Die Ökogas-Lüge

Deutschlandweit werben Gasversorger mit „klimaneutralem Erdgas“ – doch sie lösen ihre Versprechen nicht ein, wie CORRECTIV jetzt offenlegt. Angeblich geschützte Wälder werden abgeholzt, selbst Gaskraftwerke ausgebaut. Wie Unternehmen hunderttausende Kunden täuschen und die Klimakrise anheizen.

von Stella Hesch, Gesa Steeger, Max Donheiser, Simon Wörpel

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Inhalt

Kapitel 1: Die Kunden

Mit Gas heizen und gleichzeitig das Klima retten: So lautet das Versprechen vieler deutscher Energieversorger. Als Kundin oder Kunde zahlt man ein paar Cent pro Kilowattstunde drauf und dreht guten Gewissens die Heizung auf. Doch das Versprechen bleibt ohne Gegenwert: Deutsche Erdgasversorger wie der hessische Gasversorger Entega oder kommunale Unternehmen wie die Stadtwerke Duisburg und Rostock verkaufen eine Lösung für die Klimakrise, die keine ist. Insgesamt kann CORRECTIV 116 deutschen Gasversorgern nachweisen, dass sie in den vergangenen 13 Jahren Gastarife und -produkte angeboten haben, die weit weniger grün sind als versprochen. 

Das Prinzip hinter der Losung vom grünen Gastarif nennt sich Kompensation, man könnte auch Wiedergutmachung sagen: klimaschädliche Emissionen, die in Deutschland entstehen, zum Beispiel durchs Heizen, werden an einer anderen Stelle ausgeglichen – durch den Schutz von Wäldern in Brasilien oder den Bau von Wasserkraftwerken in Indien. Unternehmen können die so eingesparten Emissionen in Form von CO2-Gutschriften kaufen, um ihre Klimabilanz zu verbessern. 

Kundinnen und Kunden werden massiv getäuscht

Doch die Wiedergutmachung bleibt aus, das zeigt diese Recherche. In manchen Fällen dreht sich das Versprechen sogar ins Gegenteil: Umwelt und Klima nehmen Schaden. So nutzen deutsche Gasversorger auch CO2-Gutschriften aus Gaskraftwerken in Indien, China und Singapur, um ihre Tarife als klimafreundlich verkaufen zu können – und unterstützen so die fossile Industrie. 

Das zeigt eine Auswertung der Kompensationsaktivitäten und CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken durch CORRECTIV für einen Zeitraum von 2011 bis 2024. Grundlage sind die Register der großen Marktführer auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt: Verra und Gold Standard. Die beiden Nichtregierungsorganisationen setzen weltweit Standards für die Qualität von Klimaschutzprojekten und deren CO2-Gutschriften. Sie fungieren als Kontrollinstanz und garantieren, dass Emissionen tatsächlich eingespart oder reduziert werden. Doch ob das gelingt, ist fraglich. Gerade Verra steht seit einiger Zeit massiv in der öffentlichen Kritik

Eng begleitet wurde die Auswertung von Wissenschaftlerinnen und Experten, darunter das New Climate Institute, die Berkeley University, das Öko-Institut und die Deutsche Umwelthilfe (DUH). 

Das Ergebnis: 116 Gasversorger haben in den vergangenen 13 Jahren CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt, die laut wissenschaftlicher Einschätzung nicht plausibel nachweisen können, dass Emissionen tatsächlich reduziert oder eingespart wurden. Betroffen sind damit zwei Drittel der insgesamt 16 Millionen ausgewerteten Gutschriften. 98 Prozent dieser fragwürdigen CO2-Gutschriften wurden dabei von Verra ausgegeben. Beispielsweise wird weniger Wald geschützt als angegeben, weniger Emissionen als berechnet werden eingespart oder das Projekt wäre auch ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften zustande gekommen. 

 

Vermutlich liegt die Zahl dieser „Phantom-Gutschriften“, wie die Biologin und Kompensationsexpertin Jutta Kill sagt, weitaus höher. Denn auf dem Markt gebe es „kaum ein Kompensationsprojekt, das plausibel nachweisen kann, dass CO2-Emissionen dauerhaft reduziert oder eingespart wurden“, so Kill. Ähnlich äußern sich auch weitere Expertinnen und Experten gegenüber CORRECTIV. Eine Vorab-Publikation der ETH Zürich und der Universität Cambridge kommt zu dem Ergebnis, dass nur 12 Prozent der auf dem Markt verfügbaren CO2-Gutschriften zu einer „echten Emissionsreduzierung“ führen. 

Der Schaden dieser fragwürdigen CO2-Gutschriften lässt sich im Fall der deutschen Gasversorger beziffern: Auf rund 10 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2, die in den vergangenen 13 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingespart oder reduziert wurden. Anders als von den Gasversorgern versprochen. Eine Menge, die sich vergleichen lässt mit den CO2-Emissionen aus dem Verbrauch von Kohle, Erdgas oder anderen Primärenergien allein für Thüringen im Jahr 2020. 

Auf CORRECTIV-Anfrage teilt Verra mit: „Als gemeinnützige Organisation ist Verra zu ständiger Innovation verpflichtet und stützt sich auf die neuesten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse.“ Diese würden die Standards und Methoden bestimmen und ein „Höchstmaß an Integrität bei Klimaprojekten gewährleisten“.

Gold Standard erklärt dazu, dass die Organisation keine Kompensationsansprüche auf Produktebene unterstütze, „wenn diese nicht mit der Leistung des Gesamtunternehmens übereinstimmen würden.“ Außerdem befürworte Gold Standard seit mehreren Jahren eine  „Abkehr vom Konzept der Kompensation, um glaubwürdige Behauptungen und eine verantwortungsvolle Nutzung von Emissionsgutschriften“ sicherzustellen. 

Hier kämpft eine sterbende Branche ums Überleben

Was am Ende vom grünen Versprechen der Gasversorger übrig bleibt, ist eine Täuschung mit Folgen. Vor allem für die Menschen, die darauf hoffen, dass ihre Kaufentscheidungen tatsächlich etwas bewirken, sagt Monique Goyens, Direktorin des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC) in Brüssel, gegenüber CORRECTIV. „Hier kämpft eine sterbende Branche ums Überleben und reißt die Bevölkerung mit sich.“ Dadurch werde ein wirklich nachhaltiger Lebensstil verhindert. „Das ist inakzeptabel.“

Anhand einer Studie der Universität Münster lässt sich nachvollziehen, welchen Effekt vermeintlicher Klimaschutz auf Konsumentinnen und Konsumenten hat: Viele Menschen nutzen die Kompensation von CO2, wie im Falle von klimaneutralem Erdgas als Freifahrtschein für „umweltschädliches Verhalten“. Es reiche die „bloße Vorstellung, sich umweltfreundlich zu verhalten“, um im Anschluss etwas umweltschädliches zu tun. Wie Fliegen beispielsweise.

Schauen Sie in unserer Datenbank nach, ob Ihr Gasversorger in den vergangenen 13 Jahren fragwürdige CO2-Gutschriften genutzt hat. Finden Sie heraus, wie Wissenschaftler und Expertinnen einzelne Projekte bewerten:  

Erdgas lässt sich nicht komplett kompensieren

Hinzu kommt: Erdgas als klimaneutral zu vermarkten, ist mehr als fragwürdig. „Echter Klimaschutz kann nur durch den Umstieg weg vom fossilen Erdgas erfolgen“, sagt Claudia Kemfert, Energieexpertin und Umweltökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Für sie ist das Werben mit klimaneutralem Erdgas vor allem der Versuch der Gasindustrie, „die fossilen Geschäftsmodelle länger aufrechtzuerhalten.“ 

So verbreitet der mächtige Lobbyverband BDEW, der die Interessen der deutschen Energiebranche vertritt, unter seinen Mitgliedern das Narrativ vom klimafreundlichen Erdgas und liefert die Broschüre für die Kundinnen und Kunden gleich mit: „Auch herkömmliches Erdgas kann klimaneutral gestellt werden: durch eine CO2-Kompensation. (…) Das Gasprodukt erhält dafür eine Zertifizierung und ist zum Beispiel unter der Bezeichnung „Ökogas-Tarif“ erhältlich.“

Eine Behauptung, der Kemfert klar widerspricht: „Es gibt nicht wirklich klimaneutrales Erdgas, auch wenn CO2-Emissionen kompensiert werden. Erdgas kann nicht emissionsfrei sein.“ Den Schaden trügen dabei die Verbraucher, so Kemfert: „Kunden wähnen sich in falscher Sicherheit, dass ihr Erdgas dem Klima weniger schadet.“

 

Laut einer Studie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2022 besteht Erdgas zum großen Teil aus Methan. Ein Treibhausgas, das betrachtet auf einen Zeitraum von 100 Jahren, rund 28 bis 34 Mal klimaschädlicher ist als CO2. Bei der Verbrennung von Erdgas werden laut der DIW-Studie große „Mengen an CO2 sowie flüchtige Methanemissionen freigesetzt.“ Wird Erdgas gefördert oder transportiert, kann es ebenfalls zum Austritt von Methan kommen.

 

Weitere Expertinnen und Experten, mit denen CORRECTIV für diese Recherche gesprochen hat, äußern sich ähnlich. Das liegt vor allem daran, dass der vollständige Abbau von fossilen Gas-Emissionen laut Umweltbundesamt (UBA) bis zu mehrere hunderttausend Jahre dauern kann. Kompensation kann also nur einen Bruchteil dieser Emissionen tatsächlich ausgleichen und das auch nur kurzfristig – und selbst dieser kleine Teil verpufft in vielen Fällen, wie diese Recherche zeigt.

Welche Konsequenzen die falschen Versprechen der deutschen Gasindustrie nicht nur für das Klima und geprellte Kundinnen und Kunden haben, sondern auch für Menschen, die unfreiwillig Teil dieses Versprechens werden, das zeigt ein Blick nach Indien.

Kapitel 2: Das Projekt

Hier, weit im Nordwesten des Landes, in der Region Himachal Pradesh

zwischen hohen Berggipfeln und tiefen Schluchten liegt der Karcham Wangtoo Damm.

Ein grauer Betonklotz, 88 Meter hoch, der den Fluss Sutlej in zwei Teile teilt. Einen oberen und einen unteren.

Das Wasserkraftwerk und der dazugehörige Damm gingen 2011 ans Netz. Seit 2015 gehören Wasserkraft und Damm dem indischen Energieriesen JSW Energy.

Neben Energie produzierte das Projekt jahrelang ein weiteres wertvolles Gut: CO2-Gutschriften. Laut der Projektbeschreibung soll das Projekt durch die alternative Energiegewinnung durch Wasserkraft zwischen 2011 und 2022 rund 35 Millionen Tonnen CO2 eingespart haben. Diese wurden im Anschluss in Form von CO2-Gutschriften verkauft – auch an Gasversorger in Deutschland. Darunter die RheinEnergie AG, Stadtwerke Bayreuth und Rüsselsheim. 

Doch ob die Gutschriften überhaupt jemals mehr waren als heiße Luft, ist zweifelhaft. 

Bereits 2011 kamen Wissenschaftler der Universität Heidelberg in einer Studie zu dem Schluss, dass dem Wasserwerk die sogenannte Zusätzlichkeit fehlt. Ein Standard, den jedes Klimaschutzprojekt nachweisen muss – auch auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt. 

Einnahmen haben keinen positiven Klimaeffekt

In diesem Fall bedeutet die fehlende Zusätzlichkeit, dass das Wasserkraftwerk auch ohne die zusätzlichen Einnahmen aus dem Handel mit den CO2-Gutschriften finanziert worden wäre. Kurz: Die Einnahmen aus den CO2-Gutschriften haben keinen positiven Effekt auf das Klima. 

Auf Anfrage dazu teilt Verra mit, dass die Organisation die Kriterien für Wasserkraftwerk-Projekte bereits angepasst habe. Mit der Folge, dass diese Projekte nicht mehr über Verra registriert werden könnten. Klimaschutzprojekte, die „vor Inkrafttreten der neuen Regeln registriert wurden”, könnten aber bis zum Ende der Projektlaufzeit CO2-Gutschriften verkaufen. 

Unstrittig sind dagegen die Folgen, die der Karcham Wangtoo Damm auf die lokale Bevölkerung hat. 

Wie die genau aussehen, berichtet Shaalu Negi, die in der Nähe des Damms lebt, im Jahr 2019 indischen Umweltaktivisten und Filmemachern. Im Interview spricht sie von Trockenheit und Wassermangel. Sie sagt: „Mit Bau des Damms verschwand auch das Wasser im Satluj-Fluss.“

Durch die Bauarbeiten des Damms wurden einige Häuser zerstört. Quelle: Subrat Kumar Sahu

Andere Dorfbewohner berichten von versiegenden Quellen, von durch Bauarbeiten zerstörten Häusern und verlorenem Weideland. Auswirkungen, die nicht nur die Menschen am Karcham Wangtoo Damm zu spüren bekommen.

In den vergangenen Jahrzehnten seien viele Wasserkraftprojekte im Flussbett des Satluj gebaut worden, sagt die indische Umweltaktivistin und Forscherin Manshi Asher. „Die Folgen sind gravierend und reichen von Abholzung der Wälder bis hin zu tödlichen Erdrutschen und Überschwemmungen.“

Viele dieser Projekte seien auch mit Geldern aus dem Handel mit CO2-Gutschriften finanziert worden, so Asher. Davon profitieren würden vor allem die beteiligten Konzerne: „Der privatwirtschaftliche Sektor ist in Projekte eingestiegen, die Gelder aus dem Kohlenstoffmarkt bekommen haben.“ Die Menschen vor Ort aber tragen den Verlust.

Erste Gasversorger ziehen Konsequenzen

2023 hat die Rhein Energie AG mehr als 5000 CO2-Gutschriften aus dem Karcham Wangtoo-Projekt genutzt, um Emissionen für den Tarif „Business-Öko“ zu kompensieren. 

Auf die fehlende Zusätzlichkeit des Projekts und die Lage in Indien angesprochen, teilt der Erdgasversorger mit, dass die Grundlage für die Kompensation von CO2 eine „Zertifizierung nach strengen Kriterien“ sei. 

Als Reaktion auf die CORRECTIV-Recherche kündigt die Rhein Energie AG an, „von den Zertifizierern konkrete Projektüberprüfungsverfahren zu verlangen.“ Außerdem werde das Angebot für Geschäftskunden bis zum Vorliegen der Ergebnisse pausieren und keine weiteren Kompensationsvereinbarungen mehr getroffen, so der Gasversorger auf Correctiv-Anfrage.  

Die Stadtwerke Bayreuth teilen mit, weder etwas über die Studie der Universität Heidelberg zu wissen, noch über die Lage vor Ort. Man werde eine Überprüfung des Projekts durch Verra fordern, so ein Sprecher des Unternehmens gegenüber CORRECTIV. Solange werde man „keine weiteren Kompensationsprodukte“ aus dem Projekt erwerben. Die Stadtwerke Bayreuth nutzten im Jahr 2020 rund 73.000 Gutschriften aus dem Projekt, um Emissionen aus der „Erdgas-Verbrennung bei Kunden zu kompensieren“. 

Die Energieversorgung Dormagen, die 2023 und 2022 insgesamt rund 1000 Gutschriften aus dem Projekt genutzt hat, teilt auf Anfrage mit, dass das Unternehmen nicht über fehlende Zusätzlichkeit informiert gewesen sei. 

Die Stadtwerke Rüsselsheim, die in den vergangenen 13 Jahren ebenfalls Gutschriften aus dem Projekt genutzt haben, antworteten bis zum Redaktionsschluss nicht auf die Fragen von CORRECTIV.

Kapitel 3: Die Käufer

Rhein Energie und Co sind nicht die einzigen deutschen Gasversorger, deren Werbeversprechen bei genauerem Hinsehen verpuffen. So hat beispielsweise der hessische Gasversorger Entega in den vergangenen fünf Jahren fast 1,5 Millionen CO2-Gutschriften eingelöst, die aus Projekten stammen, die laut wissenschaftlicher Einschätzung nicht zur Kompensation geeignet sind. Das zeigt die Auswertung von CORRECTIV. Vielleicht sind es auch mehr; viele Gasversorger kaufen ihre CO2-Gutschriften auch über Drittanbieter, damit wird eine Nachverfolgung aller Kompensationsaktivitäten fast unmöglich. 

Die ausgewerteten CO2-Gutschriften der Entega stammen aus sieben Waldschutzprojekten, von denen sechs wissenschaftlich als mangelhaft, also als nicht zur Kompensation geeignet eingestuft werden. Eines der Projekte wurde von Verra gestoppt. Für diese Projekte ist nicht plausibel nachweisbar, dass tatsächlich Emissionen reduziert oder eingespart wurden. Auf der Website wirbt das Unternehmen trotzdem mit klimafreundlichem Erdgas: „Das schaffen wir, indem wir alle CO2-Emissionen, die unser Ökogas verursacht, wieder ausgleichen.”

Wie viel die rund 100.000 Kundinnen der Entega für ihr klimaneutrales Erdgas zahlen, teilt das Unternehmen auf Anfrage nicht mit. Auch andere Gasversorger geben sich bedeckt. Gerade bei der Frage, wie viel Kundinnen und Kunden mehr für ihr vermeintlich grünes Gas zahlen. Nur rund ein Zehntel der 116 angefragten Unternehmen macht dazu konkrete Aussagen. Dabei gestalten sich die Preise recht unterschiedlich: Während die Energieversorgung Dormagen 0,54 Cent pro Kilowattstunde mehr für ihr kompensiertes Erdgas berechnen, zahlen Kundinnen und Kunden bei den Stadtwerken Zweibrücken 0,12 Cent mehr für „zertifiziertes Ökogas”. 

Ökogas: Entega will Konzept überprüfen

Die Entega teilt dazu auf CORRECTIV-Anfrage mit, dass „die Konzeption des Produktes Ökogas“ momentan intern infrage gestellt werde. Ein weiteres Vorgehen sei aber noch nicht beschlossen. 

Zum Zeitpunkt der Recherche preisen knapp 70 Prozent der 116 Gasversorger klimaneutrales oder umweltfreundliches Erdgas an. So verspricht das Stadtwerk Landshut eine „Verbesserung Ihrer CO2-Bilanz”, während die Berliner Gasag ihren Kundinnen und Kunden dabei helfen möchte „die persönlichen Klimaschutzziele zu erreichen – etwa mit günstigen Tarifen für Ökostrom und Ökogas.“

Wie hohl diese Werbeversprechen in vielen Fällen tatsächlich sind, zeigt besonders anschaulich der Fall mehrerer Gaskraftwerke aus Indien, China und Singapur, die von dem Kompensationsregister Verra offiziell als Klimaschutzprojekte gelistet werden und deren CO2-Gutschriften auch in den Portfolios von acht Gasversorgern auftauchen. Darunter Eswe und die Eprimo GmbH aus Hessen sowie die Logo Energie, mit Sitz in Nordrhein-Westfalen.

Fossile Gaskraftwerke, die fossile Emissionen ausgleichen sollen. Dass das nicht funktioniert, liegt auf der Hand. „Hier werden fossile Projekte gefördert, die das Klima über Jahrzehnte mit Emissionen belasten“, sagt Carsten Warnecke, Mitgründer des New Climate Institute in Köln und Experte für internationale CO2-Märkte.

Doch abhalten lassen sich die Gasversorger davon offensichtlich nicht: Fast ein Zehntel der insgesamt 10 Millionen CO2-Gutschriften, die CORRECTIV fragwürdigen Projekten zuordnen kann, stammen aus den Gaskraftwerken. 

Verantwortung liegt bei den Gasversorgern

Dazu teilt der Energieriese Eon, zu dem auch Eprimo gehört, mit, dass der Konzern 2022 einen „internen Mindestqualitätsstandard“ definiert habe, der sicher stelle, „dass die genutzten Zertifikate von hoher Integrität sind.“ Zuletzt nutzte Eprimo im Jahr 2022 über 200.000 CO2-Gutschriften aus einem indischen Gaskraftwerk-Projekt. Das geht aus der CORRECTIV-Auswertung hervor. Auf die Frage, ob Eprimo auch künftig Gutschriften aus fossilen Projekten nutzen wolle, äußerte sich das Unternehmen nicht. 

Das Unternehmen Logo Energie, das in der Vergangenheit ebenfalls Gutschriften aus dem Projekt nutzte, teilt gegenüber CORRECTIV mit, dass man die „Projektevaluation zum Anlass“ nehme, mit dem Anbieter der CO2-Gutschriften Kontakt aufzunehmen. Eswe, Gasversorgung Unterland und die Stadtwerke Rüsselsheim, die in den vergangenen 13 Jahren ebenfalls Gutschriften aus Gaskraftwerk-Projekten genutzt haben, antworteten bis zum Redaktionsschluss nicht auf die Fragen von CORRECTIV. 

Manch einer versucht die Schuld von sich zu abzuladen: So sieht die Rhein Energie AG vor allem Organisationen wie Verra und Gold Standard in der Pflicht, dass „Standards und die Mengenversprechen eingehalten werden“. So könne Rhein Energie „keine Delegationen nach Afrika oder an den Amazonas schicken und sich vor Ort von den Projekten überzeugen, diese Verantwortung obliegt den Zertifizierern.“

Einer Ansicht, der Martin Bolm, Rechtsanwalt der Wettbewerbszentrale, widerspricht: „Wenn mit einer Umwelteigenschaft geworben wird, dann muss diese auch gegeben sein. Dafür sind die Unternehmen verantwortlich.“

Kapitel 4: Der Markt

Der freiwillige Kompensationsmarkt ist ein Milliardengeschäft. Zwar sind die Preise für CO2-Gutschriften im vergangenen Jahr gesunken, aber noch Anfang 2023 schätzte die Beratungsfirma Boston Consulting Group den Wert des freiwilligen Kompensationsmarktes für 2021 auf zwei Milliarden Dollar.

 

2005 trat das Kyoto-Protokoll in Kraft. Das internationale Abkommen zielte darauf ab, den Klimaschutz zu stärken und klimaschädliche Emissionen zu reduzieren. Das Abkommen führte unter anderem zur Schaffung von Märkten für den Handel von Emissionsrechten, die vor allem staatlich geregelt waren. Ein Beispiel ist das Emissionshandelssystem der Europäischen Union. Parallel dazu entwickelte sich der freiwillige Kompensationsmarkt, auf dem Unternehmen und Einzelpersonen CO2-Gutschriften kaufen können, um ihre Emissionen auszugleichen. 

Ein Geschäft, von dem alle profitieren: die Betreiber der Klimaschutzprojekte, Verra und Gold Standard, Organisationen wie der TÜV, deren Aufgabe es ist, Projekte auf die Einhaltung der Standards zu überprüfen und die Endkäufer der CO2-Gutschriften. In diesem Fall die deutschen Gasversorger.

Jeder verdient am System mit

Jeder verdiene am bestehenden System mit, sagt Benedict Probst, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München. „Keiner hat den Anreiz, weniger Zertifikate auszugeben.“

Das Resultat ist eine Schwemme billiger CO2-Gutschriften, bei denen nicht nur die Qualität fragwürdig ist. So heißt es in einer Studie des New Climate Institute: „Der Überfluss an billigen Kohlenstoffgutschriften, die für nur zwei US-Dollar pro Tonne CO2 erhältlich sind, hält Unternehmen davon ab, ehrgeizige Pläne zur Emissionsminderung innerhalb ihrer eigenen Wertschöpfungsketten umzusetzen.“

Kurz: Der freiwillige Kompensationsmarkt, der ursprünglich zum Ziel hatte, das Klima zu schützen, verhindert in vielen Fällen wirksamen Klimaschutz. 

Markt ist geflutet mit Schrottzertifikaten

Das sei nicht von Anfang an so gewesen, sagt Warnecke vom New Climate Institute. Doch spätestens 2008, nachdem sich herumgesprochen habe, dass man mit Kompensation Geld verdienen könne, sei der einst funktionierende Markt kaputt gegangen: „Geflutet von Schrottprojekten, die niemals hätten einen Stempel bekommen dürfen.“

Verantwortlich für diese Entwicklung seien auch die Betreiber der Kompensationsregister wie Verra und Gold Standard, sagt Barbara Haya, Direktorin des Berkeley Carbon Trading Project im Center for Environmental Public Policy der Universität Berkeley. „Vor allem gebe ich Verra und Gold Standard die Schuld, weil sie Regeln aufstellen und Verifizierungssysteme schaffen, die Qualität nicht gewährleisten.“

Ziel war es herauszufinden, welche deutschen Gasversorger CO2-Gutschriften kaufen, aus welchen Projekten und wofür. Dafür haben wir die Datenbanken der vier größten Register von CO2-Gutschriften weltweit gesichtet. Gold Standard, Verra, Climate Action Reserve und American Carbon Registry.

Als Quelle haben wir das Marktstammdatenregister verwendet; ausgewählt haben wir hier alle Akteure im Gasmarkt und Akteure, die das Wort „Stadtwerk“ enthielten. Die Auswertung der vier Register (Stand Dezember 2023) hat ergeben, dass für unsere Recherche ausschließlich Gold Standard und Verra interessant sind, da in den anderen beiden Registern keine deutschen Gasversorger vermerkt waren. Die beiden Datenbanken decken über 90 Prozent des Marktes in Deutschland ab.
Gold Standard und Verra dokumentieren außerdem, was mit den jeweiligen Emissionsgutschriften kompensiert wird, z.B. lassen sich dort Informationen über die Gastarife finden, die mit den Gutschriften klimaneutral gestellt wurden. Bei Verra befinden sich diese Informationen in den „Details“, bei Gold Standard in der Spalte „Notizen“. In unsere Analyse haben wir ausschließlich Einträge aufgenommen, in denen das Wort „Gas“ in den Projektdetails/Notizen vorkam, um sicherzugehen, dass die Gasversorger die Gutschriften tatsächlich für Gastarife oder Gasprodukte genutzt haben. Anschließend haben wir Unternehmen aussortiert, die als Gasnetzbetreiber tätig sind.

Der finale Datensatz enthält 1.573 Einträge und umfasst Informationen über 150 Gasversorger, 218 Projekte und rund 16 Millionen CO2-Gutschriften. 70 Projekte haben Experten und Expertinnen für uns evaluiert. Diese Projekte und damit über 10 Millionen Gutschriften haben mit großer Wahrscheinlichkeit kein oder weniger CO2 kompensiert als versprochen. Über die restlichen Projekte können wir keine Aussage treffen. Gespräche mit Expertinnen und Experten geben aber Grund zur Annahme, dass deutlich mehr Projekte nicht zur Kompensation geeignet sind. Wir erheben in unserer Auswertung keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

 

Verra teilt dazu auf CORRECTIV-Anfrage mit, dass die Organisation die „Überprüfung der Methoden und die Beiträge anderer Experten“ begrüße. „Wir stehen zu unseren Methoden, die auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnissen beruhen.“

Ähnlich äußert sich auch Gold Standard gegenüber CORRECTIV: „Gold Standard steht hinter der Integrität seiner Methoden.“ Diese würden auf den „neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ beruhen und würden „mindestens alle drei Jahre aktualisiert, um sicherzustellen, dass alle neuen Entwicklungen berücksichtigt werden.“ 

Kapitel 5: Die Politik

Die deutsche Bundesregierung sieht in alledem offenbar kein Problem. Denn auch die Ministerien nutzen CO2-Gutschriften, um ihre Emissionen zu reduzieren, wie das BMWK auf Anfrage mitteilt. 

Wie widersprüchlich die Bundesregierung in Sachen CO2-Kompensation agiert, zeigt sich auch am Umgang mit der „Richtlinie zur Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel“, die am 20. Februar vom EU-Rat abgesegnet wurde. Die Richtlinie sieht unter anderem vor, dass irreführende Umweltaussagen für CO2-Kompensationen verboten werden. In den EU-Ländern tritt die Richtlinie ab 2026 in Kraft.

Mehr Verbraucherschutz: BMWK war anfänglich zögerlich

Deutschland setzte sich bei dem laufenden Vorhaben für konkrete Regelungen für die Nutzung von CO2-Gutschriften ein, „die zu Vertrauen und Klarheit des freiwilligen Kompensationsmarkts führen sollen“, teilt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) dazu auf CORRECTIV-Anfrage mit. Andererseits geht aus einem Briefwechsel zwischen BMWK und der Nichtregierungsorganisation Foodwatch hervor, dass das Ministerium anfänglich zögerte, irreführende Werbeversprechen aufgrund von CO2-Kompensation zu verbieten. So sei eine „Substantiierung von Umweltaussagen”, also eine strengere Nachweispflicht bei Werbeversprechen, einem generellen Verbot vorzuziehen, schreibt Staatssekretär Sven Giegold in einem der Briefe, die CORRECTIV vorliegen. Dadurch werde ein „Wettbewerb um die besten Umweltschutzkonzepte ermöglicht“. 

Auf Anfrage von CORRECTIV äußert sich das BMWK nicht zu dem Briefwechsel, teilt aber mit, dass es wichtig sei, für den freiwilligen Kohlenstoffmarkt „qualitative Vorgaben für die Marktinfrastruktur und für die Angebots- und Nachfrageseite zu machen, um ein seriöses Anreizinstrument und Vertrauen für diesen Markt zu schaffen.“

Für Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), ist der mangelhafte Verbraucherschutz wenig überraschend: „Seit 20 Jahren warten wir darauf, dass die zuständigen Behörden endlich beginnen, die Umweltaussagen von Handel und Industrie konsequent zu kontrollieren.“ Die neuen EU-Richtlinien zur Bekämpfung von Greenwashing stelle „zweifellos einen bedeutenden Fortschritt dar“, so Resch. 

So sieht es auch Anna Cavazzini, Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucher. Mit irreführenden Werbeversprechen werde „zukünftig Schluss sein“, sagt Cavazzini gegenüber CORRECTIV. Das gelte auch für deutsche Gasversorger.

 „Um es klar zu sagen: Es gibt kein klimaneutrales Gas.“ Natürlich seien Investitionen von Gasversorgern in Klimaschutzprojekte weiterhin willkommen, so Cavazzini. Es dürfe aber nicht der Eindruck entstehen, „dass das Baumpflanzen im Regenwald die Produktion, den Transport oder eben das Gas selbst klimaneutral macht.“ 

Weniger Konsum ist der beste Klimaschutz

Was bleibt also? Wie können klimabewusste Menschen besser konsumieren? 

Einfache Lösungen gibt es nicht. Doch Ansätze schon. „Es geht jetzt um die vollständige Dekarbonisierung“, sagt Martin Cames, Wissenschaftler am Öko-Institut in Berlin und verweist auf die sogenannte „Klimaverantwortung“. Das Konzept dahinter: Wer etwas Gutes fürs Klima tun möchte, etwa weil er oder sie in den Urlaub fliegt oder mit Gas heizt, der kann Klimaschutzprojekte finanziell unterstützen. CO2-Gutschriften werden dabei aber nicht ausgegeben. 

Allerdings sei der angemessene Preis für die Tonne CO2 in diesem Konzept ein Vielfaches höher als auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt, so Cames. „Derzeit ist ein Preis von mindestens 50 US-Dollar angemessen, 2030 sind es vermutlich 100 US-Dollar oder mehr.“ 

Wendet man das Konzept der Klimaverantwortung aktuell an, dann liegt der Preis für einen Flug, beispielsweise von Frankfurt nach Gran Canaria, für zwei Erwachsene bei etwa 300 US-Dollar. Die höheren Kosten könnten Unternehmen auch dazu anhalten, „ihre eigenen Emissionen zu reduzieren“, sagt Cames. Am Ende sei aber „weniger Konsum der beste Klimaschutz“. 

Und die Einsicht, dass vermeintlich schnelle Lösungen bei genauem Hinsehen nicht immer aufgehen. So schön sich das Versprechen von klimaneutralem Erdgas auch anhört. Am Ende verpufft es. 

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