts; deine Lunge ist schon zu geschädigt.

Die Hölle im Körper

Der nächste Schritt heißt: Beatmungsmaschine. Deine Ärztin beschließt, du musst intubiert werden. Das heißt, sie schiebt dir einen Schlauch tief in deine Luftröhre hinein. Der Schlauch ist an eine Maschine angeschlossen, die durch Druck Sauerstoff in deine Lunge presst. Um dich zu intubieren, sediert sie dich also, du verlierst das Bewusstsein. So liegst du nun in deinem Krankenhausbett, in deinem Körper stecken Nadeln und Katheter. Maschinen rund um dein Bett überwachen dich, es piept und blinkt.

Gleichzeitig ist in deinem Körper die Hölle los. Die Sicherheitstrupps laufen wie wild durcheinander, sie schreien unterschiedliche Botschaften durch ihre Megafone – wenn das passiert, geht dein Körper durch einen so genannten Zytokin-Sturm hindurch: Das Virus hat durch einen Trick dein Interferon-Frühwarnsystem ausgeschaltet, wodurch es sich zunächst ungehemmt vermehrt hat. Nicht mehr nur in deiner Lunge. Auch in deinem Darm, in der Niere, im Herzen. Die Entzündung wird systemisch. Dadurch aber hat dein Immunsystem immer neue Signale empfangen, ausgelöst durch die Zytokin-Flutung, es feuert jetzt aus vollen Rohren, überall in deinem Körper tönen Sirenen und schreien „Notfall! Verstärkung!“ Also fährt dein Immunsystem sein Waffenarsenal weiter hoch – es überreagiert. Und greift nun deinen eigenen Körper an.

Gelangt die Infektion in die Blutbahn, entsteht das, was jeder Arzt fürchtet: eine Sepsis. Durch sie weiten sich die Blutgefäße, ihre Wände werden durchlässig. In der Folge werden deine Organe unterversorgt, die Niere, die Leber, dein Herz. Die künstliche Beatmung bedeutet zusätzlichen Stress. Weitere Komplikationen sind nicht unwahrscheinlich, dein Körper ist jetzt extrem anfällig, zusätzliche Erreger haben leichtes Spiel. Irgendwann kippt dein ganzes System; die Ärzte bekommen dein überschießendes Immunsystem nicht mehr in den Griff. Dein Kreislauf bricht zusammen, dein Herzschlag vermindert sich auf 40 Schläge pro Minute. Bis es schließlich gar nicht mehr schlägt und auf dem Monitor des EKGs nur noch eine Nulllinie zu sehen ist. Du stirbst.