Mutmaßliche Mitglieder der ‘Ndrangheta aus Deutschland verhaftet
Deutsche und italienische Ermittler gehen in einer gemeinsamen Aktion gegen die kalabrische Mafia vor: sie vollstreckten heute Nacht etwa 170 Haftbefehle, darunter etwa ein Dutzend mit Bezug zu Deutschland. Zu den Verdächtigen zählt auch ein Stuttgarter Wirt, der einst Günther Oettinger in Bedrängnis brachte.
Heute Nacht sind Ermittler in Italien und Deutschland gegen etwa 170 mutmaßliche Mafia-Mitglieder vorgegangen. Dies teilten italienische Behörden am Dienstag mit. Ziel der Aktion war vor allem der ‘Ndrangheta-Clan Farao, der auch in Deutschland präsent ist. Unter den Verhafteten befindet sich auch Mario L. Der Wirt aus Baden-Württemberg brachte einst den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger in Bedrängnis. Mario L. wird jetzt vorgeworfen, ein Mitglied der italienischen Mafia zu sein.
In Deutschland verhafteten Ermittler elf mutmaßliche Mafiosi in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Das teilte das Bundeskriminalamt (BKA) mit. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung und Geldwäsche vorgeworfen.
Die Verhaftungen seien „der größte Schlag gegen die Mafia in Deutschland in den letzten 20 Jahren,“ sagte Sabine Vogt, Leiterin der Abteilung schwere und organisierte Kriminalität beim Bundeskriminalamt dem Fernsehsender RTL.
Die ‘Ndrangheta erzielt mit ihren geschätzt mehr als 50.000 Mitgliedern und Unterstützern den größten Umsatz aller Gruppierungen der organisierten Kriminalität. Laut Schätzungen setzt sie jährlich etwa 50 Milliarden Euro um. Ihre Erlöse aus kriminellen Geschäften wie Kokainhandel oder dem Schleusergeschäft mit Flüchtlingen wäscht die Mafia mit Hilfe von Firmen in der realen Wirtschaft.
„Kalabresische Abende“
„In Deutschland kontrollierte der Farao-Clan den Handel von Produkte aus der kalabrischen Stadt Cirò, etwa Wein, Zitrusfrüchte, Öl und Zutaten für die Pizza“, sagte Staatsanwalt Vincenzo Luberto zu CORRECTIV. Der Clan habe ungefragt mehrere Kisten Wein an ein Restaurant geliefert. Clan-Mitglieder hätten dann den Wirt besucht und ihn gezwungen, den Wein zu behalten. „Die Gastronomen hatten keine Wahl“, sagt Luberto. Nicht nur italienische Gastronomen sondern auch afrikanische seien davon betroffen.
Die Erpressungen habe unter anderem Mario L. mithilfe einer Vereinigung von Gastronomen aus dem kalabrischen Dorf Mandatoriccio durchgeführt. „Der Verein Armig e.V führte durch Mario L. und (einen weiteren Verdächtigen) die Erpressungen durch“, sagte Luberto.
Armig (Associazione Ristoratori Mandatoriccesi e Italiani in Germania) mit Sitz in Offenbach wurde 2009 gegründet. Die Vereinigung besteht aus Gastronomen in verschiedenen Bundesländern, unter anderem Baden-Württemberg und Hessen. Offizielles Ziel des Vereins ist es „die italienische Küche in Deutschland aufzuwerten, zu fördern und zu stärken“. Armig reagierte am Dienstag nicht auf eine schriftliche Anfrage.
Die italienische Mafia sammelt in Deutschland Gelder oft über den Handel mit Lebensmitteln ein, etwa Wein oder Öl. Sie liefert italienischen Gastronomen Produkte, die sie nie bestellt haben und zwingt sie zur Annahme. Dies ist eine subtilere Art der Erpressung als die klassische Bedrohung, die für Ermittler schwieriger aufzuklären ist.
Zwei Ermittler bezeichneten gegenüber CORRECTIV Mario L. als „die Nummer eins der ‘Ndrangheta in Süddeutschland“. Aus Justizunterlagen, die CORRECTIV einsehen konnte, lässt sich die Vergangenheit von L. ein Stück weit rekonstruieren. In seinem Umfeld sollen sich immer wieder Menschen mit Bezügen zur kalabrischen Mafia ‘Ndrangheta bewegt haben. Sogar Bosse habe man bei ihm gesichtet. Bislang schaffte es Mario L., aus Ermittlungen unbescholten herauszukommen. Heute Nacht durchsuchten Ermittler seine Wohnung sowie die Pizzeria, die er in der Nähe von Stuttgart gepachtet hat.
Mario L. fiel deutschen Kriminalbeamten bereits in den 1990ern-Jahren auf. Damals ermittelten italienische Behörden wegen internationalem Drogenhandel gegen den Farao-Clan, der zur ‘Ndrangheta angehört.
Ermittler verdächtigten Mario L. damals, für hochrangige Mitglieder des Farao-Clans aktiv gewesen zu sein. Die Ermittlungen wurden mangels Tatverdacht später eingestellt. Im Zuge dieser Ermittlungen geriet damals auch der baden-württembergische CDU-Politiker Günther Oettinger ins Visier der Fahnder.
Oettinger wurde später Ministerpräsident des Bundeslandes, wechselte dann nach Brüssel, wo er seitdem EU-Kommissar ist. Oettinger besuchte oft das Stuttgarter Restaurant von Mario L., der ihn „seinen Minister“ nannte. Für die CDU-Landtagsfraktion organisierte Mario L. in seinem Restaurant „kalabresische Abende“.
In aus dem Restaurant von L. geführten Telefonaten war immer wieder Oettingers Stimme zu hören, aber die Unterhaltungen gaben keinen Anlass für Ermittlungen gegen den Politiker. Teile der Aufzeichnungen wurden vernichtet. Der damalige Justizminister Baden-Württembergs Thomas Schäuble hatte Parteikollege-Oettinger damals unter vier Augen informiert, dass sein Name bei Abhörmaßnahmen in Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Mafia aufgetaucht sei.
Ein späterer Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag kam zu dem Ergebnis, dass Schäubles Verhalten rechtens gewesen sei. Er habe so verhindert, dass Parteifreund Oettinger von der Mafia instrumentalisiert wurde. Günther Oettinger betont seitdem regelmäßig, keinen Kontakt mehr zu Mario L. zu haben.
Feier in Stuttgart
Auch italienische Ermittler gingen im Rahmen von Ermittlungen gegen den Farao-Clan gegen Mario L. vor: In den 90er-Jahren forderte ein Richter sechs Jahre Haft für Mario L. wegen Geldwäsche und Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung. Doch das Berufungsgericht Cosenza sprach ihn 1999 frei. Der dortige Richter hielt es zwar für erwiesen, dass Mario L. illegale Beziehungen zu der Führungsspitze des Clans unterhielt. Allerdings fehlte der Beweis, dass „der Angeklagte mit Hilfe eines Rituals in die kriminelle Vereinigung aufgenommen wurde“.
Im Jahr 2010 taucht Mario L. dann wieder in italienischen Ermittlungsakten auf. Die Staatsanwaltschaft Rom ermittelte gegen den Politiker Nicola Di Girolamo, der unter Verdacht stand, mit Hilfe eines Wahlbetrugs in den Senat gelangt zu sein. Ein Clan der kalabrischen Mafia hatte in mehreren deutschen Städten Blanko-Wahlzettel der dort lebenden Italiener eingesammelt und zu Girolamos Vorteil ausgefüllt.
Einer der involvierten Männer ließ in abgehörten Telefonaten keinen Zweifel, wo der Wahlerfolg gefeiert werden sollte: in Stuttgart. Denn dort besitze ein Mann, der ihnen von einer Vertrauensperson geschickt wurde, viele Restaurants. Italienische Ermittler gingen davon aus, dass es sich dabei um Mario L. handelte.
‘Ndrangheta: 300 Mitglieder in Deutschland
Der Wirt aus Stuttgart taucht auch in den Akten eines jüngsten italienischen Ermittlungsverfahren aus dem Jahr 2015 gegen den ‘Ndrangheta-Clan Grande Aracri auf. Ermittler hatten im Rahmen des Verfahrens das Auto eines Unternehmers verwanzt, der eng mit dem Clan-Boss vertraut war.
In einem Gespräch berichtete der Unternehmer über Mario L. und bezeichnet ihn als „Freund, der in Deutschland immer schöne Lokale hatte“ und der „vier Jahre für seine Freunde im Knast saß“. Die kalabrischen Bosse Farao seien „seine Onkel“. L. habe ihn den Volkswagen Passat geliehen, in dem die Männer fuhren. Tatsächlich konnten Ermittler überprüfen, dass der Wagen auf Mario L. zugelassen war.
In Deutschland sind Ermittlern etwa 300 ‘Ndrangheta-Mitglieder bekannt. Die tatsächliche Zahl dürfte allerdings viel höher sein. Insbesondere in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen ist die kalabrische Mafia stark. Die Mafia profitiert in Deutschland auch davon, dass die Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung keine Straftat ist und die Hürden für eine Abschöpfung illegal erlangter Vermögen bis vor kurzem sehr hoch waren.
Die Mafia nutzt in Deutschland Häfen wie Bremerhaven und Hamburg zum Schmuggel von Kokain und wäscht über ihre Firmen in Gastronomie, Immobilien und Handel ihre Erlöse.