Gefährliche Keime

Kein Pardon bei der Hygiene in Frankreich

von Annika Joeres

Frankreich schützt seine Patienten besser vor multiresistenten Bakterien als Deutschland: Hygiene-Experten schulen und kontrollieren nicht nur Personal, Mängel werden auch öffentlich gemacht. Jeder kann sehen, wenn es in einem Krankenhaus auffallend viele Infektionen gibt.

Unsere CORRECTIV-Reporterin Annika Joeres berichtet für uns aus dem Nachbarland.

Vor einigen Jahren lief in Frankreich eine große Werbekampagne. Zur besten Sendezeit wurden im Fernsehen hustende Menschen im Fahrstuhl oder fiebernde Kinder im Bett gezeigt. „Les antibiotiques, c’est pas automatique“, lautete der Slogan der Spots, auf deutsch „Antibiotika? Nicht automatisch“. Nicht bei jeder Angina sollten die Menschen zu Antibiotika greifen, war die Botschaft. Sie ist angekommen.

Noch vor gut einem Jahrzehnt war Frankreich besonders von den lebensgefährlichen Infektionen durch multiresistente Bakterien betroffen: Ein europaweit überdurchschnittlich hoher Konsum von Antibiotika und mangelhafte Hygiene in Krankenhäusern hatten den Keimen den Weg geebnet. Inzwischen aber hat Frankreich Deutschland bei der Bekämpfung resistenter Bakterieren eine Menge voraus. Die Zahlen für einige Bakterien wie MRSA haben sich seit 2005 halbiert, bei anderen sind sie zumindest stabil.

Die landesweite Kampagne, weniger Antibiotika zu nehmen, damit weniger resistente Bakterien in den Umlauf geraten, war dabei nur ein Baustein. Mindestens ebenso wichtig wurde der Versuch genommen, die Übertragung solcher Bakterienstämme einzudämmen. Im Krankenhausalltag ist es mühsam, resistente Bakterien zu bekämpfen. Infizierte müssen isoliert werden, Pfleger und Ärzte müssen akribisch und immer wieder ihre Hände desinfizieren. Freiwillig geschieht das in Krankenhäusern nur selten. Deshalb setzt die oberste französische Gesundheitsbehörde HAS private und öffentliche Kliniken gleichermaßen unter Druck. Einmal jährlich kommen ihre Beamten für eine Woche in jedes Krankenhaus. Sie analysieren Blut- und Urinproben der Patienten und beobachten den Alltag auf den Stationen. „Bakterien verbreiten sich epidemienhaft, wenn wir nicht systematisch gegen sie vorgehen“, sagt eine Sprecherin des Pariser Gesundheitsministeriums.

Jeder Bürger kann anschließend im Internet nachsehen, welche Note die Klinik für den Kampf gegen mulitiresistente Baktereien erhalten hat, von A wie sehr gut bis E wie mangelhaft. Scope-santé heißt das Projekt. Wenn Operationsbestecke nachlässig desinfiziert oder die Angehörigen nicht ausreichend aufgeklärt wurden, wird das dabei in langen Berichten schonungslos aufgelistet.

Solch eine unabhängige Prüfung gibt es in Deutschland nicht, hier schreiben die Kliniken ihre Qualitätsberichte selbst. Die Kontrolle darüber, wie gut Ärzte und Pfleger desinfizieren, ist freiwillig. Zwar nehmen inzwischen viele hundert Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen an dem Programm namens KISS – die Abkürzung steht für Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System – teil, gezwungen wird aber niemand. Und die Ergebnisse sind anonym. Kein deutscher Patient kann nachschauen, ob seine Klinik bei der Hygiene vorbildlich oder schlampig arbeitet.

Überwachen, schulen und schützen
In Frankreich geht die Kontrolle viel weiter. Gesonderte Hygienekomitees überwachen an jedem französischen Krankenhaus, ob Ärzten und Pflegern gefährliche Fehler unterlaufen. „Leitlinien und allgemeine Informationen helfen nicht weiter“, sagt Thierry Fosse, Leiter des Hygienestabs an den drei Unikliniken in Nizza. Sein Team besteht aus zehn Mitgliedern und überwacht, ob sich Krankenschwestern und Pfleger ausreichend desinfizieren. Es diskutiert mit dem Personal beispielsweise, ob eine Infektion auf ihrer Station hätte verhindert werden können, wenn der Katheter nur solange im Körper des Patienten geblieben wäre, wie es unbedingt nötig war.
“Manchmal ist es sehr schmerzlich für die Belegschaft, weil wir Ihnen Fehler nachweisen. Aber wir helfen auch: Unmittelbar nach den Ergebnissen des Labors geben wir genaue Anweisungen. Wir sagen ihnen beispielsweise, ob sie einen Mundschutz tragen sollen.“ Vor allem aber sind Fosse und sein Team dafür verantwortlich, alle Mitarbeiter zweimal jährlich zu schulen. „Das ist das Allerwichtigste. Selbst Ärzte, die frisch von der Universität kommen, sind häufig nachlässig bei der Hygiene.“

Das ist auch in Deutschland ein Problem. Fosse erzählt von einem deutschen Patienten, der nach einer Herzinsuffizienz nicht gesund geworden war. Seine Frau ließ ihn schließlich von Frankfurt in seine Heimatstadt Nizza verlegen. Dort diagnostizierten die Mediziner eine zweite Krankheit: Der 55-Jährige hatte sich offenbar im Frankfurter Krankenhaus mit einem multiresistenten Bakterium infiziert. „Die deutschen Dokumente waren sehr akribisch und detailliert – aber erst wir haben durch eine Urinprobe die wahre Ursache seiner Schwäche herausgefunden“, sagt Fosse. „Wir analysieren Blut und Urin unserer Patienten systematisch, um später Angehörige, Bettnachbarn und unser Personal vor einer Ansteckung zu schützen.“

Infektiologen, deren Schwerpunkt die Hygiene ist, gibt es inzwischen auch an deutschen Kliniken. Doch Experten fordern noch viel mehr. Die Infektiologen sollten in die tägliche Arbeit am Patienten integriert werden. Außerdem solle bei jeder Behandlung, bei der über den Einsatz von Antibiotika nachgedacht wird, ein entsprechend geschulter Arzt dabei sein. Antibiotic Stewardship heißt das Konzept, das zum Ziel hat, die richtigen Antibiotika zu finden und sie auch richtig einzusetzen. Denn nicht nur die Patienten müssen sensibler dafür werden, wann Antibiotika sinnvoll sind, sondern auch Ärzte.

Dreimal die Handschuhe wechseln
Wie immer, wenn es um mehr Sicherheit geht, ist die Umsetzung im Alltag nicht einfach. Die Hygienedozentin Claude Pariset bringt Krankenschwestern bei, wie sorgfältig sie bei jeder Kleinigkeit sein müssen. „Jedes Blutdruckgerät, jedes Essenstablett und jedes Handtuch eines infizierten Patienten kann die Keime weitertragen.“ Patienten müssten zum Beispiel vor und nach dem Röntgen desinfiziert werden, Verbandswagen dürften nur auf dem Flur stehen und nicht in die Zimmer geschoben werden.

Pariset erklärt eine Stunde lang, wie eine Bettpfanne sachgerecht entsorgt werden muss. Dafür sind insgesamt fünf paar Handschuhe, drei manuelle Desinfektionen der Hände und eine doppelte Säuberung des Abwasserbeckens erforderlich. Mit frischen Handschuhen soll die Bettpfanne unter dem Gesäß des Patienten hervorgezogen werden, dann müssen die Handschuhe sofort in den Müll, denn Keime der Ausscheidungen könnten an ihnen haften. Anschließend soll sich die Schwester die Hände desinfizieren, ein neues Paar Handschuhe anlegen, den Patienten wieder anziehen und richtig betten. Dann wieder die Hände desinfizieren und erneut die Handschuhe wechseln, um die Bettpfanne zum Entsorgen zu bringen. Dort geht die aufwändige Prozedur weiter. Wenn die Schwestern sagen, sie hätten dafür keine Zeit, kontert Pariset: „Es ist sehr schwer im Klinikalltag. Aber wenn ihr noch weitere Patienten ansteckt, wird euch das noch mehr überfordern.“

Kontrolle des Verbrauchs
Die französischen Kliniken belassen es nicht beim gutem Zureden. Sie prüfen einmal jährlich anhand der Bestellungen und Vorratsschränke, ob die Stationen ausreichend Handschuhe und Desinfektionsmittel verbrauchen. Für einen Patienten auf der Intensivstation beispielsweise müssen sich die Angestellten ungefähr 40 Mal am Tag die Hände desinfizieren. Eine hohe Zahl, die französische Kliniken allmählich auch erreichen: In den vergangenen zehn Jahren steigerte sich die Rate der Desinfektionen von 50 auf rund 85 Prozent der gewünschten Menge.

Nachsichtig ist Hygieniker Fosse dabei nicht. „Unser Team macht Stichproben, ob die Pfleger nicht halbvolle Flaschen entsorgen, nur um die Sollzahl zu erfüllen.“ Seit das bekannt ist, würden die Mittel bis auf den letzten Tropfen genutzt. Frankreich kennt bei der Hygiene kein Pardon – zum Nutzen der Patienten.