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Funkstille. Corona und Schulen in NRW

Chaos zu Quarantäneregeln, Druck auf Schulleiter, unverlässliche Zahlen: Es ist vor allem die Intransparenz im Schulsystem, die zu Frust bei Lehrern und Eltern führt. Zwischen Bezirksregierungen in Nordrhein-Westfalen und Schulleitern nehmen die Spannungen zu.

von Gabriela Keller

Blick in eine Schulklasse einer Realschule in NRW nach der Wiederaufnahme des Schulbetriebs in der Coronapandemie
Blick in eine Schulklasse einer Realschule in NRW nach der Wiederaufnahme des Schulbetriebs in der Coronapandemie. Credits: picture alliance

An einem Tag Mitte November erhält der Schulleiter Norbert Jessen ein Schreiben von hoher Stelle: Seine Bezirksregierung bestellt ihn zu einem Dienstgespräch ein. Der Ton klingt streng, die Sache ist offenbar ernst: In der Einladung, die CORRECTIV vorliegt, steht: „Im Gespräch soll Ihr Verhalten gegenüber der Presse besprochen werden.“ Schulleiter haben laut Allgemeiner Dienstordnung in Nordrhein-Westfalen das Recht, selbst zu entscheiden, ob und wie sie mit Journalisten sprechen. Aber dies sind keine normalen Zeiten.

Überall in Deutschland kämpfen sich die Schulen an den Corona-Regelungen ab. Der heikle Balanceakt zwischen Regelbetrieb und Infektionsschutz wird durch unklare Regelungen im Umgang mit Corona-Fällen und ausbleibende Rückmeldungen aus den Gesundheitsämtern noch erschwert. Eltern, Lehrer und Schulleiter berichten von dauerbesetzten Rufnummern und unverständlichen Entscheidungen. 

Mehrere Lehrer, Schulleiter und Verbandsvertreter in NRW, mit denen CORRECTIV sprach, bestätigen nun, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlen, ihre Lage nicht offen zu kommunizieren. „Schule ist eine demokratische Organisation. Ein Schulleiter ist eine Vertrauensperson und sollte für Transparenz sorgen“, sagt Norbert Jessen, der Schulleiter, der zum Dienstgespräch zitiert wurde. Hier ist sein Name geändert, weil er es sich nicht erlauben kann, sich erneut zu exponieren. Zuvor hatte er mit einer Journalistin über die Corona-bedingte Personalnot an seiner Schule gesprochen. Die Vorladung wertet er als Maßregelung für kritische Aussagen. Er sagt, dass sich viele seiner Kollegen nicht mehr trauen, ehrlich Auskunft zu geben. „Wir brauchen die Öffentlichkeit, damit Druck entsteht“, sagt er. „Aber der Anpassungsdruck ist leider sehr hoch.“

„Eltern wollen nicht hören, dass Sie Zweifel haben“

In Nordrhein-Westfalen ist Yvonne Gebauer (FDP) für Schule und Bildung verantwortlich. Aus ihrem Ministerium heißt es, die Vorwürfe des politischen Drucks träfen nicht zu. Ein Sprecher weist auch die Kritik an den unklaren Quarantäne-Regelungen zurück und verweist auf das „Gesamtkonzept für den Start in einen angepassten Schulbetrieb“, auf Hygienemaßnahmen, Lüftungskonzept, Verhaltens- und Schutzregeln. Die Maßnahmen würden „je nach Entwicklung des Infektionsgeschehens fortlaufend aktualisiert“ und „ständig auf Wirksamkeit und Notwendigkeit geprüft“. Für die Schwierigkeiten der Schulen mit den chaotischen Zuständen in den Gesundheitsämtern fühlt sich das Schulministerium dagegen nicht verantwortlich: Dafür sei das Gesundheitsministerium zuständig. 

Ministerin Yvonne Gebauer  hat schon oft gesagt, sie wolle den Schülerinnen und Schülern Normalität ermöglichen. Das ist das politische Programm. Bloß ist Normalität schwer zu erreichen in einem Bundesland, wo die Zahl der Infektionen zuletzt bei  267.069 und die 7-Tage-Inzidenz mit 138 noch weit über der kritischen Marke von 50 liegt. Zum 25. November waren allein mehr als 4800 Schüler in NRW infiziert und rund 64.000 in Quarantäne. Bei den Lehrern waren knapp 700 infiziert und gut 3500 in Quarantäne. 

In den Gesundheitsämter herrscht zum Teil blankes Chaos und die Schulen verzweifeln an widersprüchlichen Anordnungen, aber das soll in der Öffentlichkeit kein Thema sein. Vor einigen Tagen kursierte in den Lokalzeitungen ein Schreiben der Bezirksregierung Münster, das diesen Eindruck stützt: Die Behörde scheint den Schulleiterinnen und Schulleitern zu empfehlen, möglichst keine klaren Auskünfte zu geben. CORRECTIV hat das Schreiben hier veröffentlicht. Darin heißt es: „In der aktuellen Phase der zweiten Corona-Welle“ nehme das Interesse der „weiteren Öffentlichkeit am Infektionsgeschehen und dem schulischen Umgang damit deutlich zu.“ Den Schulleitern wird empfohlen, sich in ihren Aussagen „auf Ihr spezifisches Handeln“ zu beschränken, denn: „Eltern, die in Sorge um ihre Kinder sind, Lokalpolitiker/innen unter Druck und nicht zuletzt Ihre Kolleg/innen wollen nicht hören, dass Sie Zweifel haben – sondern dass Ihre Schule ein sicherer Ort ist!“ 

Rückmeldungen kommen zum Teil erst nach Tagen

Wer das Schreiben alles erhalten hat, ist unklar. Das Schulministerium teilt dazu mit, es habe sich nur um ein „Merkblatt“ gehandelt; die Bezirksregierungen kommunizierten selbstständig mit den Schulen. Mit anderen Worten: Das Land habe damit nichts zu tun. Doch offenbar ist Schulleitern in mehreren Städten nahe gelegt worden, dass sie sich bedeckt halten sollen. „Das kann ich hundertprozentig bestätigen – es wird Druck ausgeübt“, sagt Harald Willert, Vorsitzender der Schulleitervereinigung NRW. „Wir wundern uns in unserem Verband, dass das so wenig hochploppt auf politischer Ebene.“

Schulleiterinnen und Schulleiter sagen, dass die Gesundheitsämter zum Teil erst nach bis zu fünf Tagen auf Meldungen von Corona-Fällen reagieren. Oft ist niemand erreichbar. Die Praxis ändert sich von Amt zu Amt, von Woche zu Woche. Oft werden die Sitznachbarn des betroffenen Kindes in Quarantäne geschickt. In anderen Fällen muss die ganze Klasse vorerst zu Hause blieben. Und in wieder anderen gar niemand.

CORRECTIV liegen mehrere E-Mails von Eltern vor, die alarmiert reagieren. Zum Beispiel schreibt eine Mutter aus Wuppertal: „In einer Klasse unserer Schule wurde nach einem Corona-Fall weder Quarantäne für die Mitschüler verhängt noch wurden Sitznachbarn verpflichtend getestet. Das Gesundheitsamt war auf Nachfrage nicht in der Lage, diese Entscheidung zu begründen.“ CORRECTIV sind weitere ähnliche Fälle bekannt. Fragt man beim Schulministerium nach, heißt es: „Über Quarantänemaßnahmen entscheiden die Gesundheitsämter auf der Grundlage der epidemiologischen Lage vor Ort.“

Viele Schulen stehen inzwischen an der Belastungsgrenze. Oft hängen die Schulleiter bei den Gesundheitsämtern in der Warteschlange fest. Niemand ruft zurück. Erst an diesem Morgen ist es wieder passiert. Es ist ein Mittwoch Ende November, Petra Heitkamp (Name geändert), Leiterin einer Grundschule in Bochum, versucht seit Stunden immer wieder, das Gesundheitsamt zu erreichen. Am Vorabend hatte sie erfahren, dass sich eine Lehrerin mit dem Coronavirus infiziert hat. Aber bei dem Amt geht keiner ans Telefon. So laufe es ständig: „Rückmeldungen kommen zu spät oder gar nicht.“ Die Schulleiterin darf keine Quarantäne anordnen, das ist Aufgabe des Gesundheitsamts. Jetzt ist es 16 Uhr. Heitkamp hat nun alle Kinder, bei denen es ihr notwendig schien, vorerst nach Hause geschickt. „Das ist eigentlich verboten“, sagt sie. „Aber wenn ich das nicht mache, kann ich morgen die Schule zu machen.“ 

Schrumpfender Sicherheitsabstand

Auch Ines Hanke (Name geändert), Leiterin einer Realschule in Bochum, kritisiert fehlende Verlässlichkeit. „Das Abartige ist, dass sich alles alle zwei, drei Wochen gravierend ändert“, sagt sie. Bisher galt zum Beispiel: Tritt Corona bei einem Schüler auf, müssen diejenigen in Quarantäne, die mit weniger als 1,50 Metern Abstand zu dem Kind saßen. Vor Kurzem hat sich der Abstand auf einen Meter verringert. Ines Hanke versteht nicht wieso. Aber je enger man die Regelungen zieht, umso weniger Quarantänisierungen müssen angeordnet werden. „Das kommt von der politischen Ebene“, so der Eindruck der Schulleiterin, „die wollen keine falschen Signale an Eltern und Öffentlichkeit geben.“

Auch getestet werde immer seltener, sagen mehrere Schulleiter. Prüfen lässt sich das nicht: Zahlen zu Tests bei Schülern und Lehrern liegen nicht vor, teilt das Gesundheitsministerium in NRW mit. 

Wie unübersichtlich die Lage für die Eltern ist, zeigt ein E-Mail-Wechsel, der CORRECTIV vorliegt. Darin wendet sich ein Vater aus Düsseldorf an die Schule seines Sohnes. Er hatte auf der Website der Stadt erfahren, dass es dort einen Corona-Fall gab. Nun fragte er bei der Direktorin nach, welche Stufe betroffen sei – und wann sie den Fall kommunizieren werde. Die Antwort: Die Klasse werde über die Elternpflegschaft „gemäß der Anordnung des Gesundheitsamtes umgehend und transparent informiert.“ Seither herrscht Funkstille.  Konkretere Informationen hat der Vater nie erhalten. 

 „Wenn man guckt: Wie läuft der Informationsfluss von den Schulen zu den Eltern – da gibt es häufig Probleme“, sagt Regine Schwarzhoff, Vize-Vorsitzende des Elternvereins NRW. Auch sie kennt Fälle, in denen Schulen ihrer Bezirksregierung angehalten wurden, der Öffentlichkeit und den Eltern möglichst keine konkreten Antworten zu geben: „Was unverständlich ist und rechtlich unzulässig ist. Die sind selbstverständlich den Eltern gegenüber in der Informationspflicht.“ Sicher gebe es Schulen, an denen die Kommunikation reibungslos laufe. Von denen höre man nichts. Wo dagegen gemauert wird, reagierten die Eltern umso ängstlicher: „Deshalb tut man sich damit keinen Gefallen. Menschen im Ungewissen zu lassen, ist immer der falsche Weg.“

Intransparenz und Verunsicherung

Bundesweit stehen die Schulen vor ähnlichen Problemen; fast überall fehlt es an Klarheit hinsichtlich der Quarantäne-Regelungen. „Das hängt auch mit den Vorgaben der Länder und der Gesundheitsämter zusammen“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Auch er hört von Fällen an Schulen, bei denen niemand außer dem Betroffenen in Quarantäne geschickt wird. „Das passiert nicht selten dort, wo der Druck aus der Politik kommt, in dem Sinne von: Wir wollen keine Alarmmeldungen haben.“ Meidinger hat beobachtet, dass die Zahl der Schüler in Quarantäne zuletzt in manchen Bundesländern abnimmt, während die Infektionszahlen allenfalls leicht rückläufig sind oder in einigen Regionen konstant bleiben oder noch ansteigen. Wie Meidiger es sieht, stecke dahinter auch politisches Kalkül: „Dann hat das Land die schöne Meldung, dass die Quarantänezahlen sinken“, sagt er.  Die Kultusministerkonferenz erhebt erst seit der zweiten Novemberwoche überhaupt Statistiken. Demnach lag die Zahl der infizierten Schülerinnen und Schüler in der Woche vom 16. bis zum 22.11 bei leicht über 20.000. In Quarantäne befanden sich knapp 200.000. Der Lehrerverband geht davon aus, dass tatsächlich bis zu 300.000 Schülern aus in Quarantäne sein könnten.  „Ich weiß sicher, dass in einigen Ländern sich nicht alle Schulen mit den tatsächlichen Zahlen erfasst wurden“, sagt Meidinger. „Das zeigt, dass der Wille zur Transparenz fehlt.“

In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Land mit 396 Kommunen, kommen erhebliche soziale Unterschiede hinzu. „Es trifft besonders die Schulbereiche, die vor der Krise benachteiligt waren“, sagt Anke Staar, Vorsitzende der Landeselternkonferenz. „Klagen über Intransparenz, fehlende Testkapazitäten und Quarantänestrategien kommen vor allem aus finanziell benachteiligten Großstädten wie Dortmund und Duisburg.“

Besonders für Eltern, die Risikogruppen angehören, ist das ein Problem. Solveig Fischer (Name geändert) hat eine Krebserkrankung hinter sich, ihr Immunsystem ist geschwächt. Wenn sie Corona kriegt, kann es lebensgefährlich werden. Sie hat drei Pflegekinder, einer der Jungen kam am Donnerstag nach den Herbstferien nach Hause. „Er sagte: Mama, ich habe schlechte Nachrichten: Ich bin in Quarantäne.“ Fischer bekam es mit der Angst zu tun. „Ich rief im Sekretariat der Schule an. Die Sekretärin war kurz angebunden. Keiner konnte mir sagen, was passiert ist.“ Es dauerte Tage, bis sie herausfand, dass der Junge bereits am Montag neben einem infizierten Mitschüler saß. Offizielle Rückmeldungen erhielt sie nicht, weder von der Schule noch vom Gesundheitsamt. Erst als sie den Druck weiter erhöhte, wurde der Junge in der Folgewoche getestet, das Ergebnis war negativ. Aber beruhigt ist sie nicht. „Es war sehr verwirrend“, sagt sie. „Ich hab fast einen Herzinfarkt gekriegt und tue mich schwer, die Kinder in die Schule zu schicken.“

„Es rumort sehr“

In dem seltsamen Schreiben der Bezirksregierung Münster an die Schulleiter zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit stehen Formulierungsvorschläge. Ein Beispiel: „Die engen Absprachen zwischen Schule, Schulträger, Gesundheitsamt und Bezirksregierung hat sich zum Schutz aller Beteiligten bewährt“ . Fragt man den Pressesprecher der Bezirksregierung nach den Gründen, reagiert er gereizt: „Ihnen ist klar, dass das ein internes Schreiben war, das nicht zur Veröffentlichung gedacht war“, sagt er. Den Vorwurf, den Schulleitern solle ein Maulkorb verpasst werden, weist er zurück. Vielmehr sei das ein Hilfsangebot gewesen: „Wer es nicht verwenden will, soll es wegwerfen.“ Und „selbstverständlich“ könnten Schulleiter selbst entscheiden, wie sie sich öffentlich äußern.

Aber so mancher Schulleiter hat einen anderen Eindruck. Inzwischen gibt es Anzeichen, dass sich die Spannungen zwischen den Schulen und den Behörden verschärfen. „Es rumort in der Schulleitungs-Landschaft sehr darüber, wie die versuchen, uns an die kurze Leine zu nehmen“, sagt Norbert Jessen, der Schulleiter, der sich im Dienstgespräch rechtfertigen musste. Gewiss ist die Intransparenz nicht allein auf möglichen Druck von oben zurückzuführen; Verbandsvertreter zählen auch teilweise schlecht organisierte Elternpflegschaften und die Angst mancher Schulen um ihren Ruf zu den Gründen. „Man hat den Eindruck, dass einige Schulleiter sehr obrigkeitsstaatlich orientiert sind“, sagt Stefan Nierfeld, Vorstandsmitglied bei der Schutzgemeinschaft angestellter Lehrerinnen und Lehrer NRW. “Aber die Belastung ist irrsinnig hoch. In den nächsten Tagen könnte die Stimmung kippen.”