Jeden zweiten Tag eine neue Beratungsanfrage
In anderthalb Jahren gingen hunderte Anfragen zu Gewalt im Sport bei einer unabhängigen Beratungsstelle ein. Knapp ein Fünftel kommen aus dem Fußball. Das zeigt eine Auswertung des Vereins Safe Sport, die CORRECTIV exklusiv vorliegt.

Im Juli 2023 nahm die Beratungsstelle Safe Sport e.V. ihre Arbeit auf. Die Ansprechstelle berät Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die im Sport von Gewalt betroffen sind. Die Mitarbeitenden unterstützen Betroffene und auch das Umfeld psychologisch und juristisch, etwa in akuten Krisensituationen. Sie erklären den Ablauf von Strafverfahren und vermitteln andere Hilfseinrichtungen oder Opferanwältinnen.
Der erste Bericht (seit 17 Uhr am 31.3. als PDF online) der Beratungsstelle zeigt nun, wie groß der Bedarf ist: Von Juli 2023 bis zum Jahresende 2024 erreichten die Ansprechstelle 223 Beratungsanfragen zu interpersonaler Gewalt im Sport. Die Tendenz ist steigend. Im zweiten Halbjahr 2024 meldete sich im Durchschnitt jeden zweiten Tag eine neue ratsuchende Person.
Der Bericht zeigt, dass vor allem Kinder und Jugendliche Gewalt im Sport erleben. Gut 85 Prozent der Betroffenen sind nicht älter als 18 Jahre. Zwei Drittel sind Mädchen und Frauen. Die meisten Gewaltvorfälle ereignen sich im Breitensport.
„Diese Gewalttaten passieren im Hier und Jetzt in einem erschreckend hohen Ausmaß“, sagt Gitta Schwarz. Sie ist Vorstandsmitglied des Trägervereins Safe Sport. Schwarz war als Jugendliche selbst im Reitsport von sexualisierter Gewalt betroffen.
Die Betroffenenvertreterin wünscht sich, dass es kein Tabu mehr gibt, über Erfahrungen von sexualisierter Gewalt zu sprechen. Gerade auf dem Land und in kleinen Vereinen seien die Bedenken von Betroffenen besonders groß, sich an Verantwortliche in Vereinen oder Verbänden zu wenden. „Weil sich dort alle kennen“, sagt Schwarz.
Gewalt im Fußball, Kampfsport und Leichtathletik
Gewaltfälle wurden aus vielen verschiedenen Sportarten berichtet. 17 Prozent der Beratungsfälle bezogen sich auf Gewalt im Fußball. Damit war Fußball die Sportart mit den meisten berichteten Gewalttaten. Viele weitere Fälle bezogen sich auf Kampfsportarten (12 Prozent) und Leichtathletik (6 Prozent).
Mit 24.000 Vereinen und rund 2,2 Millionen Spielerinnen und Spielern ist der Deutsche Fußballverband mit Abstand der größte Sportfachverband in Deutschland. Kinder und Jugendliche nehmen dabei eine besondere Rolle ein: Gut 1,2 Millionen Mädchen und Jungen bis 18 Jahre spielten in der Saison 2023/24 im Verein Fußball.
Umfrage zu Gewalt im Jugendfußball
Wir, ein Team von Journalistinnen und Journalisten von CORRECTIV, 11FREUNDE und verschiedenen Lokalmedien, recherchieren in den kommenden Monaten zu Gewalt und Übergriffen im Jugendfußball – mit dem Ziel, Missstände aufzudecken und Veränderungen anzustoßen.
Dafür haben wir eine CrowdNewsroom-Umfrage gestartet, an der sich ehemalige und aktive Fußballerinnen und Fußballer beteiligen können, um Erfahrungen zu teilen. Uns interessieren besonders Situationen, in denen Menschen womöglich ihre Macht missbraucht haben und Gewalt ausgeübt haben.
Der Bericht von Safe Sport e.V. zeigt, dass die Beratungsstelle verschiedene Zielgruppen erreicht: In knapp 40 Prozent der Fälle meldeten sich Betroffene selbst bei der Ansprechstelle. Bei knapp einem Drittel der Beratungen suchten Eltern, andere Angehörige und Partner von Betroffenen Hilfe. Außerdem nahmen Beauftragte für Prävention sexualisierter Gewalt aus Vereinen und Verbänden und Zeuginnen das Beratungsangebot in Anspruch.
Gewalt im Sport: Trainer als Täter
Aus der Forschung ist bekannt, dass Betroffene meistens mehr als eine Gewaltform erleben. Das zeigt sich auch im Bericht des Vereins Safe Sport.
Psychische Gewalt war die häufigste Gewaltform, von der Ratsuchende berichteten. Etwa in Form von systematischer Ausgrenzung, Demütigungen und Bodyshaming. In gut einem Drittel der berichteten Gewaltformen handelt es sich um sexualisierte Gewalt. Hilfesuchende berichteten etwa von sexualisierter Sprache, sexueller Belästigung und Vergewaltigung. Körperliche Gewalt wie Schläge und digitale Gewalt wie digitale Überwachung kommen in den Schilderungen deutlich seltener vor.
Trainer und Trainerinnen sollen besonders häufig Gewalt ausüben: In gut 70 Prozent der Beratungsfälle waren Trainer und Trainerinnen die beschuldigten Personen bzw. Täter. Auch andere Sportlerinnen und Sportler und Vereins- oder Verbandsmitglieder wurden als Täter und Beschuldigte benannt.
In den meisten Fällen erlebten Betroffene mehrfach Gewalt. Jahrelange Gewalterfahrungen schilderten Hilfesuchende besonders oft im Spitzensport. Wie Studien zeigen, tragen dort die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse dazu bei, dass Täter und Täterinnen über einen langen Zeitraum Gewalt ausüben können.
Safe Sport ist eine Ansprechstelle, die es unabhängig von Sportorganisationen gibt. Das Beratungsangebot wird von Bund und Ländern finanziert. Mit Blick auf die laufenden Koalitionsverhandlungen hofft die Betroffenenvertreterin Gitta Schwarz, dass „die weitere Finanzierung unserer unabhängigen Ansprechstelle gesichert wird.“ Dabei geht es auch um das neue Zentrum für Safe Sport, das vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) bereits im August 2023 mit einer „Roadmap“ angekündigt, aber bisher nicht umgesetzt wurde.
Hilfsangebote
Du hast Gewalt oder Missbrauch im Sport erlebt oder machst du dir Sorgen um jemand anderes? Oder du hast Angst, selbst zum Täter oder zur Täterin zu werden? An diese Beratungsstellen kannst du dich wenden:
- Ansprechstelle Safe Sport: 0800 11 222 00 (montags, mittwochs und freitags von 10 Uhr bis 12 Uhr und donnerstags von 15 bis 17 Uhr)
- Anlauf gegen Gewalt: 0800 90 90 444 (montags, mittwochs und freitags von 9 Uhr bis 13 Uhr, dienstags und donnerstags von 16 Uhr bis 20 Uhr)
- Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (montags, mittwochs und freitags von 9 Uhr bis 14 Uhr, dienstags und donnerstags von 15 Uhr bis 20 Uhr)
- Kein Täter werden: Hilfestelle für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen