Klimawandel

Abriss in der Schweiz: Deutlich mehr Häuser zerstört als vermutet

Bisher wurde angenommen, dass zwischen 3'000 und 5'000 Gebäude pro Jahr abgerissen werden. CORRECTIV in der Schweiz hat erstmals offizielle Daten ausgewertet. Das Resultat: Seit Jahren ist die Anzahl deutlich höher, zuletzt waren es bis über 7'000 Abbrüche pro Jahr. Abriss ist im Trend, obwohl Fachpersonen auf negative Auswirkungen hinweisen.

von Sven Niederhäuser , Michel Penke , Max Donheiser

Abriss in der Schweiz Teaserbild
In den letzten Jahrzehnten wurden in der Schweiz über 99’000 Häuser zerstört. (Symbolbild) Credits: unsplash.com / Ruslan Khadyev

Wie viele Häuser in der Schweiz abgerissen werden, war bislang vor allem eine Frage von Annahmen. Abbrüche müssen nicht generell genehmigt werden. Und wenn doch, ist es oft reine Formsache. Entsprechend hatten weder der Bund noch Architektur-, Bau- oder Immobilien-Verbände sichere Zahlen vorliegen.

Bisher ging die Öffentlichkeit von 3’000 bis 4’000 zerstörten Häusern pro Jahr aus. Diese Zahl verbreiten seit Jahren etliche Medien und Fachzeitschriften und beziehen sich dabei auf eine angebliche Schätzung des Bundesamts für Umwelt. „Die Schätzung stammt nicht von uns“, korrigiert die Sprecherin des Amtes auf unsere Anfrage. Selbst sie hätten keine Zahlen. Dafür schätzte der Schweizerische Baumeisterverband anfangs dieses Jahres die Zahl der Abbrüche auf 4’000 bis 5’000 Gebäude pro Jahr.

Nun veröffentlicht CORRECTIV in der Schweiz erstmals das Ausmass des Abrisswahns. Bisher unausgewertete Zahlen zeigen: Seit 2015 werden rund 5’000 bis 6’000 Häuser pro Jahr abgerissen. Das sind deutlich mehr als die 3’000 bis 4’000, die bisher im Raum standen, und selbst mehr als vom Baumeisterverband geschätzt. Von 2019 bis 2023 erhöhte sich die Anzahl auf etwa 6’000 bis über 7’000 Abbrüche pro Jahr. Umgerechnet wurden allein in den letzten fünf Jahren durchschnittlich 18 Häuser pro Tag zerstört. Insgesamt wurden in den letzten 24 Jahren über 99’000 Gebäude in der Schweiz abgebrochen.

Basis unserer Berechnung ist eine bisher unveröffentlichte Erhebung des Eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsregisters des Bundesamts für Statistik (BFS). Noch vor einem Jahr erklärte uns das Amt: „Das BFS veröffentlicht keine Daten über die Anzahl der abgerissenen Häuser, sondern nur über die Anzahl der Neubauten.“ Warum die Behörde letztes Jahr behauptete, sie hätte keine Zahlen, sei „ein Missverständnis“ gewesen. „Tatsächlich veröffentlicht das BFS immer noch keine Statistiken über abgerissene Gebäude“, schreibt es uns. Doch die Daten der abgerissenen Gebäude aus dem Register würden öffentlich zur Verfügung gestellt.

Abriss führt zu Klimaschäden und sozialer Verdrängung

Dass bisher keine Statistik veröffentlicht wurde, überrascht auf den ersten Blick nicht. Schliesslich gibt es nur in einzelnen Kantonen oder Gemeinden eine Bewilligungspflicht für einen Abbruch. Auch in anderen Ländern wie Deutschland fehlen Daten dazu. Doch Fachpersonen weisen schon lange auf die negativen Auswirkungen wie soziale Verdrängung oder Klimaschäden hin, die durch Abrisse entstehen. Die Kosten dafür bezahlt die Gesellschaft.

Die Baubranche dagegen beschreibt Abbrüche als eine Notwendigkeit, gibt es gerade in den verdichteten Gebieten wie grösseren Städten keine Freiflächen mehr. Um den Wohnungsbedarf zu decken, müsse abgerissen werden. Aber tatsächlich schafft der Zyklus von Abriss und Neubau nicht mehr Wohnungen für alle. Laut Forschungen der ETH Zürich wird damit hauptsächlich Wohnraum für die Wenigen generiert, die sich das leisten können.

Denn neue Wohnungen sind hauptsächlich grösser und teurer. Verdrängt werden dabei ärmere, ältere und ausländische Personen, weil sie sich die Miete in einem Neubau nicht leisten können. Laut dem Studienautor David Kaufmann würden hauptsächlich Häuser aus den 1950er- und 1960er-Jahren mit eher bezahlbaren Wohnungen abgerissen und neu gebaut. „Dort können die Investoren die grösste Differenz zwischen den bestehenden und zukünftigen Miet­einnahmen erzielen.“ Sprich: den grössten Profit erzielen.

Das verärgert Vorstandsmitglied des Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverbands und SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. „Dahinter steckt eine Bilanz-getriebene Logik, bei der es einzig um maximale Rendite geht“, sagt sie. Gebäude würden zunehmend vor Ablauf ihres Lebenszyklus abgerissen, weil so der Immobilienwert in der Bilanz besser in die Höhe getrieben werden könne. „Die Höhe des Marktwerts der Immobilie ist abhängig von den künftigen Mieteinnahmen. Und da bestehende Mieten nicht einfach erhöht werden können, besteht ein Anreiz, die Leute rauszuwerfen. Durch Abriss und Neubau geht das am besten.“ Die Baukosten würden bei der Bilanz keine Rolle spielen.

Laut Badran spüre die gesamte Bevölkerung die negativen Auswirkungen, nicht nur Personen, die es sich nicht leisten könnten. „Übersetzte Mieten sind der Kaufkraft-Killer Nummer eins und damit schädlich für die ganze Volkswirtschaft. Wenn Menschen für eine Vierzimmerwohnung 6’000 Franken bezahlen müssen, gehen sie nicht für das lange Wochenende in die Berge und essen weniger auswärts.“ Für Badran ist klar: Aufgrund dieser Rahmenbedingungen werden Abrisse weiter zunehmen. Eine Änderung des gesetzlichen Rahmens ist ihr zufolge unwahrscheinlich. Denn die Profiteure des jetzigen Systems seien im Parlament zu stark vertreten.

Bau-Lobby sitzt fest im Bundeshaus

Ein Blick ins Bundeshaus zeigt, die Lobby der Baubranche ist im National- und Ständerat gut vertreten. Allein beim Bauhauptgewerbe sind 42 Parlamentarierinnen und Parlamentarier direkt oder indirekt mit einem Unternehmen verbunden. So sitzen sie zum Beispiel selbst im Vorstand oder vergaben laut Lobbywatch einen persönlichen Badge an eine Person aus der Branche. Besonders oft sind es Politikerinnen und Politiker von der SVP, FDP oder Mitte-Partei.

FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen etwa sitzt im Vorstand des Schweizerischen Baumeisterverbandes sowie von bauenschweiz, der Dachorganisation der Schweizer Bauwirtschaft. Er sagt auf unsere Anfrage: „Es ist gut, Häuser abzureissen, die ihren Zenit überschritten haben.“ Besonders in den Städten, wo der Wohnraum begrenzt sei, gebe es oft keine Alternative. Und selbst wenn: „Bei Umbauten oder Renovationen müssen Leute auch ausziehen und die Mieten steigen.“ Das Ziel müsse es sein, möglichst viele Wohnungen zu bauen, sagt Wasserfallen. Ihn erstaunt die Anzahl der abgebrochenen Häuser nicht. „Die Grössenordnung stimmt.“ Gewisse statistische Unreinheiten gebe es laut dem FDP-Nationalrat überall.

Dass es seiner Branche nur um Profit gehe, verneint er und reicht zugleich die Verantwortung weiter. „Als ausführendes Gewerbe machen wir nicht den grossen Profit, das tun Investoren, Immobiliengesellschaften, Fonds oder die Pensionskassen.“ An Gewinn mangelt es allerdings nicht. Laut dem Schweizerischen Baumeisterverband macht das nationale Bauhauptgewerbe 23 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr. Und Abriss liegt im Trend. Unsere Auswertung zeigt auch: Seit 2000 wächst die Anzahl zerstörter Häuser stark und bis auf wenige Ausnahmen wie zum Beispiel letztes Jahr konstant.

Von dieser Situation profitiert der Chef der Mitte-Partei und Nationalrat Gerhard Pfister. Er ist Verbands-Präsident der Schweizer Zementhersteller cemsuisse. Und gebaut werden neue Häuser meist mit Beton. Dieser benötigt eine Menge Zement, welches für die Produktion wiederum einen enormen CO2-Ausstoss verursacht. Die sechs Werke in der Schweiz sind laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) für rund fünf Prozent der nationalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ausserdem verpestet keine andere Industrie die Schweizer Luft mit so vielen Schadstoffen wie die Zementwerke. Die Kosten zahlt die Gesellschaft allein 2017 mit rund 475 Millionen Franken, wie CORRECTIV in der Schweiz in einer früheren Recherche aufgezeigt hat.

Profitorientiert und dreckig

Investoren sowie Bau- und Immobilien-Verbände argumentieren oft, dass ein Neubau klimatechnisch besser ist. Dem widersprechen Expertinnen und Experten. So rechnet der Schweizer Heimatschutz vor: Ein Abriss und Neubau koste viel mehr Energie als der Betrieb eines Hauses während 50 Jahren.

Ein weiteres Argument, das Befürworter der Abriss-Strategie angeben: Ein Neubau ist billiger. Dass das nicht stimmt, zeigt die Praxis. So stellte der Architekt André Kempe anlässlich der Vortragsreihe Irrtum Abriss beim Architekturforum Bern anhand eigener Projekte vor, wie Umbauen auch im grossen Stil billiger machbar ist als abzureissen und neu zu bauen. Als Mitgründer und Inhaber des eigenen Ateliers arbeitet der Architekt in der Schweiz, Deutschland, Frankreich sowie Belgien und den Niederlanden.

Geben Sie den abgerissenen Gebäuden eine Geschichte
Im Abriss-Atlas rufen wir Sie dazu auf, Gebäude zu nennen, die abgerissen wurden oder noch werden – und was Sie damit verbindet. Wir recherchieren zu den Hintergründen. Die digitale Plattform CORRECTIV CrowdNewsroom bezieht Bürgerinnen und Bürger von Anfang an bei der journalistischen Arbeit ein. Der Abriss-Atlas wird unterstützt von der Toni Piëch Foundation und der Stiftung Mercator Schweiz.

Die Anzahl der Abbrüche in der Schweiz überrascht Jörg Dietrich nicht. Er ist Verantwortlicher für Klima und Energie beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein. „Die Masse an Bauabfällen zeigt, dass viel rückgebaut wird“, sagt Dietrich. Laut ihm gibt es Lösungen, um Abrisse zu minimieren und den Weiterbau an bestehenden Häusern zu fördern. Eine davon: „Es braucht Grenzwerte für graue Emissionen.“ Damit gemeint ist die Energie für die Produktion, den Transport oder die Entsorgung des Materials.

Solche Grenzwerte für die Baubranche forderte ein Teil des Nationalrats vor einem Jahr. Bei der ersten Abstimmung zum Umweltschutzgesetz wurde der Vorschlag wegen einer Stimme abgelehnt. Dagegen waren auch die Bau-Lobbyisten Gerhard Pfister und Christian Wasserfallen.

 

Text & Recherche: Sven Niederhäuser
Redaktion: Marc Engelhardt
Faktencheck: Hanna Fröhlich
Datenaufbereitung & Grafiken: Michel Penke, Max Donheiser
Kommunikation: Valentin Zick