Der Drogenhändler der Mafia
Niemand weiß, wie viel Kokain Nicola Assisi schon nach Europa verschifft hat. Es dürften Tonnen sein. Assisi ist der wichtigste Drogeneinkäufer der italienischen Mafia. Seit zwei Jahrzehnten spielt er Katz und Maus mit den Ermittlern. Dies ist seine Geschichte – dank einer monatelangen Recherche von CORRECTIV und dem Investigative Reporting Project Italy zum ersten Mal vollständig erzählt.
Es ist Nacht im Hafen, und der Mann, der das Kokain abholen soll, wird langsam panisch.
„Was zum Teufel zwingt ihr mich zu tun“, tippt er in sein Handy. Seine Männer liegen gefesselt vor ihm. Er tippt: „Sie behaupten sie sind unschuldig.“
197 Kilo Kokain will Rosario Grasso in dieser Nacht für die ‚Ndrangheta in Empfang nehmen, eine der mächtigsten Gruppen der weltweiten Organisierten Kriminalität – im Hafen von Gioia Tauro, im Süden Italiens. Grasso und seine Helfer haben einen Hafenbeamten bestochen, genannt „Il Porco“, das Schwein, damit er ihnen Zugang gewährt zu jenem Container, in dem das Kokain versteckt ist. Doch so oft Grasso den Container auch durchsucht: Er findet die Drogen nicht. Das Kokain, mit einem Straßenverkaufswert von rund 20 Millionen Euro, ist verschwunden.
Haben seine Leute ihn verraten? Oder die Mittelsmänner in Brasilien es gewagt, ihn zu hintergehen?
Grasso erhält eine Nachricht auf seinem Handy: das Foto von einem Holzstück, hineingeschnitzt die Nummer MSC U356 5753. Grasso sieht nach, ein weiteres Mal: Er steht neben dem richtigen Container, mit eben dieser Kennung. Aber er ist leer.
„Sag ihnen, dass ich jetzt richtig wütend bin, nicht sie“, schreibt er an den Mittelsmann in Brasilien. „Es ist 3 Uhr nachts, ich habe die halbe Welt in Bewegung gesetzt, ich habe meine Familie seit drei Tagen nicht gesehen, ich habe seit drei Tagen nicht geduscht.“ Es nützt nichts.
Am nächsten Tag kehrt Grasso noch einmal in den Hafen zurück, um den Container Zentimeter für Zentimeter abzusuchen. Und wieder: kein Kokain.
Doppelte Hierarchie
Ermittler gehen davon aus, dass die ‚Ndrangheta rund 40 Prozent des weltweiten Kokainhandels kontrolliert; die Mafia aus Kalabrien, dem Absatz des italienischen Stiefels. Die Einnahmen, geschätzte 25 Milliarden Euro pro Jahr, werden dann im legalen Firmengeflecht der Mafia gewaschen, gerade auch in Deutschland und der Schweiz, Ländern mit laschen Anti-Geldwäsche- und Anti-Mafia-Gesetzen.
Um sich vor Strafverfolgung zu schützen, haben die ‚Ndrangheta-Bosse eine doppelte Hierarchie aufgebaut – sie selbst sind abgekoppelt vom eigentlichen Handel. Anstatt die eigenen Männer den Risiken des Drogengeschäfts auszusetzen, stützen sich die Bosse auf Dutzende von Mittelsmännern in der ganzen Welt – Männer, die in direktem Kontakt mit den Drogenkartellen stehen und für den reibungslosen Transport des weißen Pulvers nach Europa sorgen.
Es heißt, den besten Mittelsmännern gelingt es, ein Kilo Kokain für gerade einmal 1200 Euro von den Kartellen in Südamerika zu kaufen. An die ‚Ndrangheta verkaufen sie es dann für rund 30.000 Euro das Kilo. Was immer noch viel billiger ist, als das Kokain über viel Umwege auf europäischem Boden zu kaufen. Kein Wunder, dass Beziehungen zu solchen Mittelsmännern von höchstem Wert sind für die Mafia-Bosse.
Der mächtigste Drogen-Broker unserer Zeit ist Nicola Assisi. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist ihm die Polizei auf den Fersen, stets vergeblich. Gemeinsam mit seinen beiden Söhnen arbeitet er von Lateinamerika aus, nah an den Quellen des Kokains.
Wir haben Nicola Assisis Weg in monatelanger Recherche rekonstruiert, gestützt auf bislang unzugängliche Akten. Seine Geschichte soll hier zum ersten Mal vollständig erzählt werden.
Die verwanzte Telefonzelle
Assisi wurde 1958 in der süditalienischen Stadt Grimaldi geboren. Über seine jungen Jahre ist nur wenig bekannt. Im Frühjahr 1997 geriet er erstmals ins Visier der italienischen Ermittler. Sie waren hinter einer Gruppe kalabrischer Drogenhändler her, die von Barcelona aus Kokain nach Turin und Rotterdam verschifften.
„Die Drogenhändler verwendeten damals keine Handys, sondern sprachen von öffentlichen Telefonzellen aus miteinander“, sagt Gianni Abbate, einer der Ermittler. „Uns gelang es, zwei Telefonzellen in Turin zu verwanzen, die von den Drogenringen regelmäßig verwendet wurden.“
In den Morgenstunden des 16. Mai 1997 fing die Polizei den Anruf eines Mannes ab, der ein Treffen mit Nicola Assisi arrangierte. Die Polizei folgte ihm und dessen Männern zu einem Treffpunkt nördlich von Turin. Dort sollten sie einen Lastwagen in Empfang nehmen, in dem 200 Kilo Kokain versteckt waren.
Eine Gruppe von Polizisten drängte Assisi in die Enge. Er versuchte das Unmögliche: „Er lief in Richtung der Polizeiwagen, schlug einen Beamten nieder und wollte mit einem der Autos fliehen“, erzählt Abbate. Es misslang, die Polizisten überwältigten Assisi.
Das Schneckentempo der italienischen Justiz verhalf ihm nur ein Jahr später zur Freiheit. Noch immer war er nicht angeklagt worden, ein Richter weigerte sich, seine Untersuchungshaft zu verlängern. Und Nicola Assisi, der Drogenhändler der ‚Ndrangheta, spazierte aus dem Gefängnistor. Und tauchte ab.
Streit bricht aus
Rosario Grasso, am Hafen von Gioia Tauro, war unterdessen weder von seinen Leuten verraten worden noch von den Mittelsmännern in Brasilien. Das Kokain, das er vergeblich suchte, war unterwegs von der spanischen Polizei beschlagnahmt worden. Dann hatten die Beamten den Container wieder versiegelt und ihn weiter seinen Weg nach Italien nehmen lassen. Sie wollten wissen, wer dort auf ihn wartete.
In den Wochen darauf herrschte Streit zwischen der ‚Ndrangheta und den Mittelsmännern in Brasilien. Nicola Assisi gelang es, ihn zu schlichten: Er vermutete gleich, dass die Polizei ihre Finger im Spiel hatte. „Ich besorge allen neue Handys, diese hier scheinen ein bisschen verbraucht“, schrieb er.
In der Tat war es der italienischen Polizei gelungen, die verschlüsselten Blackberry-Nachrichten des Assisi-Rings zu knacken. Prompt stellte Sohn Patrick den Ermittlern eine Falle und schickte einen Container mit einer kleinen Menge Kokain auf die Reise nach Gioia Tauro. Doch die Polizei ließ ihn passieren. Sie wollte die Überwachung nicht gefährden. Erfolgreich.
Der Mentor stirbt
Im Jahr 2002 nahm Assisis Karriere einen unerwarteten Aufschwung. Pasquale Marando war verschwunden, der mächtigste Drogenhändler der ‘Ndrangheta, zugleich seit langem ein Mentor von Nicola Assisi. Marando war der erste, der direkt mit den kolumbianischen Drogenkartellen verhandelte, unter Umgehung sämtlicher Mittelsmänner – was den Profit der Mafia weiter nach oben schraubte.
Marandos Leiche wurde nie gefunden. Gut möglich, dass er bei einer internen Fehde erschossen wurde. Nun rückte Nicola Assisi nach. Denn Marando hatte ihm einen höchst wertvollen Schatz vermacht: sein Telefonbüchlein, mit Kontakten zu den mächtigsten Waffen- und Drogenhändlern jener Zeit. Darunter die Gewährsmänner der lateinamerikanischen Kartelle.
2007, genau zehn Jahre zu spät, erging in Turin das Urteil gegen Nicola Assisi: Er erhielt eine Haftstrafe von 14 Jahren. „Zehn Tage vor dem Urteil flüchtete er nach Spanien und von dort wahrscheinlich weiter nach Lateinamerika“, sagt Gianni Abbate, jener Polizeibeamte, der den Fall Assisi in den 1990er Jahren untersuchte.
Für viele Jahre verschwand Nicola Assisi, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dann betritt sein Sohn Patrick die Bühne des weltweiten Drogenhandels.
Der Sohn betritt die Bühne
Es ist ein kalter Wintertag in Turin, als Patrick Assisi die Tür zu einem vornehmen Fischrestaurant unweit des Pos aufdrückt. Assisi trägt Turnschuhe, Jeans und einen Mantel, das übliche Outfit der jungen Männer Turins. Gegen Patrick lag in Italien kein Haftbefehl vor; offenbar fungierte er als der verlängerte Arm seines Vaters.
Er wird begrüßt von Abgesandten des Aquino-Coluccio-Clans, einer der mächtigsten ‚Ndrangheta-Familien. Es ist ein Geschäftsessen, man bestellt Fisch, Pizza und Wein. Und dann diskutieren die Männer die Details. Zum Abschied umarmen sie sich. Der Deal steht.
Nachdem sie Patrick Assisi bei jenem Treffen in Turin beobachtet hatten, heftete sich die italienische Polizei erneut an die Fersen der Familie. Die Familie versteuerte keinerlei Einkommen, lebte aber im Luxus, man fuhr BMW X3 und mietete ein Sommerhaus in Portugal, das 10.000 Euro pro Monat kostete.
Wohin mit dem Bargeld?
Ermittler fanden auch heraus, was mit den immensen Mengen an Bargeld geschieht, das beim Drogenhandel anfällt. Für den Drogenring der Assisis brachten Kuriere das Geld zu einer Tankstelle in der Nähe von Turin, wo es von Gewährsmännern abgeholt und nach Brasilien geschickt wurde, Hunderttausende Euro pro Lieferung.
Dennoch beklagte sich Assisi Ehefrau – sie war laut den Ermittlern die Kassiererin des Drogenrings – einmal bei ihrem Sohn darüber, dass ihr Haus in Turin keinen Platz mehr hatte, um noch mehr Geld zu bunkern. Als Polizisten später die Villa stürmten, entdeckten sie rund 4 Millionen Euro.
Das Geschäft der Assisis floriert. In immer größeren Mengen verschiffen sie Kokain von Lateinamerika nach Europa. Viel spricht dafür, dass sie es vom Primer Comando Capital (PCC) kaufen, dem wichtigsten Drogenkartell Brasiliens, und von den kolumbianischen Kartellen in Peru. Und immer häufiger taucht auch Paraguay in den Ermittlungsakten auf, ein wichtiges Transitland für das Kokain auf dem Weg nach Europa.
„Ich bin gerade in Paraguay, für die Telefone, für die Arbeit“, schreibt Nicola Assisi in einem Chat, den die Polizei abfängt. „Ich bereite neue Sachen vor.“
Die Assisis tun alles, um ihre Kommunikation geheim zu halten. Die Drogenverkäufer schicken den Assisis ein Holzstück, hinein geschnitzt die Nummer des Containers und der Code, mit dem man ihn öffnen kann. Die Assisis leiten diese Informationen über verschlüsselte Mobiltelefone dann weiter an ihre Kontakte in Kalabrien.
Im Frühjahr 2014 gelingt es der italienischen Polizei, erneut in das Kommunikationssystem der Drogenhändler einzudringen. Sie können das Telefons eines engen Vertrauten der Assisis in Italien anzapfen und so deren Handys identifizieren.
Assisi wird verhaftet
Nun gelingt den Beamten Schlag auf Schlag gegen den Drogenring: Binnen vier Monaten beschlagnahmten sie eine halbe Tonne Kokain. Und am 27. August 2014 wird Nicola Assisi am Flughafen von Lissabon verhaftet, als er, aus Brasilien kommend, den Pass eines gewissen Javier Varela aus Argentinien mit sich führend, versucht, heimlich nach Europa einzureisen.
Gut möglich, dass Assisi das Risiko der Reise auf sich genommen hatte, um neue Wege auszuloten, das Kokain nach Europa zu verschiffen. Laut den Ermittlungsakten wollte die Gruppe einen Langstrecken-Privatjet vom Typ Falcon 50 chartern, um das Kokain zur Landebahn einer privaten Flugschule in Deutschland zu transportieren. Von dort sollten die Drogen per Lastwagen weiter nach Italien gebracht werden. Man weiß nicht, ob der Plan umgesetzt wurde.
Während die Drogenhändler über alle Grenzen hinweg arbeiten, ist die Zusammenarbeit der europäischen Justiz lückenhaft – um es freundlich zu sagen. Ein portugiesisches Gericht stellt Nicola Assisi unter Hausarrest, nachdem man ihn am Flughafen von Lissabon verhaftet hat. Und während die italienischen Behörden unter Hochdruck daran arbeiten, Nicola Assisis Auslieferungsantrag durchzubringen, überzeugt der ein portugiesisches Gericht, ihn von seiner elektronischen Fußfessel zu befreien.
Und verschwindet erneut.
Die letzte Spur
Auch die Falle, die von der italienischen Polizei am Hafen von Gioia Tauro gelegt wurde, schnappt nicht zu. Im Gegenteil: Den Assisis ist nun klar, dass sie ihre Kommunikation zuverlässiger verschlüsseln müssen. Sohn Patrick kauft neue Smartphones, mit einem Android-Betriebssystem, dessen verschlüsselter Chat von italienischen Ermittlern bis heute nicht geknackt wurde.
Rosario Grasso, der Mann, der die Drogen aus dem Container holen sollte, sitzt derweil im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess. „Il Porco“, der korrupte Hafenbeamte, konnte bis heute nicht identifiziert werden. Nicola Assisi und seine Söhne sind weiter aktiv in Brasilien, wohin sich offenbar auch Assisis Ehefrau geflüchtet hat.
Es ist nicht bekannt, wie Nicola Assisi heute aussieht. Passbilder, die er zuletzt verwendet hat, zeigen ein freundliches, plumpes Gesicht.
Sohn Patrick Assisi steht derweil ebenfalls auf den Fahndungslisten der italienischen Polizei. 2015 registriert er über eine Anwaltskanzlei in Ferraz de Vasconcelos, einem Slum in Sao Paulo, ein Handelsunternehmen namens Poli Pat 9. Die Gegend wird vom PCC-Kartell bevorzugt genutzt, um dort Drogengeld zu waschen.
Seitdem hat niemand mehr etwas gehört von den Assisis.
This investigation is a cooperation between CORRECTIV and IRPI.eu with the support of the Flanders Connect Continents Grant. Additional reporting by Giuseppe Legato in Turin, Juan Carlos Lezcano of ABC in Asunción, Micael Pereira of Expresso in Lisbon, Aramis Castro of Convoca in Lima and Alana Rizzo in São Paulo.
Übersetzung: Ariel Hauptmeier
Editor: Frederik Richter