Grand Theft Europe

Milliardenverluste zum Frühstück

In Brüssel suchen die Finanzminister der EU nach Mitteln gegen den Mega-Betrug über Umsatzsteuerkarusselle. Bei technischen Lösungen gibt es Fortschritte. Sobald es an die Substanz geht, schieben die Verantwortlichen sich gegenseitig den schwarzen Peter zu.

von Marta Orosz

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Bundesfinanzminister Olaf Scholz beim Treffen der EU-Finanzminister in Brüssel: Fortschritte bei der Digitalsteuer, Schneckentempo bei der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs © European Union

Den Finanzministern der EU wurden heute beim Frühstück die Milliardenverluste durch Umsatzsteuerbetrug serviert. Nach der europaweiten Recherche „Grand Theft Europe” unter Leitung von CORRECTIV hat Steuerkommissar Pierre Moscovici sie aufgerufen, beim Europäischen Rat am Freitag einen Lösungsvorschlag der Kommission zu diskutieren: „Die Bürger werden nicht akzeptieren, dass die EU nichts gegen Kriminelle unternimmt, die enorm von den Schwachstellen des EU-Mehrwertsteuersystems profitieren, während ehrliche Steuerzahler die Kosten tragen.“

Auf der offiziellen Agenda des heutigen Treffens im Europäischen Rat standen andere Themen: Die Besteuerung der digitalen Wirtschaft oder die Frage, ob und wie man selbstgebrannten Schnaps künftig besteuern soll. Das enorme Problem, das nun seit über 25 Jahren jedes einzelne EU-Land betrifft, wurde erstmal nur in einer informellen Runde besprochen. „Die EU-Finanzminister verschleppen seit langem eine Lösung des Betrugs bei der Umsatzsteuer durch organisierte Kriminalität.“, sagte Fabio De Masi, stellvertretender Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, gegenüber CORRECTIV.

Vor einer Woche haben unter der Leitung des Recherchezentrums  CORRECTIV 35 Redaktionen in 30 europäischen Ländern über die aktuelle Dimension und Folgen des Karussellbetrugs berichtet. Durch Umsatzsteuerkarusselle verlieren die Staaten der EU jährlich 50 Milliarden Euro, schätzt die EU-Kommission. In Deutschland liegt der Schaden zwischen 5 und 14 Milliarden Euro pro Jahr. Der grenzüberschreitende Betrug ist seit 1993 bekannt und konnte bisher nicht effektiv bekämpft werden.

Eine Woche nach der Veröffentlichung unserer Recherche zum Karussellbetrug in 30 europäischen Ländern nimmt nun das sogenannte TNA (Transactional Network Analysis) auf EU-Ebene die Arbeit  auf. Es handelt sich um ein Betrugs-Frühwarnsystem, das eine automatisierte Datenanalyse zwischen den EU-Ländern ermöglicht und seit zwei Tagen operationell ist. Vielen Experten zufolge ist das TNA die einzige praktikable Lösung um die Milliardenverluste durch Umsatzsteuerbetrug zu reduzieren. „Dank des neuen Instruments können die Behörden verdächtige Aktivitäten schneller aufdecken”, sagt auch Moscovici.

Für einen stärkeren Informationsaustausch zwischen den EU-Behörden sprach sich das Bundesfinanzministerium schon im Finanzausschuss des Bundestages aus, doch die Praxis sieht anders aus: Das TNA-System startet zunächst ohne deutsche Teilnahme. Bundesfinanzminister Olaf Scholz sagte im Europäischen Rat in Brüssel, dass die Bundesregierung dieses Instrument auch einführen wird – momentan prüfe man noch mit den 16 Bundesländern die Strukturen, die dieses Instrument ermöglichen. Solche Verzögerungen kosten den deutschen Fiskus jeden Tag Geld.

Prof. Marie Lamensch, Expertin für europäische Steuersysteme von der Freien Universität Brüssel, sieht im TNA-System eine Möglichkeit, verfügbare Technologien und Netzwerke zu nutzen, um den Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen. Umso unverständlicher sei es, dass die Bundesregierung immer noch nicht aktiv am Netzwerk teilnimmt: „Wenn die Menschen in Deutschland das wüssten, wären sie wirklich sauer auf die Regierung“, sagte Lamensch dem ZDF-Magazin Frontal21.

Der Bundesfinanzminister will den Umsatzsteuerbetrug eher durch neue Regulierungen stoppen. „Die Steuerkarusselle müssen auch durch die rechtliche Regelung und nicht nur durch Überwachung besser bekämpft werden,“ sagte Olaf Scholz CORRECTIV.

Das aktuelle System, wonach der Handel zwischen EU-Mitgliedsstaaten umsatzsteuerfrei ist, war 1993 nur als Übergangslösung eingeführt worden. Der Reformvorschlag der EU-Kommission sieht vor, auch den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der EU zu besteuern. Es würde der Satz des Landes gelten, in dem die Ware gekauft wird. Die meisten EU-Finanzminister wünschen sich eine europäische Lösung. Unklar ist jedoch, wie viele Länder dem Vorschlag von Moscovici folgen würden.

Scholz zufolge würde diese endgültige Lösung in den nächsten Jahren nicht erreicht. Bei einigen Vorschlägen befürchtet der Finanzminister zudem, dass sie das Problem vergrößern oder neue Betrugsmöglichkeiten schaffen. „Die sind ja gleich in Zehnmilliarden-Größenordnung, und das muss man ja verhindern.“

Der Spitzenkandidat der Grünen im Europawahlkampf, Sven Giegold, kritisierte diese Woche in der Neuen Osnabrücker Zeitung, dass Deutschland die Verhandlungen auf EU-Ebene bremst: „Allein mit den aktuellen Reformvorschlägen des Europäischen Umsatzsteuersystems würden zwischen 4 und 11 Milliarden Euro mehr in die deutsche Steuerkasse fließen,“ sagte Giegold. Der Spitzenkandidat fordert in seinem Wahlprogramm eine grenzüberschreitende Finanzpolizei, die den Umsatzsteuerbetrug bekämpfen soll.

Im europäischen Ausland waren die politischen Stimmen dezidierter als hierzulande. In Dänemark wurde der Minister für Steuern nach den Veröffentlichungen einbestellt, Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sucht verbündete Mitgliedstaaten für eine europäische Betrugsbekämpfung, und die Finanzministerin Schwedens bezeichnete das Finden einer Lösung als Top-Priorität.

Die Frage nach den Prioritäten wäre in allen Mitgliedsstaaten angebracht. Während sich Scholz und seine europäischen Kollegen mit viel Elan an der Besteuerung von Digitalkonzernen abarbeiten, von der sie sich Steuereinnahmen von jährlich 5 Milliarden Euro europaweit erhoffen, kosten Umsatzsteuerkarusselle seit über 25 Jahren das Zehnfache dieses Betrags.

Die aktuelle rumänische Ratspräsidentschaft scheint vom Aufruf des Steuerkommissars kaum Kenntnis zu nehmen: Auf die Frage von CORRECTIV, was im Europäischen Rat die nächsten Schritten zu einer Lösung seien, spielte Eugen Teodorovici, Vorsitzender des Rates für Wirtschaft für Finanzen, den Ball wieder an die EU-Kommission zurück: „Wir hoffen, dass die nächste Kommission das Problem löst.“