von Stella Hesch, Gesa Steeger, Max Donheiser, Simon Wörpel
16. April 2024
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Inhalt
Kapitel 1: Die Kunden
Mit Gas heizen und gleichzeitig das Klima retten: So lautet das Versprechen vieler deutscher Energieversorger. Als Kundin oder Kunde zahlt man ein paar Cent pro Kilowattstunde drauf und dreht guten Gewissens die Heizung auf. Doch das Versprechen bleibt ohne Gegenwert: Deutsche Erdgasversorger wie der hessische Gasversorger Entega oder kommunale Unternehmen wie die Stadtwerke Duisburg und Rostock verkaufen eine Lösung für die Klimakrise, die keine ist. Insgesamt kann CORRECTIV 116 deutschen Gasversorgern nachweisen, dass sie in den vergangenen 13 Jahren Gastarife und -produkte angeboten haben, die weit weniger grün sind als versprochen.
Das Prinzip hinter der Losung vom grünen Gastarif nennt sich Kompensation, man könnte auch Wiedergutmachung sagen: klimaschädliche Emissionen, die in Deutschland entstehen, zum Beispiel durchs Heizen, werden an einer anderen Stelle ausgeglichen – durch den Schutz von Wäldern in Brasilien oder den Bau von Wasserkraftwerken in Indien. Unternehmen können die so eingesparten Emissionen in Form von CO2-Gutschriften kaufen, um ihre Klimabilanz zu verbessern.
Kundinnen und Kunden werden massiv getäuscht
Doch die Wiedergutmachung bleibt aus, das zeigt diese Recherche. In manchen Fällen dreht sich das Versprechen sogar ins Gegenteil: Umwelt und Klima nehmen Schaden. So nutzen deutsche Gasversorger auch CO2-Gutschriften aus Gaskraftwerken in Indien, China und Singapur, um ihre Tarife als klimafreundlich verkaufen zu können – und unterstützen so die fossile Industrie.
Das zeigt eine Auswertung der Kompensationsaktivitäten und CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken durch CORRECTIV für einen Zeitraum von 2011 bis 2024. Grundlage sind die Register der großen Marktführer auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt: Verra und Gold Standard. Die beiden Nichtregierungsorganisationen setzen weltweit Standards für die Qualität von Klimaschutzprojekten und deren CO2-Gutschriften. Sie fungieren als Kontrollinstanz und garantieren, dass Emissionen tatsächlich eingespart oder reduziert werden. Doch ob das gelingt, ist fraglich. Gerade Verra steht seit einiger Zeit massiv in der öffentlichen Kritik.
Eng begleitet wurde die Auswertung von Wissenschaftlerinnen und Experten, darunter das New Climate Institute, die Berkeley University, das Öko-Institut und die Deutsche Umwelthilfe (DUH).
Das Ergebnis: 116 Gasversorger haben in den vergangenen 13 Jahren CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt, die laut wissenschaftlicher Einschätzung nicht plausibel nachweisen können, dass Emissionen tatsächlich reduziert oder eingespart wurden. Betroffen sind damit zwei Drittel der insgesamt 16 Millionen ausgewerteten Gutschriften. 98 Prozent dieser fragwürdigen CO2-Gutschriften wurden dabei von Verra ausgegeben. Beispielsweise wird weniger Wald geschützt als angegeben, weniger Emissionen als berechnet werden eingespart oder das Projekt wäre auch ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften zustande gekommen.
Vermutlich liegt die Zahl dieser „Phantom-Gutschriften“, wie die Biologin und Kompensationsexpertin Jutta Kill sagt, weitaus höher. Denn auf dem Markt gebe es „kaum ein Kompensationsprojekt, das plausibel nachweisen kann, dass CO2-Emissionen dauerhaft reduziert oder eingespart wurden“, so Kill. Ähnlich äußern sich auch weitere Expertinnen und Experten gegenüber CORRECTIV. Eine Vorab-Publikation der ETH Zürich und der Universität Cambridge kommt zu dem Ergebnis, dass nur 12 Prozent der auf dem Markt verfügbaren CO2-Gutschriften zu einer „echten Emissionsreduzierung“ führen.
Der Schaden dieser fragwürdigen CO2-Gutschriften lässt sich im Fall der deutschen Gasversorger beziffern: Auf rund 10 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2, die in den vergangenen 13 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingespart oder reduziert wurden. Anders als von den Gasversorgern versprochen. Eine Menge, die sich vergleichen lässt mit den CO2-Emissionen aus dem Verbrauch von Kohle, Erdgas oder anderen Primärenergien allein für Thüringen im Jahr 2020.
Auf CORRECTIV-Anfrage teilt Verra mit: „Als gemeinnützige Organisation ist Verra zu ständiger Innovation verpflichtet und stützt sich auf die neuesten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse.“ Diese würden die Standards und Methoden bestimmen und ein „Höchstmaß an Integrität bei Klimaprojekten gewährleisten“.
Gold Standard erklärt dazu, dass die Organisation keine Kompensationsansprüche auf Produktebene unterstütze, „wenn diese nicht mit der Leistung des Gesamtunternehmens übereinstimmen würden.“ Außerdem befürworte Gold Standard seit mehreren Jahren eine „Abkehr vom Konzept der Kompensation, um glaubwürdige Behauptungen und eine verantwortungsvolle Nutzung von Emissionsgutschriften“ sicherzustellen.
Hier kämpft eine sterbende Branche ums Überleben
Was am Ende vom grünen Versprechen der Gasversorger übrig bleibt, ist eine Täuschung mit Folgen. Vor allem für die Menschen, die darauf hoffen, dass ihre Kaufentscheidungen tatsächlich etwas bewirken, sagt Monique Goyens, Direktorin des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC) in Brüssel, gegenüber CORRECTIV. „Hier kämpft eine sterbende Branche ums Überleben und reißt die Bevölkerung mit sich.“ Dadurch werde ein wirklich nachhaltiger Lebensstil verhindert. „Das ist inakzeptabel.“
Anhand einer Studie der Universität Münster lässt sich nachvollziehen, welchen Effekt vermeintlicher Klimaschutz auf Konsumentinnen und Konsumenten hat: Viele Menschen nutzen die Kompensation von CO2, wie im Falle von klimaneutralem Erdgas als Freifahrtschein für „umweltschädliches Verhalten“. Es reiche die „bloße Vorstellung, sich umweltfreundlich zu verhalten“, um im Anschluss etwas umweltschädliches zu tun. Wie Fliegen beispielsweise.
Schauen Sie in unserer Datenbank nach, ob Ihr Gasversorger in den vergangenen 13 Jahren fragwürdige CO2-Gutschriften genutzt hat. Finden Sie heraus, wie Wissenschaftler und Expertinnen einzelne Projekte bewerten: