Justiz & Polizei

Aktendeckel, nicht maschinenlesbar

Die deutsche Justiz ist noch lange nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Wer systematisch Urteile miteinander vergleichen will, stößt rasch an Grenzen. Selbst dann, wenn er in der Juris-Datenbank recherchiert – im Gegenwert von 600.000 Euro.

von Stefan Wehrmeyer

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Eine vollständige Übersicht über alle Urteile in einem Bereich zu bekommen – das ist offenbar von der deutschen Justiz nicht vorgesehen. Technisch ist das möglich, es würde nicht viel kosten. Aber eine durchgängige oder gar zentrale Veröffentlichung von Urteilen findet nicht statt. Interessierte müssen sich an private Verlage wenden, die sich den Zugang zu Urteilen bezahlen lassen.

Tatsächlich war die Juris GmbH so freundlich, uns kostenfrei einen siebentägigen Probezugang zur Verfügung zu stellen. Wir nutzten unser Testabo und besorgten uns 115.000 Dokumente aus der Kategorie Versicherungsrecht. Eine so intensive Nutzung hatte Juris nicht erwartet und hätte nach Angaben von Juris bei Einzelabrechnung 600.000 Euro gekostet.

juris Urteile Versicherungsrecht

Anzahl der Dokumente zum Thema Versicherungsrecht nach Gericht auf Juris

Der Versuch, aus den Dokumenten automatisiert eine Statistik abzuleiten, schlug größtenteils fehl. Bei BGH-Urteilen kann man zwar relativ einfach automatisch erkennen, ob der Kläger oder der Beklagte Revision eingelegt hat und ob diese Erfolg hatte. Für unsere Recherche zum Versicherungsrecht brauchten wir aber eine tiefergehende Angabe: war der Kläger oder der Beklagte ein Versicherungsnehmer?

Leider ist die Beschreibung der Fälle in den Urteilen weder maschinen- noch nutzerfreundlich. Als Leser muss man oft mehrere Absätze lesen, um herauszufinden, ob überhaupt ein Versicherungsnehmer beteiligt war. Die Maschine scheitert mit einfachen Mustererkennungsansätzen an den schier unerschöpflichen Fall- und Ausdrucksvariationen. Der Versuch, komplexere technische Methoden wie zum Beispiel neuronale Netze anzuwenden, würde ein Forschungsprogramm ausfüllen. Im Rahmen unserer Recherche war das nicht zu schaffen. Eine automatisierte Analyse der Urteile mit dem Ziel, einen quantitativen Einblick in die Rechtsprechung zu erhalten, war gescheitert.

Nebentätigkeiten

Zu Beginn der Datenrecherche wollten wir wissen, wie oft Richter mit Anwälten und Vertretern der Versicherungskonzerne bei Veranstaltungen zusammentreffen. Eine der wichtigsten Anwaltskanzleien für Versicherungsrecht Bach Langheid Dallmayr (BLD) steht der Seminarreihe Versicherungsforum nahe. Ein anderer, großer Anbieter sind die Münchner Seminare für Wirtschafts- und Versicherungsrecht (MWV).

Während man bei MWV die Seminare und ihre Referenten mehrere Jahre zurückverfolgen kann, weil die Programme im Netz zu finden sind, glich die Suche nach älteren Seminarbroschüren des Versicherungsforums einer Schnitzeljagd.

Mit einigen Tricks fanden wir über Suchmaschinen zwar einige verlinkte Programmhefte. Doch um noch ältere zu finden, die selbst Google nie gesehen hat, mussten wir etwas kreativer sein. Wir nutzten ein Script, das mögliche Dateinamen basierend auf den fortlaufenden Nummern der Seminare in mehreren Varianten generierte. So als würde man Webadressen raten. Mit dieser Technik fanden wir auf den Servern des Verlags Versicherungswirtschaft und sogar auf der Kanzlei-Webseite PDFs zu älteren Seminaren des Versicherungsforums.

Seminare Richtertyp

Richter als Dozenten in Versicherungsforum und MWV-Seminaren seit 2010. Wolfgang Wellner ist Spitzenreiter mit 66 Seminaren.

Auf Basis der Seminarprogramme lässt sich dann berechnen, wie häufig Richter mit Versicherungsanwälten oder Vertretern von BLD als Referenten an Veranstaltungen teilgenommen haben. Weil uns Insider berichteten, wie hoch die Honorare für solche Auftritte sein können, konnten wir mithilfe unserer Auswertung schätzen, was Richter als Referenten dazu verdienen. Daraus kann man nicht schließen, ob Anwälte Richter beeinflussen. Dazu müßte man sich die Urteile systematisiert anschauen.

Mehr Transparenz im Recht

Dies ist nun schon die zweite Recherche von CORRECTIV, die einen Mangel an Transparenz bei Gerichten aufdeckt. Unsere Recherche „Spendengerichte“ beschreibt, wie Richter und Staatsanwälte Millionengelder an Organisationen verteilen. Zwar konnten wir die Beträge und Organisationen in unserer Datenbank durchsuchbar machen. Aber es ist weiterhin nicht flächendeckend möglich, eine Geldzuweisung einem bestimmten Richter oder einer Richterin zuzuordnen.

Die Unabhängigkeit von Richtern ist wichtig. Wir glauben, dass mehr Transparenz im Rechtssystem daran nichts ändern würde. Im Gegenteil: es wäre dadurch einfacher, Fehlentwicklungen zu erkennen.