Gefährliche Keime

Noch immer sterben etwa 70.000 Menschen im Jahr an Masern – viele Tote wären vermeidbar

200.000 Menschen infizierten sich 2015 mit Masernviren, obwohl es seit Jahrzehnten Impfstoffe dagegen gibt. Warum? Zu wenig Geld, falsche Forschung – und eine manipulierte Studie. Auch in Deutschland lassen sich viel zu wenige Menschen impfen.

von Eva Belmonte

© Impfung von Sanofi Pasteur / Gabriel Lehto unter CC-Lizenz

Diese Recherche ist Teil unserer Kooperation „Medicamentalia“ mit dem spanischen Recherchebüro „Civio“ und erscheint in unserem Schwerpunkt über resistente Keime.


Masern sind beherrschbar – theoretisch zumindest. Eine Impfung gibt es schon seit den 1960er-Jahren. Trotzdem haben sich 2015 weltweit knapp 200.000 Menschen angesteckt, mindestens. Gut ein Drittel davon starben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihr Ziel für die Ausrottung der Masern sogar nach hinten verschoben. Nun soll die Krankheit in mindestens fünf der sechs WHO-Regionen bis 2020 verschwinden. Der Grund für die Probleme: Es wird nicht genug geimpft.

Viel zu wenige Menschen geimpft

2015 verfehlte knapp die Hälfte aller Länder weltweit die für das Eindämmen von Masern notwendigen Impfraten. Ab einem bestimmten Anteil von geimpften Personen kann sich die Krankheit nämlich nicht mehr verbreiten. Derzeit sind etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung gegen Masern geimpft. Das reicht jedoch noch lange nicht.

Die Masern sind eine so ansteckende Krankheit, dass 95 Prozent aller Menschen geimpft sein müssen, um die Verbreitung der Viren zu verhindern. Dies nennen Experten Herdenimmunität. Wenn 19 von 20 Menschen geimpft sind, dann sind dies genug, um indirekt auch diejenigen zu schützen, die nicht geimpft werden können. Manche Menschen können nicht geimpft werden, weil sie noch zu jung sind, ihr Immunsystem schwach ist oder weil sie allergisch auf Teile des Impfstoffs reagieren.

Die Situation ist sogar noch schlechter. Die Zahl von 85 Prozent geimpften Personen ist nur eine Schätzung. Und diese Schätzung gilt auch nur für die erste von zwei nötigen Impfdosen. Kinder erhalten diese erste Dosis üblicherweise, wenn sie ein Jahr alt sind, zusammen mit Impfungen für Mumps und Röteln (das ist der sogenannte MMR-Impfstoff). Für effektiven Schutz ist jedoch eine zweite Impfdosis ein Muss.

Für diese zweite Impfdosis sehen die Zahlen noch schlechter aus: Die WHO glaubt, dass nur in 50 Ländern genug Menschen auch die zweite Impfdosis erhalten, um das Herdenschutz-Niveau zu erreichen. Deutschland gehört nicht dazu. Auch mehrere andere reiche europäische Länder scheitern daran. Weltweit steigen Immunisierungsraten zu langsam, sagt die WHO. Ein Grund: In vielen Ländern misstrauen die Menschen den Impfstoffen.

Masern und Co. auf dem Vormarsch in Europa

In den Vereinigten Staaten, im berühmten Silicon Valley, werden seit einiger Zeit  neue Masernausbrüche registriert. Impfraten liegen dort unter dem Minimum – das liegt zumindest zum Teil daran, dass es immer mehr Impfgegner gibt. Der neue Präsident der USA, Donald Trump, hat sich mehrfach mit Wortführern von Anti-Impf-Bewegungen getroffen.

2015 wurden in ganz Nord- und Südamerika 611 Masernfälle registriert – die meisten davon in Kanada und den Vereinigten Staaten. In Europa* sind dagegen im gleichen Jahr fast 26.000 Menschen an Masern erkrankt. Allein in Deutschland infizierten sich 2.500 Menschen. Mehr als in jedem anderen Land der Europäischen Union und deren Nachbarländern.

Den größten Masernausbruch seit Einführung der Meldepflicht im Jahr 2001 erlebte im selben Jahr Berlin. Der erste Patient war wohl ein Asylbewerber aus Bosnien und Herzegowina. Flüchtlinge sind jedoch nicht die Erklärung für die hohe Zahl der Infektionen.

Beispielhaft: Der Masern-Ausbruch von Berlin

Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales hat den Masernausbruch analysiert. Demnach machten Asylbewerber nur einen kleinen Teil aller Fälle aus. In den ersten Wochen des Ausbruchs – im November und Dezember 2014 – waren sie noch in der Mehrheit. Aber als die Masern begannen, sich zwei Wochen vor Silvester und in den ersten Monaten des Jahres 2015 rapide auszubreiten, gingen die Fälle unter Asylbewerbern bereits zurück.

Die Masern konnten sich weit in der lokalen Bevölkerung ausbreiten. Dafür alleine Impfgegner verantwortlich zu machen, auch wenn es davon in Berlin vermutlich einige gibt, reicht nicht aus, um den Ausbruch zu erklären. Tatsächlich gibt es ein grundsätzliches Problem unter jungen Erwachsenen in Deutschland. Das sagt das Robert Koch Institut (RKI), welches Krankheiten und Impfraten im Land beobachtet.

Lediglich 56,9 Prozent der Menschen zwischen 18 und 44 Jahren sind gegen Masern immunisiert. Das ist weit unter der Herdenschutz-Schwelle – und es ist wieder auch nur die Zahl für die erste Impfdosis. Wie viele junge Erwachsene zweimal geimpft wurden könne derzeit niemand herausfinden. Man könne aber davon ausgehen, dass eine große Zahl der jungen Erwachsenen in Deutschland tatsächlich keinen vollen Schutz habe, erklärt eine Sprecherin des RKI.

Erst ab 1991 wurde in Deutschland empfohlen, Kindern im Alter von fünf, sechs Jahren eine zweite Impfdosis zu geben. Das ist nun 26 Jahre her. Aber selbst nach dieser Empfehlung verpassten viele die zweite Impfung. Das RKI sagt, erst mit der 2011 gegebenen Empfehlung, die zweite Dosis im Alter von zwei Jahren zu geben – wenn Kinder noch häufiger beim Arzt sind – hätten sich die Impfraten deutlich erhöht.

Die EU ist eine Bastion des Impf-Misstrauens

In vielen Nachbarländern Deutschlands werden ebenfalls viel zu wenige Menschen geimpft. Die Immunisierungsrate in Dänemark für die zweite Masern-Dosis ist in den vergangenen Jahren auf 80 Prozent gefallen. Das Land steht schlechter da als mehr als 100 andere Länder, darunter Sri Lanka und Algerien.

Noch schlechter sieht es in Frankreich aus. Das Land lieferte der WHO keine Daten für das Jahr 2015. Im Vorjahr erreichte Frankreich allerdings nur eine Impfrate von 74 Prozent. Immerhin eine Steigerung gegenüber den 67 Prozent aus dem Jahr 2013.

In keinem anderen Land zweifeln die Menschen so sehr an Impfungen wie in Frankreich. Das ist das Ergebnis der Studie „The Vaccine Confidence 2016“. Für die Untersuchung interviewte die Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin mehr als 65.000 Menschen in 67 Ländern. 40 Prozent der französischen Befragten widersprachen der Aussage: „Impfungen sind sicher.“ Weltweit antworteten zwölf Prozent so, in Deutschland immerhin mehr als zehn Prozent.

Die großen Impfgegner sind fast alle Europäer. Sieben der zehn Länder mit dem geringsten Vertrauen in Impfungen waren EU-Mitglieder oder Nachbarn der EU. Dabei sind schwere Nebenwirkungen von Impfungen den meisten Studien zufolge extrem selten.

Impf-Skepsis ist nicht neu. In der Vergangenheit hatten Menschen oft Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten. Dies war schon so als Edward Jenner den ersten Impfstoff erfand – den gegen die Pocken. Dass dabei einem Menschen abgeschwächte Erreger der Krankheit gespritzt werden sollten, überraschte und verstörte viele Menschen. Sie gingen fälschlicherweise davon aus, dass die Impfung schockierende Missbildungen verursachen könnte. Heute misstrauen die Impf-Gegner den offiziellen Institutionen, Pharmakologen und sogar den Wissenschaftlern.

Der Mythos, Impfungen verursachten Autismus

Ein beliebtes Argument von Impfgegnern ist die falsche Behauptung, die Masern-Mumps-Röteln-Impfung verursache Autismus. 1998 publizierte Andrew Wakefield eine Studie im medizinischen Fachblatt „The Lancet“, worin er behauptete, dies bewiesen zu haben. Erst 2010 zog das Journal den Artikel zurück, nachdem Ärzte dessen Inhalt widersprochen hatten.

Schrittweise kam der Betrug Wakefields ans Licht: Er war von einem Anwalt bezahlt worden. Dieser Anwalt hatte Eltern autistischer Kinder für einen Prozess gegen Pharmazeuten rekrutiert. Die Klage wurde schließlich von den US-amerikanischen Gerichten zurückgewiesen. Sowohl Wakefield als auch der Anwalt hatten die Eltern in die Irre geführt, Studienergebnisse gefälscht und ihre finanziellen Interessen in der Sache verschleiert.

Trotz dieser Enthüllung halten manche Leute diese Theorie weiterhin aufrecht. Einer von ihnen ist der neue Präsident der USA.

Ist Bildung wirklich die Lösung?

Die Lösung dieses Problems sei Bildung. Das sagt jede Person, die für diesen Artikel interviewt wurde.

Doch stimmt das? Der Journalist Javier Salas hat für einen Artikel in der spanischen Tageszeitung El País diverse Studien ausgewertet. Das Ergebnis: Weder viele Informationen noch Angstkampagnen helfen wirklich. Selbst wenn man Menschen dazu zwingt, sich impfen zu lassen, hat das nicht unbedingt einen positiven Effekt, schreibt Salas. Tatsächlich sieht es so aus, als könnten diese und andere Methoden sogar kontraproduktiv sein.

In El Salvador müssen alle Kinder per Gesetz ihre Impfpässe zeigen, um eingeschult zu werden. In der Praxis würde aber keinem ungeimpften Kind der Schulbesuch verweigert, räumt der Direktor des Impfprogramms des Gesundheitsministeriums ein. Das würde nämlich das Grundrecht auf Bildung verletzen. Allerdings können die Behörden die Regelung dazu nutzen, bei Eltern dafür zu werben, dass diese die Impfpässe ihrer Kinder aktuell halten.

Was kann man also tun? Eine im Jahr 2011 von der Kinderärztin Allison Kempe veröffentlichte Studie belegt, dass der beste Fürsprecher von Impfungen wahrscheinlich der Hausarzt einer Familie ist. Dessen auf persönlichen Erfahrungen basierender Rat scheint zu funktionieren.

Der arme Teil der Welt hat die meisten Probleme

Im Großen und Ganzen werden in Ländern mit hohem Einkommen noch immer mehr Menschen gegen Masern geimpft als in Ländern mit niedrigen Einkommen. Reiche Länder haben eine durchschnittliche Impfrate von fast 95 Prozent. Arme Länder: weniger als 83 Prozent.

Zudem sind in vielen Ländern die Unterschiede zwischen den Impfraten der ersten und zweiten Dosis riesig. Beispiel Malawi: Annähernd 85 Prozent sind einmal gegen Masern geimpft, aber nur acht Prozent zweimal. Im Vergleich sieht der Unterschied von elf Prozent in Belgien gar nicht so schlecht aus.

Indien, das 2015 mit mehr als 22.000 Opfern alleine 30 Prozent aller weltweiten Todesfälle durch Masern bei Kindern unter vier Jahren zu beklagen hatte, hat eine Impfrate von 81 Prozent für die erste Dosis und 69 Prozent für die zweite.

Besonders schwer ist das Problem in Regionen zu bekämpfen, in denen die Infrastruktur schlecht ist und es an Geld sowie qualifiziertem Personal mangelt. Wenn sich in diesen Regionen dann auch noch Menschen bekämpfen, kann es schwer sein, überhaupt einen Arzt zu erreichen. Dabei sollten Kinder nach derzeitigen Empfehlungen viermal in ihrem ersten Lebensjahr geimpft werden.

„Ärzte ohne Grenzen“ fordert neue Impfstoffe

Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ glaubt, dass der komplexe Zeitplan zu niedrigen Impfraten in vielen armen Ländern beitrage. Die Organisation verweist auch auf Preissteigerungen. Das Basispaket der wichtigsten Impfungen ist nach Zahlen von „Ärzte ohne Grenzen“ heute mehr als 68-mal so teuer wie im Jahr 2001. Zudem muss die Mehrheit der Impfstoffe dauerhaft auf Kühlschranktemperatur gehalten werden, was ein Minimum an elektrischer Infrastruktur voraussetzt.

Ärzte ohne Grenzen fordert daher neue Impfstoffe. Das Ziel müsse sein, weniger temperaturabhängige und mehr schluckbare Impfstoffe zu haben. Zudem müsse mehr zu Viren in Entwicklungsländern geforscht werden, um die Probleme vor Ort besser bekämpfen zu können.

Medicamentalia Vaccines ist ein Rechercheprojekt unseres Partners Civio, einer spanischen Redaktion für investigativen Journalismus, Das Projekt untersucht den gegenwärtigen Stand von Impfungen weltweit und stützt sich dafür auf Datenanalysen und Recherchen vor Ort in mehreren Ländern. Es wird von „Journalism Grants“ gefördert, einem Projekt des „Euroepan Journalism Centre“ mit Mitteln der Bill & Melinda Gates Foundation. Die Stiftung engagiert sich für Impfprogramme weltweit, hatte aber auf diesen Beitrag keinen Einfluß.

Übersetzung aus dem Englischen und Mitarbeit: Nándor Hulverscheidt